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DAS UNERKENNBARE Nächtliche Verdopplung

Im Dokument IM LABYRINTH DES DENKENS (Seite 93-123)

Das Graun-Blün-Paradox

4. DAS UNERKENNBARE Nächtliche Verdopplung

Stellen Sie sich vor, letzte Nacht, als alles schlief, sei alles im Universum doppelt so groß geworden. Könnte man überhaupt feststellen, was geschehen ist? Die klassische intellektuelle Rät-selfrage stammt von dem französischen Physiker und Mathe-matiker Jules Henri Poincaré (1854-1912).

Auf Anhieb neigt man zu der Annahme, eine derart drasti-sche Veränderung müsse leicht erkennbar sein. Denken Sie noch einmal nach! Alles ist doppelt so groß geworden, auch Lineale, Zollstöcke und Meterbänder. Sie könnten nichts ab-messen, um die Veränderung festzustellen.

Auch der vielbeschworene Platin-Iridium-Barren in einem Pariser Vorstadtkeller, die letzte Grundlage des metrischen Sy-stems, ist doppelt so lang wie früher und bietet keinen Hinweis auf das Geschehen. Derzeit ist der Meter definiert als das 1656763,83fache der Wellenlänge eines bestimmten orange-farbenen Lichts, das von gasförmigem Krypton ausgestrahlt wird. Das hilft immer noch nichts. Die Leuchtröhren, die das Gas enthalten, sind doppelt so groß, und das gleiche gilt für die Kryptonatome in den Röhren. Die Umlaufbahnen der Elektro-nen im Krypton sind doppelt so groß, und deshalb hat das ent-sprechende Licht die doppelte Wellenlänge.

Würden die Gegenstände nicht größer aussehen? Das Bild an Ihrer Schlafzimmerwand ist jetzt doppelt so groß. Aber Ihr Kopf ist doppelt so weit vom Bild (von jedem Punkt in dem vergrößerten Zimmer) entfernt. Die beiden Faktoren heben

einander genau auf und verhindern jede Wahrnehmungsverän-derung.

Gut, versuchen wir es anders! Sie befinden sich im nebligen London und schauen auf das Zifferblatt von Big Ben. Die Uhr ist doppelt so groß, und Sie sind von jedem beliebigen Punkt aus doppelt so weit von ihr entfernt. Die Perspektive bleibt die gleiche. Aber in Ihrem Gesichtsfeld befindet sich jetzt doppelt soviel Nebel. Sollte Big Ben nicht verschwommener aussehen ?

Leider ist es in Wirklichkeit die Anzahl der Nebeltröpfchen, die den verschwommenen Eindruck hervorruft, und diese Zahl hat sich nicht geändert. Die Tröpfchen sind doppelt so groß wie vorher, und sie zerstreuen die verdoppelten Photonen genauso wie zuvor. Big Ben würde so klar oder so nebelver-schwommen erscheinen wie vor der nächtlichen Verdopplung.

Mit ähnlichen Argumenten läßt sich zeigen, daß alles genauso aussehen würde wie zuvor.

Worum es in dem Gedankenexperiment eigentlich geht, ist folgendes: Wenn wir zugeben, daß man die Veränderung auf keinen Fall entdecken kann, hat sie dann überhaupt stattgefun-den? Die Frage erinnert an die alte Frage der Metaphysiker, ob ein Baum, der von niemandem gehört im Wald umstürzt, ein Geräusch macht.

Man könnte sagen, die nächtliche Verdopplung sei real, weil Gott oder ein ähnliches Wesen «außerhalb» des Universums von der Veränderung wissen würde. Sie können sich Gott vor-stellen, wie er irgendwo im Hyperraum sitzt und zusieht, wie sich die Größe unseres Universums verdoppelt. Aber das geht an der Frage vorbei. Alles, was existiert, muß doppelt so groß werden wie bisher, einschließlich Gott. Selbst Gott kann nichts tun, um die Veränderung zu demonstrieren. Ist sie dann noch wirklich?

