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Totengedenken und Gemeinschaft

Im Dokument 4 Genre und Geschichte (Seite 59-80)

IV. Akt: Das Erinnerungsbild

4.4 Totengedenken und Gemeinschaft

Das Totengedenken sei, schreibt Jan Assmann, „in paradigmatischer Weise ein Gedächtnis, ,das Gemeinschaft stiftet‘ (K. Schmidt [sic!] 1985)“.⁸⁷ Tatsächlich lässt sich das Kino der unmittelbaren Nachkriegszeit als ein Erfahrungsraum begreifen, in dem das Gedenken an die Opfer des Krieges zum Modus der Ver-gemeinschaftung wird. Das gilt sowohl für die Art und Weise, in der sich das Gemeinwesen in der Trauer um die Toten als Gemeinschaft einschreibt, als auch für die medialen Formen, in denen es den Toten als heroischen Opfergestalten ein Denkmal zu setzen sucht.

87 Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 63; Assmann zitiert Karl Schmid (Hrsg.): Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet, Freiburg 1985.

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a walk in the sun: Ein Requiem

a walk in the sun ist einer der Filme, die in der skizzierten Weise dem Toten-gedenken dienen. Er basiert nicht nur – wie so viele andere Genreproduktionen jener Jahre – auf einer Novelle, die noch während des Krieges geschrieben wurde:

Harry Browns A Walk in the Sun (1944) ist gleichsam in Begleitung der Kampf-handlungen, von denen berichtet wird, als Fortsetzungsroman veröffentlicht und gelesen worden. Der Film entwickelt dann, sich zurückwendend auf die Erfah-rung zeitgenössischer Leser, die den Ereignissen im Präsens einer Erzählung gefolgt sind, eine ganz andere zeitliche Form.

Er hebt mit einer langen Eingangssequenz an, die über viele Minuten einen gleichbleibenden atmosphärischen Grundton etabliert, den man vielleicht am besten als den eines Nachtstücks qualifizieren kann. Das Leinwandbild ist sehr dunkel; vage heben Gesichter sich als aufgehellte Flächen aus dem Schatten.

Sind es sieben, neun, zwölf oder fünfzehn Gesichter? Die einzelnen Soldaten sind kaum voneinander zu unterscheiden. Sie sind auf engstem Raum in einem Lan-dungsboot zusammengerückt  – eine in sich bewegte Kollage aus verschatteten Gesichtsflächen. Weder sieht man den Himmel, noch das Meer, noch die Küste:

ein Trupp von Soldaten, eingeschlossen in eine Nacht ohne Horizont. Für mehr als zehn Minuten verweilt der Film bei dieser Szene. Er inszeniert das Ineinan-der heller und dunkler Gesichtspartien als ein ornamentales Schattenspiel, das durchzogen ist von den Stimmen der Soldaten  – und einer im Off gesungenen Ballade. Sie erzählt von den Heldentaten jener, die zugleich im Ineinander sich aufhellender Schatten nach und nach als Figuren sichtbar werden. Die Stimme des Sängers umfasst das Ganze der Szene – das Schattenspiel, die Sätze der Sol-daten, die Worte der Ballade  – und fügt es zu Sentenzen eines audiovisuellen Hymnus.

Noch nach der Landung am Strand von Sizilien herrscht Zwielicht, das erst über die Dauer des langsam ansteigenden Morgenlichts zur Tageshelle übergeht.

Die Figuren werden als die Schattengestalten eingeführt, die sie tatsächlich sind:

Die lange Exposition eröffnet den Film als elegisches Requiem auf die toten Soldaten. Auch der dramaturgische Aufbau folgt keinem Spannungsprinzip, sondern lässt in fortgesetzter Variation der Eröffnungssequenz das Platoon als ein unentwegt sich wandelndes Gefüge ineinander geschobener Körper – graue Uniformen, hell leuchtende Gesichtspartien und dunkle Stahlhelme –, als die geisterhafte Erscheinung eines Körpers vielzähliger Gesichter sichtbar werden.

