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Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsdichtung

Im Dokument 4 Genre und Geschichte (Seite 29-42)

IV. Akt: Das Erinnerungsbild

4.2 Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsdichtung

In they were expendable ist das individuelle Erleben der zurückgelassenen Sol-daten immer schon gerahmt durch die Perspektive der Erinnerung der Überleben-den. Das filmische Bild selbst wird zum affektiven Band, das der Film zwischen dem heimischen Publikum und den Opfern des Krieges, den gefallenen amerika-nischen Soldaten, aufzuspannen sucht. Das poetische Konzept des Films lässt sich als Antwort auf ein historisches und gesellschaftliches Problem verstehen:

Wie lässt sich der Krieg fassen und verarbeiten, wenn es zwar unendlich viel

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misches Material von den Kampfhandlungen gibt, dieses aber per se nicht erfahr-bar werden lässt, was das Geschehen für die vielen namenlosen Opfer bedeutet?

Mit they were expendable formt John Ford den Kriegsfilm als ein Genre, das zum Medium der Teilhabe an einer Leidenserfahrung wird, die selbst über keine Sprache verfügt.

In dem Zitat von General Douglas MacArthur, das Ford seinem Film voran-stellt, ist das Pathos bündig formuliert, das die Kriegsfilme Hollywoods nach 1945 bestimmen wird. Sie verorten ihre Zuschauer als Einzelne, die teilhaben an einer Gemeinschaft , die sich in der Leidenserfahrung der Opfer neu zu begrün-den sucht. Ihre Inszenierungsweisen sind darauf gerichtet, das ästhetische Emp-finden und SelbstempEmp-finden der Zuschauer in ein bestimmtes Verhältnis zu den zahllosen Bild- und Tondokumenten zu setzten, die in den Jahren des Weltkrieges das Kino zum Erfahrungsraum des Krieges haben werden lassen. Darin begrün-den sie eine Medienpraxis gemeinschaftlichen Erinnerns, die auf die Erneuerung des Gefühls für das Gemeinschaftliche zielt. Die Filme sind in ihrer affektdrama-turgischen Struktur auf eine solche mediale Praxis gerichtet und lassen sich als Intervention in die psycho-soziale Affektökonomie politischer Gemeinschaftsbil-dung historisch verorten. Sie erschließen das filmische Material von Kriegspropa-ganda , Kriegsberichterstattung und Mobilisierungsfilmen als mediale Form, mit der sich das Empfindungserleben vergangener Tage in der Affektion gegenwärti-ger Zuschauer aktualisiert und verzweigt. Sie formen dabei die filmischen Bilder der combat reports und Newsreels zu affektgeladenen Pathosszenen , die sehr bald schon als stereotype Handlungs- und Figurenkonstellationen eines neuen Genres wahrgenommen wurden.

Geht man von der hier skizzierten affektökonomischen Funktion aus, muss sich notwendig das Verständnis der Historizität filmischer Bilder verändern.

Denn die Filme lassen sich dann nicht einfach dem Bestand historischen Quel-lenmaterials hinzufügen; sie stellen vielmehr das Konzept des Dokuments selbst in Frage; sind es doch nicht mehr länger nur Texte  – eine Akte, ein Brief, eine Notiz – deren Wissen es zu studieren gilt, sondern unterschiedliche Typen affekt-generierender und modellierender Medien , die unterschiedlichen affektökonomi-schen Regimen unterstehen. Deren geschichtsbildendes Potential vermittelt sich über andere Erfahrungsmodalitäten , über andere Modi des poetischen Machens als etwa die des Schreibens und Lesens.³⁴ Entstanden aus Propaganda und

Gung-34 Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich hier eine Verengung in Rortys Konzept der Be-schreibung sehe, die es bild- und filmtheoretisch zu bewältigen gilt. Zur Abgrenzung von einem zeichentheoretischen Zugriff auf das Verstehen von Bildern in einem bildtheoretischen Kontext vgl. Gottfried Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. Gottfried Boehm, München 1994, S. 11–38; Gottfried Boehm: Die Bilderfrage, in: Was ist ein Bild?, hrsg. v. Gottfried

Ho-Filmen etabliert sich der Kriegsfilm erst mit der Wendung zur path etischen Erinnerungsform als ein neues Genre des Hollywoodkinos.

Rekonstruktion eines vieldiskutierten Begriffs

Damit tritt ein Paradigma historischer Erfahrung in den Vordergrund, das in der Diskussion um die audiovisuellen Bilder des Krieges einen prominenten Platz einnimmt, nämlich die Frage nach den kulturellen Praktiken des Erinnerns und dem kulturellen Gedächtnis .