Antirealismus

Poincare stritt dies ab. Seiner Meinung nach ist es sinnlos, von einer solchen Veränderung auch nur zu sprechen. Hier trügen die Worte. «Was wäre, wenn alles im Universum seine Größe verdoppelte?» klingt wie eine Beschreibung einer Verände-rung, aber die «Veränderung» ist illusorisch. Andere sind an-derer Meinung. Am Beispiel der nächtlichen Verdopplung lassen sich die Differenzen zwischen zwei Schulen des philo-sophischen Denkens darstellen. Die sogenannte realistische Schule gibt zu, daß die nächtliche Verdopplung wirklich sein kann, auch wenn sie nicht beobachtbar ist. Der Realismus geht davon aus, daß die Außenwelt unabhängig von menschlichem Wissen und Beobachtung existiert. Es gibt Wahrheiten jenseits unseres Erkenntnisvermögens. Dazu gehören nicht nur Wahr-heiten, die derzeit unbekannt sind und unerforschlich scheinen (Wo ist Mozarts Grab? Gibt es Leben auf Alpha Centauri?), sondern auch Wahrheiten, die niemals jemand wissen wird, egal was geschieht. Die realistische Schule behauptet, diese Wahrheiten existierten dennoch. Der normale Menschenver-stand ist in erster Linie realistisch: Natürlich, sagt er, macht der Baum ein Geräusch, auch wenn es niemand hört.

Philosophen der antirealistischen Schule gehen davon aus, daß es keine «evidenztranszendenten» Wahrheiten (also Wahrheiten, die nicht empirisch demonstriert werden kön-nen) gibt. Wenn wir davon ausgehen, daß niemand eine nächtliche Verdopplung jemals entdecken könnte, ist die Be-hauptung, die Verdopplung habe stattgefunden, absurd und irreführend. Die Behauptung, alles sei letzte Nacht doppelt so groß geworden, und die Behauptung, alles sei gleich groß ge-blieben, sind (allenfalls) verschiedene Beschreibungen für den gleichen Zustand.

Ein großer Teil der Philosophie besteht in der Entscheidung darüber, welche Fragen über die Welt sinnreich sind. Antirea-lismus ist die Meinung, nur die Fragen, die aufgrund von

Beob-achtung oder Experimenten entschieden werden können, hät-ten einen Sinn. Er wendet sich gegen alle Annahmen über Un-beobachtetes und Unbeobachtbares. Der Antirealismus sieht die Welt als eine Art von Filmkulisse, deren Gebäude nur aus Fassaden bestehen. Er widersteht der Versuchung, sich die Ge-bäude hinter den Fassaden vorzustellen.

Der Unterschied zwischen etwas Unbekanntem und etwas Unerkennbarem kann sehr klein sein. Niemand weiß, was für eine Blutgruppe Charles Dickens hatte. Das System der Ty-pen A, B, O und AB wurde erst eine Generation nach Dickens' Tod (1901 von Karl Landsteiner) entdeckt, infolgedessen ist Dickens' Blutgruppe nie bestimmt worden. Obwohl Dickens' Blutgruppe wahrscheinlich für immer unbekannt bleiben wird, haben die meisten von uns das Gefühl, daß das nichts daran ändert, daß er eine Blutgruppe hatte.

Dagegen empfindet praktisch jeder eine Frage wie «Was für eine Blutgruppe hatte David Copperfield?» als sinnlos. Sie ist sinnlos, weil eine Romanfigur wie David Copperfield nur so-weit existiert, wie der Autor sie sich vorgestellt hat, und Dik-kens hat nichts über David Copperfields Blutgruppe gesagt. Es geht nicht bloß darum, daß wir David Copperfields Blut-gruppe nicht wissen, sondern darum, daß es da nichts zu wis-sen gibt.

Der Antirealismus spricht von prinzipiell unentscheidbaren Fragen wie etwa der nächtlichen Verdopplung. In seiner radi-kalsten Form ist Antirealismus die Überzeugung, daß Fra-gen nach den unerkennbaren Ereignissen der Außenwelt ge-nauso sinnlos sind wie Fragen nach der Blutgruppe einer Romanfigur. Es gibt da einfach nichts, das man nicht wissen könnte.