Wenn nach der Landung an der Küste vor Salerno die Nacht in den Tag über-geht, scheint es, als würde das Platoon noch einmal als militärische Kampftruppe Gestalt annehmen. Aber auch hier noch fügen sich die gesprochenen Sätze, die Gesten, die Gesichter zu Expressionen eines Körpers, der die Aktionen der

Ein-zelnen umgreift. Sie formieren sich zu Figurationen ineinandergreifender Hand-lungen und Dialoge: Eine Hand winkt nach der Zigarette, eine andere reicht diese herüber, eine weitere Hand entzündet das Streichholz am Helm eines unbetei-ligten Dritten. In solchen Figurationen des Gruppenkörpers wird das Platoon für seine zeitgenössischen Zuschauer zu einer nach und nach zum Leben erwachen-den Erinnerung.

Abb. 39: Figurationen des Gruppenkörpers.

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Man kann die Welt, die in der Wahrnehmung dieser Zuschauer als ein verkörp er-tes Hören und Sehen, Empfinden, Fühlen und Denken entsteht, als eine Geister-welt begreifen, in der die Toten auferstehen, um in den filmischen Bildern die Lebenden heimzusuchen.⁸⁸ Im Letzten aber sind es immer die Fantasien und Erinnerungen gegenwärtiger Zuschauer; im Letzten ist es ihre Trauer, die sich den Bildern des Krieges nähert wie das langsam heller werdende Morgenlicht den Sol-daten am Strand von Salerno; es sind ihre Wünsche, ihr Verlangen nach Sinn und Ewigkeit, durch welche die Toten gedrängt werden, in filmischen Bildern noch einmal Gestalt anzunehmen. In gewisser Weise begegnen sie uns ganz ähnlich wie der tote Soldat aus december 7th, der direkt in die Kamera zum Publikum spricht – als Bilder von Toten, die durch Worte und Sätze (re-)animiert werden, in denen gute Gründe für das, was geschehen ist, vorgebracht werden: „Why have we fought?“ Das filmische Bild wird zum Medium , das es Zuschauern erlaubt, die vergangene Gegenwart der Toten mit ihrer Trauer, aber auch mit ihrem Wunsch nach Rechtfertigung heimzusuchen. In der Wahrnehmung leibhaft gegenwärti-ger Zuschauer des zeitgenössischen Kinos erschließt a walk in the sun das Kino als einen Erfahrungsraum , in dem die Gegenwart der Toten und die der Überle-benden zueinander in Beziehung treten.

Viele Kriegsfilme, die in den ersten Jahren nach dem Mai bzw. nach dem Sep-tember 1945 entstanden, lassen sich in diesem Sinne als eine Medienpraxis des Totengedenken s verstehen. Sie verorten ihre Zuschauer an einem Ort, der in der antiken Tragödie allein den Göttern vorbehalten war; dem Platz, von dem aus das Schicksal der Helden in seiner unabweislichen Zwangsläufigkeit zu übersehen ist, von dem aus im Sterben und im Tod der Figuren das Telos erkennbar wird, das alles Geschehen vorherbestimmt. Ein solches Pathos kann man in einem durch-aus strengen Sinn als tragisch bezeichnen. Die Welt, die in den Filmen sichtbar wird, ist durch das Fatum des unabänderlichen Todes der Helden bestimmt. Was so entsteht, ist eine zeitliche Form filmischer Bilder, die sich grundlegend von der Zweizeitlichkeit des kulturellen Gedächtnis ses im oben skizzierten Verständnis unterscheidet.

In der westlichen Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts bezieht sich das Kriegergedenken auf die gezählten und zählbaren Körper gewaltsam getöteter Individuen. Jeder Name muss verzeichnet werden, jede Leiche eine eigene Ruhe-stätte erhalten. Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg wurde dieser Grundsatz

88 Wie Shaviro schreibt: Die filmischen Bilder sind „Haunting Images“, vgl. hierzu Burgoyne:

Haunting in the War Film, S. 159 und S. 167. Burgoyne bezieht sich auf: Steven Shaviro: Response to ‚Untimely Bodies. Toward a Comparative Film Theory of Human Figures, Temporalities, and Visibilities‘, Conference Paper, Society for Cinema and Media Studies, Philadelphia, PA, vorge-tragen am 9.3.2008.