„Der Fotoapparat, das Kino und der Fernsehapparat wirkten als Dispositive der Wahrnehmung sowie zugleich als Speicher des kulturellen Gedächtnisses.“³⁵ In solchen Sätzen ist das medientheoretische Credo zahlreicher historischer und kulturhistorischer Untersuchungen zur medialen Repräsent anz des Krieges formuliert. Doch steht die Konjunktur der These einmal mehr im krassen Miss-verhältnis zu ihrer Folgenlosigkeit. Die Medientechnologie wird zwar als Basis geschichtlicher Formen des Wahrnehmens oder des Erinnerns behauptet. Aber es werden keine methodologischen Konsequenzen aus der medientheoretischen Hypothese gezogen. In der konkreten Durchführung analytischer Untersuchun-gen beweUntersuchun-gen sich viele kulturhistorische Studien in den Bahnen bewährter his-toriografischer Methoden, d. i. sie beschreiben, analysieren und qualifizieren primär die repräsentierten Inhalte.³⁶

Die Reduktion auf die repräsentierten Inhalte blendet immer schon aus, was das filmische Dokument wesentlich kennzeichnet – die jeder medialen Präsen-tation eignende ästhetische Struktur, die den Betrachtenden erst in eine spezifi-sche Beziehung zum Dargestellten bringt.

Was sind überhaupt repräsent ierte Inhalte und dargestellte Motive audiovi-sueller Bilder, wenn man die Bilder selbst als historisch variable, mediale Formen des Wahrnehmens begreift? Der blinde Fleck scheint mir durchaus in den Begrif-fen selbst angelegt. So verhält sich die Rede vom medientechnischen Dispositiv nicht selten indifferent gegenüber den konkreten kulturellen Praxen, in denen Medien überhaupt erst als konkrete Wahrnehmungsformen, d. i. konkrete

Ver-Boehm, München 1994, S.  325–343; Gottfried Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, in: Bilderfragen.

Die Bildwissenschaften im Aufbruch, hrsg. v. Hans Belting, München 2007, S.  27–36; Gottfried Boehm: Das Zeigen der Bilder, in: Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, hrsg. v. Gottfried Boehm, Sebastian Egenhofer, Christian Spies, München 2010, S. 19–53.

35 Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder, S. 12.

36 Rasmus Greiner etwa stellt den Filmen über die „Neuen Kriege“ das jeweils als dem Film vor-gängig angenommene historische Ereignis des Krieges gegenüber, um dann repräsentative und reflexive Bezugnahmen herauszuarbeiten. Vgl. Greiner: Die neuen Kriege im Film.

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wendungsweisen von Medientechnologien , greifbar werden. Im gängigen Ver-ständnis des „kulturellen Gedächtnis ses“ wird ein individualpsycholo gisches Konzept von Erinnerung mit Hilfe der Speichermetapher in einen kulturtheore-tischen Begriff übersetzt, der häufig nichts anderes meint als die diversen medi-alen Praktiken der Tradierung (Speicherung) und Reproduktion von Wissensbe-ständen. Nun ist das Speichern von Wissen aus meiner Sicht als Metapher weder geeignet, mediale Praktiken kultureller Tradierungsprozesse, noch psychische Prozesse des Erinnerns hinlänglich zu beschreiben.

Auf jeden Fall lässt sich die poetische Logik der Kriegsfilme nicht durch den theoretischen Verweis auf das medientechnologische Dispositiv analytisch erfas-sen; auch wird man die mediale Erinnerungspraxis des Genrekinos als Speiche-rung und Reproduktion von Wissensbeständen kaum sinnvoll beschreiben und historisch verorten können. Vielmehr ist darin ein konkretes poetisches Machen zu begreifen, welches die medialen Formen des Wahrnehmens, Fühlens, Denkens hervorbringt, die den ästhetischen Erfahrungsraum entstehen lassen, der uns zuallererst eine Erfahrung von Geschichte ermöglicht. Das meint eine Erfahrung, die weder auf das psychische Erinnerungsvermögen menschlicher Individuen, noch auf ein ‚Wissen‘ rückführbar ist, das von den medialen Bedingungen seiner Verfertigung, Tradierung und Reproduktion ablösbar wäre.³⁷

Die Relation von Erinnerung und politischer Identität (Assmann)

Ich möchte deshalb zunächst den Begriff des kulturellen Gedächtnis ses in seinen grundlegenden Bestimmungen rekonstruieren, die Jan Assmann in einer Studie aus dem Jahr 1992 über die kulturellen Praktiken des Erinnerns der frühen Hoch-kulturen des Mittelmeers entwickelt. Die Studie zeichnet sich  – anders als das spätere kulturtheoretische Konzept  – dadurch aus, dass sie die grundlegende Lektüre von Halbwachs’ Theorie des kollektiven Gedächtnis ses mit einer histo-risch präzise situierten Begriffsbestimmung verbindet.