Wäre das alles, worum es geht, dann wäre die Frage von Realismus oder Antirealismus nichts weiter als eine philo-sophische Geschmacksfrage. In Wirklichkeit gibt es viele of-fene Fragen der Physik, der Erkenntnistheorie und anderer Ge-biete, in denen die Grenze zwischen dem Unerkennbaren und

dem Sinnvollen in einer Grauzone verschwimmt. In diesem Ka-pitel werden wir uns mit mehreren Varianten der Geschichte vom Baum, den niemand hörte, beschäftigen.

Die Physik dreht durch

Die Debatte um die nächtliche Verdopplung ist komplizierter, als es scheinen will. Zunächst einmal herrscht keine Einigkeit darüber, daß nächtliche Verdopplung unerkennbar sein müßte.

Die Philosophen Brian Ellis und George Schlesinger haben über-zeugende Argumente für ihre Feststellbarkeit vorgebracht.

In Aufsätzen, die in den Jahren 1962 und 1964 erschienen sind, haben Ellis und Schlesinger behauptet, die Verdopplung müsse eine große Anzahl physikalisch meßbarer Auswirkun-gen haben. Die Gültigkeit ihrer SchlußfolgerunAuswirkun-gen ist abhän-gig von der Interpretation des Gedankenexperiments. Den-noch sind sie beachtenswert.

Schlesinger behauptete beispielsweise, die Schwerkraft würde nur noch ein Viertel so stark sein, weil sich der Durch-messer der Erde bei gleichbleibender Masse verdoppelt haben müßte. Nach der Newtonschen Theorie nimmt die Gravita-tionskraft mit dem Quadrat der Entfernung zwischen zwei Ob-jekten (in diesem Falle dem Mittelpunkt der Erde und einem Gegenstand im freien Fall an ihrer Oberfläche) ab. Die Ver-dopplung des Durchmessers ohne Massenzunahme verursacht eine vierfache Abnahme der Schwerkraft.

Einige direkte Versuche, die Abnahme der Schwerkraft zu messen, wären zum Scheitern verurteilt. Man könnte das Ge-wicht verschiedener Gegenstände nicht auf einer Waage mes-sen. Die Waage kann nur die verminderte Massenanziehung der Gegenstände mit der im gleichen Maße verminderten Mas-senanziehung von Standardgewichten vergleichen. Schlesinger meinte jedoch, die verminderte Gravitationskraft könne an der Höhe der Quecksilbersäule in einem altmodischen

Thermome-ter abgelesen werden. Die Höhe der Quecksilbersäule ist von drei Faktoren abhängig: vom Luftdruck, von der Dichte des Quecksilbers und von der Stärke der Gravitationskraft. Unter normalen Bedingungen ist nur der Luftdruck größeren Schwankungen unterworfen.

Der Luftdruck wäre nach der Verdopplung achtmal so schwach, denn jedes Volumen wäre 23mal, also achtmal so groß geworden. (Sie würden aber keine Unterdruckkrankheit bekommen, denn Ihr Blutdruck wäre auch achtmal so schwach.) Auch die Dichte des Quecksilbers wäre achtmal ge-ringer. Diese beiden Wirkungen würden einander aufheben, so daß die verminderte Schwerkraft als meßbare Veränderung übrigbliebe. Da die Schwerkraft viermal geringer ist, sollte das Quecksilber viermal so hoch steigen — was unsere verdoppel-ten Zollstöcke als doppelt so hoch anzeigen würden. Das also wäre ein meßbarer Unterschied.

Schlesinger wandte den Verdopplungsgedanken auf ein paar andere Grundgesetze der Physik an und behauptete:

• Die (mit einer Pendeluhr gemessene) Tageslänge müßte 1,414 (die Quadratwurzel aus 2) mal länger sein.

• Die Lichtgeschwindigkeit würde (wieder mit einer Pendeluhr gemessen) um den gleichen Faktor zunehmen.

• Das Jahr wäre 258 (365 geteilt durch die Wurzel aus 2) Tage lang.