zum Gesetz erhoben. Seit dem Ersten Weltkrieg ist er auch für die europäischen West- und Mittelmächte verbindlich – seit exakt dem Zeitpunkt also, zu dem „die Individuen im Massentod verschluckt“⁸⁹ wurden. Und während noch bis 1917 Soldaten ungeachtet ihrer nationalen Zugehörigkeit gemeinsam bestattet werden konnten⁹⁰, gilt für die Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg der Grund-satz, dass gefallene amerikanische Soldaten möglichst in die Heimat überführt oder auf einem der 139 United States National Cemeteries beigesetzt werden, die ausschließlich auf dem Territorium befreundeter Kriegsalliierter angelegt worden sind.⁹¹

Die Formensprache politischer Sinnlichkeit (Koselleck)

In einem berühmt gewordenen Essay setzt sich der Historiker Reinhart Koselleck mit diesen Veränderungen der, wie er es nennt, „politischen Sinnlichkeit “⁹² aus-einander, die an der Praxis des Kriegergedenken s, der Mahnmale und Grabmale zu rekonstruieren seien. Wie Assmann befragt auch Koselleck die Formen des Totengedenken s mit Blick auf ihre Funktion für die politische Identitätsbildung.

Bis ins achzehnte Jahrhundert seien „Soldaten […] allenthalben auf Sieger-malen, nicht aber auf Kriegermalen“⁹³ zu finden. Und auch dort haben sie vor allem eine dekorative Funktion. Koselleck führt einen Ausspruch Goethes an, der deutlich machen soll, dass unter dem Vorzeichen ständischer Gesellschaften der Krieg ein probates Mittel war, um politische Interessenkonflikte auszutragen, ohne dass damit die Einheit einer übergreifenden Kultur- und Sittengemeinschaft in Frage gestellt war: „Bar aller Kleidung schließlich – ein gutes Recht der Bild-hauer, ihre Kämpfenden so darzustellen –, werden beide Teile völlig gleich, es

89 Reinhart Koselleck: Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Iden-tität. Poetik und Hermeneutik VIII, hrsg. v. Odo Marquard, Karlheinz Stierle, München 1979, S. 255–276, hier: S. 272.

90 Auf den ‚Schlachtfeldern von 1870/71 lassen sich noch zahlreiche gemeinsame Gräber von Franzosen und Deutschen‘ finden (vgl. ebd., S. 268), und Wilhelm II. ließ noch 1916 ein Ehrenmal errichten, das beide feindlichen Lager repräsentierte; 1918 wurden auf einem bis dahin gemein-samen Friedhof die französischen Gefallenen exhuminiert und gegen deutsche Leichen ausge-tauscht.

91 Bis in die jüngste Zeit sind Suchtrupps bemüht, gefallene Soldaten in einstigen Schlachtfel-dern zu bergen und nach Hause zu bringen, damit kein amerikanischer Soldat in Deutschland bestattet wird, wenn es nicht sein ausdrücklicher Wunsch ist (vgl. ebd., S. 268).

92 Ebd., S. 273.

93 Ebd., S. 258.

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sind hübsche Leute, die sich einander ermorden…“⁹⁴ Solange der Krieg ledig-lich die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war, kam den dargestellten Soldaten keinerlei repräsentative Funktion hinsichtlich nationaler, ethnischer oder ideologischer Zugehörigkeit zu. Als Individuen waren sie jedes besonderen Gedenkens völlig unwürdig; ihr Schicksal als Tötende und Getötete hatte in der gemeinschaftlichen Welt keinen Ort, von dem aus es gesehen, gezählt oder dar-gestellt wurde – solange sie nicht von Stand und Adel waren. Ständische Gesell-schaftsordnung und religiöse Transzendenz des Todes waren in den Praktiken des Kriegergedenken s auf eine Weise komplementär aufeinander bezogen, die tatsächlich als Zweizeitigkeit kultureller Gedächtnis formationen beschrieben werden kann. Sie gehörten dem Arsenal von Machttechniken an, mit denen die Adeligen sich das Privileg sicherten, im Erinnerungskult die Ewigkeit des Todes auf ihre Ämter und ihr Leben zu übertragen. Das Totengedenken war auf ein „außerirdisches Jenseits“ bezogen, das den Bestand der ständischen Gesell-schaftsorganisation sanktionierte: „Der Fürst repräsentiert als Fürst sein nicht sterbliches Amt, aber auch als Mensch ist der Fürst repräsentativ – für den sterb-lichen Menschen, für Jedermann.“⁹⁵

Kriegerdenkmale, die sich auf den gemeinen Soldaten beziehen, entstehen erst mit der Französischen Revolution. Fortan wurde die Gleichheit der Indivi-duen in kulturellen Erinnerungspraktiken zelebriert, die auf die getöteten Opfer der Kriege verwiesen.⁹⁶ Der Tod der Einzelnen wird als ein bedeutsames Ereignis gedeutet und auf die „Handlungsgemeinschaft“,⁹⁷ die Gemeinschaft der Revo-lutionäre, bezogen. Die in der Aktion der Handlungsgemeinschaft gewaltsam zu Tode gekommenen wurden im Kriegergedenken poetisiert; ihr Leben und Sterben wurde zu einer Erzählung über den Ursprung, das Telos und das Ziel der politischen Gemeinschaft . Die „Kriegerdenkmäler verweisen auf eine zeitli-che Fluchtlinie in die Zukunft, in der die Identität derjenigen Handlungsgemein-schaft gesichert werden sollte, in deren Macht es stand, den Tod monumental zu erinnern.“⁹⁸ Die Worte, Bilder und Architekturen des Gedenkens gelten deshalb nicht in erster Linie dem Tod der Soldaten oder Revolutionäre; vielmehr werden die Toten resp. das Gedenken an die Toten zum Gegenstand einer Erinnerungs-dichtung , in der sich eine politische Gemeinschaft ihrer eigenen Gründung, ihres

94 Ebd., S.  267 f.; Koselleck zitiert Johann Wolfgang von Goethe: Anforderungen an den mo-dernen Bildhauer, in: ders.: Sämtliche Werke in 30 Bänden, Band 25, Stuttgart/Tübingen 1851, S. 205–207.

95 Koselleck: Kriegerdenkmale, S. 258.

96 Ebd., S. 259.

97 Ebd., S. 257.

98 Ebd., S. 261.

Ursprungs im revolutionären oder kriegerischen Akt versichert, um sich in die Zukunft hinein zu entwerfen. Das meint nichts anderes, als dass die Formen des Totengedenken s zu Medien einer anderen Zeiterfahrung werden als die der Ewigkeit der Toten – nämlich die der Geschichtlichkeit einer politischen Gemein-schaft .⁹⁹ Die zeitliche Flucht zwischen der Gegenwart erinnerter Kriegstoter und der Zukunft monumentalen Erinnerns, auf die sich die Denkmale letztendlich beziehen, tritt an die Stelle der „Zweizeitlichkeit“ des kulturellen Gedächtnis ses ständischer Gesellschaften. Deshalb kann Capra die Bilder der Amerikanischen Revolution als Appell zum Eintritt in den Krieg aufrufen; weisen sie doch in der Erinnerung an die Opfer der Gewalt auf die Geschichte einer politischen Gemein-schaft zurück, die in dieser Gewalt sich selbst als kontingenten Anfang eben dieser Geschichte gesetzt hat.¹⁰⁰