Man braucht Schlesingers Argumentation nicht voll zu akzep-tieren. Schlesinger benutzt eine Pendeluhr als Zeiteinheit. Diese Uhr wird wesentlich langsamer, weil die Schwerkraft geringer ist und die Länge des Pendels verdoppelt wird. Andere Uhren würden diesen Verlangsamungseffekt nicht erfahren. Man kann auf der Grundlage des Hookeschen Gesetzes (das den Widerstand von Spiralfedern beschreibt) behaupten, daß eine normale Uhr mit Antriebsfeder nach der Verdopplung mit ge-nau der gleichen Geschwindigkeit wie vorher laufen würde.

Offen ist auch die Frage, ob die üblichen Erhaltungssätze der

Physik während der Ausdehnung gültig bleiben. Schlesinger nimmt an, daß das Drehmoment der Erde auch während der Verdopplung ebenso konstant bleiben muß wie bei jeder ande-ren möglichen Kräfteinteraktion. Wenn das Drehmoment der Erde gleich bleiben soll, muß sich die Erdumdrehung verlang-samen.

Die Erhaltungssätze hätten noch weitere Konsequenzen.

Das Universum besteht zum größten Teil aus Wasserstoff, also je einem Elektron, das um ein Proton kreist. Zwischen den bei-den Teilchen herrscht elektrische Anziehung. Die Größe aller Atome verdoppeln heißt alle Elektronen «bergauf» auf den doppelten Abstand von ihren Protonen bewegen. Das würde einen gewaltigen Energieaufwand mit sich bringen. Wenn das Gesetz der Erhaltung der Massenenergie während der Ver-dopplung gilt, muß diese Energie von irgendwo herkommen.

Am wahrscheinlichsten ist, daß sie durch einen allgemeinen Temperaturabfall entstünde. Alles würde kälter, und das wäre eine zusätzliche Folgeerscheinung der Verdopplung.

Die Stoßrichtung, die Schlesinger mit seiner Argumentation verfolgt, ist die folgende: Stellen Sie sich vor, wir stehen eines Morgens auf und stellen fest, daß alle Quecksilberbarometer in der Welt geplatzt sind. Bei unseren weiteren Nachforschungen entdecken wir, daß die Quecksilbersäule jetzt auf ungefähr 150 cm statt 75 cm ansteigt. (Die Thermometer sind geplatzt, weil man die Glasrohre nicht so lang gemacht hat.) Pendeluh-ren und FederuhPendeluh-ren zeigen jetzt verschiedene Zeit. Die Lichtge-schwindigkeit, wenn sie rnit einer Pendeluhr gemessen wird, beträgt jetzt das l,414fache. Die Jahreslänge hat sich geändert.

Es gibt Tausende von Veränderungen. Es ist, als spielten alle physikalischen Gesetze auf einmal verrückt.

Dann kommt jemand auf die Idee, vielleicht hätten sich alle Längen verdoppelt. Diese Hypothese erklärt alle beobachteten Veränderungen und erlaubt Vorhersagen über weitere Verän-derungen. Wenn sie von der Hypothese der nächtlichen Ver-dopplung hören, können Spezialisten für die abgelegensten

Gebiete der Physik sagen: «Einen Augenblick! Gemäß diesem oder jenem Gesetz, in dem von Entfernungen die Rede ist, würde das und das geschehen, wenn es wahr ist, daß sich alle Längen verdoppelt haben.» Jedesmal, wenn man eine derartige Folgerung überprüft, stellt sich heraus, daß sie korrekt war.

Die Verdopplungstheorie wäre schnell bestätigt und würde als wissenschaftlich erwiesene Tatsache anerkannt. Nicht nur das.

Sie hätte alle Chancen, zum Paradebeispiel für Bestätigung zu werden. Man kann sich kaum eine andere Theorie denken, die so viele unabhängig voneinander überprüfbare Konsequenzen hätte.

Kommen wir zum Kern der Sache: Da es einen vorstellbaren Stand der Dinge gibt, in dem wir gezwungen wären festzustel-len, daß sich alle Längen verdoppelt haben, und da dieser vor-stellbare Stand derzeit nicht vorliegt, können wir zu Recht sa-gen, daß sich letzte Nacht nicht alles verdoppelt hat.