Mit den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges, die Abertausende nicht identifizierbarer Tote und unauffindbare Leichen hinterlassen haben, werden die Kriegsschauplätze selber zu Gedenkorten. „Der Tod von Hunderttausenden auf wenigen Quadratkilometern Erde, die umkämpft wurden, hinterließ einen Begründungszwang, der mit überkommenen Bildern und Begriffen schwer ein-zulösen war.“¹⁰¹ Das Pathos des Kriegergedenken s wurde monumental überhöht und veränderte zugleich seine Semantik: Es wandelte sich zu einem Gedenken des Todes schlechthin, der aller Kontinuität der Gemeinschaft und Identität der Individuen eine Grenze setzt. Der „Typus des monumentalen Siegermals aus dem vorangegangenen Jahrhundert [wurde] zum unmittelbaren Totenmal“.¹⁰² Das personalisierte Gedenken, die Listen, Tafeln, Mauern, auf denen jeder ein-zelne Name verzeichnet wird, löst die Monumente ab, mit denen die Staatsvölker des neunzehnten Jahrhunderts sich ihrer nationalen Identität versicherten. An die Stelle politischer Sinnstiftung, die beispielhaft mit der Legende preußischer Denkmale – „Den Gefallenen zum Gedächtnis, den Lebenden zur Anerkennung, den künftigen Geschlechtern zur Nacheiferung“¹⁰³  – noch für das späte neun-zehnte Jahrhundert zu bestimmen war, rückt die Trauer um die Toten selbst ins Zentrum und wird zum affektiven Stoff der Erinnerungsdichtung . Der Soldaten-tod findet seinen Sinn in der Darstellung der Trauer der Überlebenden.¹⁰⁴ Die Trauer um die Toten wird als ein gemeinschaftlich geteiltes Gefühl zelebriert, das

99 Hannah Arendt hat diese Geschichtlichkeit in Über die Revolution an der Amerikanischen Revolution analysiert.

100 Vgl. Arendt: Über die Revolution.

101 Koselleck: Kriegerdenkmale, S. 272 f.

102 Ebd., S. 272.

103 Vgl. ebd., S. 262.

104 Vgl. ebd., S. 260.

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zur machtvollen Quelle des Gemeinschaftsgefühls wird. Koselleck zitiert beispiel-haft den Spruch auf einem englischen Kriegerdenkmal: „Pass not this stone in sorrow but in pride / And live your lives as nobly as they died“.¹⁰⁵

Die Geschichte des Kriegergedenken s westlicher Gesellschaften erscheint in dieser Perspektive als ein Prozess der politischen Funktionalisierung der Erin-nerung an die gefallenen Soldaten, der eng mit der Entstehung der modernen Demokratien verbunden ist.¹⁰⁶ In den demokratischen Gesellschaften wird das Gedenken zur generischen Form eines poetischen Machens , das im ritualisierten Rekurs auf die vergangenen Kriege das bloße Vergehen der Zeit selbst, die all-tägliche Zeit allall-täglichen Lebens, zur Geschichte der ‚Handlungsgemeinschaft‘, d. i. die Geschichte einer politischen Gemeinschaft , umformt. In den unterschied-lichsten medialen Praktiken (Mahnmale und Gedenkstätten, Gemälde und Foto-grafien, Romane, Filme, Musiken) wird die Zeit der kriegerischen Gründung oder der revolutionären Befreiung auf die Zukunft einer politischen Gemeinschaft hin perspektiviert und ausgefaltet.

Die Rede vom Krieg und der Mythos der Gemeinschaft

Foucault hat diese politische Funktion des Kriegergedenken s für die politische Gemeinschaft im Auge, wenn er die „Rede über den Krieg“ als einen Diskurs thematisiert, von dem er vermutet, dass sich in ihm der historisch-politische Diskurs der westlichen Moderne selbst begründe. Seine Überlegungen geben uns zu verstehen, dass sich die medialen Inszenierungen des Krieges auf Diskurse und Institutionen beziehen, welche die zivile Ordnung politischer Gemeinwesen begründen – und keineswegs auf das historische Faktum des Krieges. Sie berich-ten vom Krieg als einer blutigen Gewalt, die als Bild des Krieges „unterhalb und innerhalb der politischen Beziehungen“ wirksam ist; sie entwerfen den Krieg als ein mythisches Ereignis, das „die Geburt der Staaten geleitet“ und deren „Recht, de[n] Frieden, die Rechte“ geboren hat:

Die rechtliche Organisation der Macht, die Struktur der Staaten, der Monarchien, der Gesellschaften hat ihr Prinzip nicht dort, wo der Lärm der Waffen verstummt. Der Krieg ist nicht zu Ende. Zunächst hat er die Geburt der Staaten geleitet. Das Recht, der Frieden, die Rechte sind im Blut und im Schlamm der Schlachten geboren worden.¹⁰⁷