Dämonen und Verdopplung

Schlesingers Argumentation ist zutreffend. Sie widerlegt zwar die Intention des ursprünglichen Gedankenexperiments nicht, begrenzt sie aber. In Wirklichkeit gibt es zwei vorstellbare Ver-sionen von Poincarés Gedankenexperiment. Sie können sich das folgendermaßen veranschaulicht denken:

Stellen Sie sich vor, die Gesetze der Physik würden von einem Dämon überwacht, der im Universum herumläuft und aufpaßt, daß alles genau nach diesen Gesetzen abläuft. Der Dä-mon arbeitet wie ein Polizist im Streifendienst. Er marschiert von einem Ort zum nächsten und sieht nach, ob sich alles an die Gesetze hält.

Unmittelbar nach der Verdopplung ist der Dämon mit einer Routineüberprüfung des Newtonschen Gravitationsgesetzes beschäftigt. Dieses Gesetz besagt, daß die Kraft (F) zwischen zwei Objekten gleich dem Produkt aus der

Gravitations-konstante (G) und dem Produkt ihrer Massen (m1 und m2) geteilt durch das Quadrat der Entfernung zwischen ihnen (r) ist:

Der Dämon paßt auf, daß sich die Erde und der Mond nach dem Gesetz richten. Er mißt die Masse der Erde, die Masse des Mondes und die Entfernung zwischen ihnen. Er schlägt in sei-nem Handbuch den Wert für die Gravitationskonstante nach.

Er gibt die Zahlen in seinen Taschenrechner ein und kriegt den richtigen Wert für die Gravitationskraft zwischen Erde und Mond heraus. Dann stellt er einen Zeiger auf einer Skala ein und bestimmt so die derzeitige Gravitationskraft zwischen Erde und Mond.

Die Frage ist: Wie mißt der Dämon Entfernungen ? «Kennt»

er sie einfach und kann infolgedessen die Verdopplung auf ma-gische Weise wissen? Oder geht es ihm wie uns, und er muß Entfernungen messen, indem er sie mit anderen Entfernungen vergleicht?

Wenn der Dämon von der Verdopplung weiß («wenn die Gesetze der Physik die Verdopplung anerkennen»), sind wir bei Schlesingers Version des Gedankenexperiments. Diese Art von Verdopplung wäre feststellbar, und da wir sie nicht festge-stellt haben, können wir zu Recht sagen, eine für die Gesetze der Physik «sichtbare» Verdopplung habe nicht stattgefun-den. Wenn andererseits die Ausdehnung selbst für die Natur-gesetze unsichtbar ist, gibt es keine Methode, sie zu entdecken.

Ich glaube, Poincare hat eine Verdopplung gemeint, die für die Gesetze der Physik unsichtbar ist.

Übrigens sind universelle Veränderungen kein ausschließ-liches Betätigungsgebiet von Philosophen. Der Physiker Robert Dicke hat eine Theorie der Gravitation vorgeschlagen, in der sich im Lauf der Zeit die Gravitationskonstante langsam

ver-ändert. Aus Poincarés Beispiel wird klar, daß jede nützliche Hypothese meßbare Konsequenzen haben muß. Das tut Dickes Theorie. Die Gravitationskonstante gibt die uniselle Stärke der Gravitation an. Wenn sie sich über Nacht ver-doppeln würde, würden Sie das merken. Die Badezimmer-waage würde Ihnen am nächsten Morgen verraten, daß Sie doppelt soviel wiegen. Vögel hätten Schwierigkeiten mit dem Fliegen. Jo-Jos würden nicht funktionieren. Die Welt würde sich auf tausenderlei Weise ändern. Wahrscheinlich könnte ohnehin niemand eine Verdopplung der Gravitationskon-stante überleben. Die verstärkte Schwerkraft würde die Erde in einer Serie unvorstellbarer Erdbeben und Flutwellen zu-sammenquetschen. Auch die Sonne würde schrumpfen, hei-ßer brennen und die Erde verwüsten.