105 Ebd., S. 273.

106 Vgl. ebd., S. 259 f.

107 Foucault: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, S. 7, S.11.

Die Darstellungen des Leidens, des Grauens, des Verwerflichen des Krieges wären in dieser Perspektive betrachtet immer schon funktional auf die Identität einer politischen Gemeinschaft zu beziehen, die ihre soziale Territorialität, die Integrität als „politische Körperschaft“ einer Nation, eines Volkes, aus der Pro-duktion einer Form von Geschichte ableitet. Sie betreffen die Erinnerung an die kontingente Gewalt des Anfangs einer Geschichte des Volkes, der Nation, und nicht, wie gerade mit Blick auf die Kriegsinszenierungen in Film und Fernsehen immer wieder behauptet wird, die mehr oder weniger verwerflichen Entglei-sungen staatlicher Gewalt und deren grausame Folgen, die stets nur verharm-lost oder verfälscht gezeigt werden. Sie betreffen Geschichte als den Raum, in dem sich politische Gebilde als Gemeinschaften konstituieren wollen und sich in der Rede vom Krieg – dem Kriegergedenken  – in eine ‚Zukunft monumentaler Erinnerung‘ hinein zu entwerfen suchen. Deshalb sei, so Foucault, die moderne Rede vom Krieg eine von Grund auf rassistische Rede, die das Recht als ein je apartes Recht einklagt: „das Recht seiner Familie oder seiner Rasse, das Recht der Überlegenheit oder der Altehrwürdigkeit, es ist das Recht der siegreichen Inva-sionen, der jüngsten oder der ältesten Besetzungen. Es ist jedenfalls ein Recht, das in einer Geschichte verankert ist und das zugleich gegenüber einer juridi-schen Universalität dezentriert ist.“¹⁰⁸ Und weiter: „Der Krieg, der sich so unter der Ordnung und unter dem Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt, das ist im Grunde der Krieg der Rassen .“¹⁰⁹ Der Diskurs der Geschichte  – so die Konsequenz dieser Überlegungen Foucaults –, wie ihn die westliche Moderne entwickelt hat, geht unmittelbar aus der Rede vom Krieg und den Praktiken des Kriegergedenken s hervor. Auf die modernen Demokra-tien bezogen sei ‚Politik als eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln‘ zu denken.¹¹⁰

Das betrifft nicht zuletzt auch die Reinszenierung der Geschichte in filmi-schen Bildräumen , wie ich sie in den vorangegangenen Studien zu rekonstru-ieren suchte. Es geht hier um Filme, die das Kino als einen Erfahrungsraum ent-werfen, in dem die Nation, „the Country“, als ein Gewebe unzählbarer Biografien und Familiengeschichten berühmter und alltäglicher, epochenmachender und anonymer Individuen beschrieben wird: als eine „Ineinanderschiebung von Körpern, von Leidenschaften und von Zufällen, die in diesem [dem historisch-politischen E. v. V.] Diskurs das bleibende Gewebe der Geschichte und der

Gesell-108 Ebd., S. 14.

109 Ebd., S. 24.

110 Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft, S. 63.

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schaften bildet.“¹¹¹ Man kann dabei an die These vom Metafilm denken, den Hol-lywood immer neu inszeniere:¹¹²

Letztlich hat das amerikanische Kino nie aufgehört, ein Grundthema immer wieder neu zu verfilmen: die Geburt einer nationalen Zivilisation […] sie [die organische Repräsenta-tion bei den Amerikanern] ist selber die ganze Geschichte, die genealogische Linie, von der sich jede nationale Zivilisation wie ein eigenständiger Organismus ablöst und jeweils die Gestalt Amerikas vorwegnimmt. […] Ein starkes ethisches Urteil muss die Ungerechtigkeit der ‚Dinge‘ anprangern, das Mitleid erregen und von der heraufkommenden neuen Zivilisa-tion künden, kurzum: immer wieder Amerika entdecken.¹¹³

Doch lassen sich weder die These von Deleuze noch die Überlegungen Foucaults bruchlos auf den Kriegsfilm Hollywoods nach 1945 übertragen.

the steel helmet: Die Perspektive der Toten

In the steel helmet (die hölle von korea, USA 1951) hat Samuel Fuller einen

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