Dickes Theorie nimmt nun an, daß die Gravitationskon-stante abnimmt, nicht daß sie zunimmt. Ein Rückgang der Gravitationskonstante auf die Hälfte hätte entgegengesetzte Wirkungen, wäre aber wahrscheinlich genauso tödlich. Sie würden weniger wiegen. Die Vögel würden sich in höhere Re-gionen erheben als je zuvor. Die Sonne würde sich ausdehnen und abkühlen, und wir würden erfrieren. Natürlich ist die Ab-nahme in Dickes Theorie unmerkbar langsam, vielleicht eine Verringerung um ein Prozent in einer Milliarde Jahren. Selbst diese winzige Veränderung wäre bei extrem exakten Messun-gen der Planetenbewegung, vielleicht auch an ihren geophysi-schen Auswirkungen feststellbar. Bisher ist es nicht gelungen, Veränderungen der Gravitationskonstante festzustellen.

Variationen

Poincarés Gedankenexperiment, das Einsteins Relativitäts-theorie den Boden ebnete, illustriert eine der akzeptabelsten Formen des Antirealismus. Es sind viele Variationen über Poincarés Thema denkbar. Offensichtlich wäre eine nächtliche

Schrumpfung des Universums genausowenig feststellbar. Könnte man es irgendwie feststellen, wenn:

• sich das Universum in nur einer Richtung auf seine dop-pelte Größe «ausdehnte» (und sich Dinge, die ihre Richtung nach der Veränderung ändern, entsprechend ausdehnten oder zusammenzögen) ?

• sich das Universum auf den Kopf stellte ?

• das Universum zum Spiegelbild seiner selbst würde ?

• alles im Universum, einschließlich von Geld, Edelmetal-len und was auch immer die Währung auf anderen Planeten sein mag, seinen Wert verdoppelte ?

• die Zeit anfinge, doppelt so schnell zu verstreichen ?

• die Zeit anfinge, doppelt so langsam zu verstreichen ?

• die Zeit trillionenfach langsamer verstriche ?

• die Zeit einfach stehenbliebe, und zwar... JETZT?

• die Zeit anfinge, rückwärts zu laufen ?

Die meisten würden wohl sagen, all diese Vorstellungen seien gleich unerkennbar und somit sinnlos. Die letzten beiden Ein-tragungen in die Liste sollten kommentiert werden.

Sie würden es niemals merken, wenn die Zeit stehenbliebe.

Sie können wissen, daß sie letzte Nacht oder vor drei Minuten nicht stehengeblieben ist und auch nicht, als Sie das Wort JETZT gelesen haben. (Ich meine, daß die Zeit «auf immer»

stehenbleibt, nicht, daß sie «eine Zeitlang» stehenbleibt und dann wieder anfängt. Ein vorübergehender Stillstand der Zeit wäre nicht erkennbar.) Ob dieser Augenblick der Moment ist, in dem die Zeit stehenbleibt, ist etwas, das Sie nicht wissen können, bevor es geschehen ist.

Falls Sie sicher sind, daß die Zeit nicht rückwärts läuft, fra-gen Sie sich, woher Sie es wissen. Vermutlich werden Sie Ihre Erinnerungen an die Vergangenheit anführen. Wir haben jetzt 1992. Sie erinnern sich an Erfahrungen aus den Jahren 1991, 1990, 1989 usw. Aber Sie würden in diesem Augenblick die Erinnerungen, die Sie haben, genauso haben, wenn die Zeit

seit 1992 rückwärts liefe, wie wenn sie vorwärts liefe. Die Frage ist nur, ob der Finger der Zeit Neues in die Wachstafel der Erinnerung eingräbt oder Altes löscht. Das aber kann nie-mand feststellen!

Hat die Zeit vor fünf Minuten begonnen?

Das bekannteste Gedankenexperiment über die Zeit hat Bert-rand Russell 1921 angestellt. (Hat er das wirklich?) Stellen Sie sich vor, die Welt sei vor fünf Minuten geschaffen worden.

Sämtliche Erinnerungen und alle sonstigen Spuren «früherer»

Ereignisse hat der Schöpfer ebenfalls als privaten Witz vor fünf Minuten geschaffen. Wie beweist man das Gegenteil? Russell bestand darauf, daß das unmöglich sei.

Es hat keinen Sinn, sich mit Russell anzulegen, denn jeder vorgeschlagene Gegenbeweis ist auf die gleiche Art zu

Es hat keinen Sinn, sich mit Russell anzulegen, denn jeder vorgeschlagene Gegenbeweis ist auf die gleiche Art zu

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