Indem Assmann den Begriff aus dem Vergleich unterschiedlicher religiöser und mythologischer Begründungen der Erinnerungspolitik gewinnt, tritt dessen machttheoretische Signatur deutlich hervor. Im kulturellen Gedächtnis sind

37 Vgl. Jacques Rancière: Die Geschichtlichkeit des Films, in: Die Gegenwart der Vergangenheit.

Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, hrsg. v. Eva Hohenberger, Judith Keilbach, Berlin 2003, S. 230–246; Siegfried Kracauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen. Werke 4, Frankfurt/M.

2009; Heide Schlüpmann: Ein Detektiv des Kinos. Studien zu Siegfried Kracauers Filmtheorie, Basel u. a. 1998; Hermann Kappelhoff: The Politics and Poetics of Cinematic Realism, New York 2015, S. 20 ff. und 62 ff.

gesellschaftliche Praktiken avisiert, die weit eher dem Bereich des Machtvollzugs totalitärer Herrschaftsformen und ihrer institutionellen Absicherung zugehören als der individuellen oder kollektiven Erinnerung. Jedenfalls wird in dieser Studie Assmanns deutlich, dass der Begriff auf mediale Praktiken der Gemeinschaftsbil-dung abzielt, die in der ‚Relation von Erinnerung und politischer Identität‘³⁸ eine strenge hierarchische Machtordnung ins Werk setzen. Die Ausgangsformen einer solchen Erinnerungskultur sind die Totenkulte.³⁹ ‚Die soziale Gruppe konstituiert sich als Erinnerungsgemeinschaft ‘⁴⁰, indem sie eine bedeutsame Gedächtniswelt schafft, die ihr über die Gegenwart hinaus Dauer schafft: „Erinnerungskultur hat es mit ‚Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet‘ zu tun.“⁴¹ Das kulturelle Gedächtnis betrifft also Gemeinschaftsformen , die ihre Dauer dadurch zu gewinnen suchen, dass sie sich in der Ewigkeit der Toten verorten. Das unterscheide – so Assmann – das kulturelle Gedächtnis von der Tradition. Während Tradition in sich ein gelun-genes Zeitkontinuum der Überlieferung darstellt,⁴² bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf einen nicht auflösbaren Bruch, auf die nicht hintergehbare Erfah-rung der Kontingenz. Während die Tradition eine Zeit herzustellen sucht, die sich die Toten und die Lebenden teilen, zielen die Erinnerungskulte in ihren Orten und Riten auf eine Zeit-Raum-Figuration, die durch die Trennung von der alltäg-lichen Zeit einer Gemeinschaft bestimmt ist.

Assmann führt an diesem Punkt eine weitere Unterscheidung ein: die zwi-schen dem Sakralen und dem Profanen, dem Heiligen und dem Alltäglichen.

Die erinnernde Vergegenwärtigung des kulturellen Gedächtnis ses vollziehe sich im Modus festlicher Zeremonie. Die Gegenstände des kulturellen Gedächtnis ses unterscheiden sich von denen alltäglichen Erinnerns durch die medialen Prakti-ken zeremonieller Vergegenwärtigung, die den ‚Alltagshorizont einer gegenwär-tigen Kommunikationsgemeinschaft überschreiten‘; sie gehören Erinnerungs-praktiken , deren Zweck in der „Ermöglichung eines Lebens in zwei Zeiten“⁴³ besteht – d. h., in der Zeit der Toten, die im zeremoniellen Erinnern, Wiederho-len, Vergegenwärtigen als Zeit des Festes der alltäglichen Gegenwart der Leben-den gegenüber gestellt wird.

Mit Blick auf die unterschiedlichen religiösen und mythologischen Begrün-dungen der Festzeiten, Zeremonialitäten und der Akteure, die diese ausführen,

38 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

39 Vgl. ebd., S. 60 f.

40 Vgl. ebd., S. 40.

41 Ebd., S. 30 [meine Hervorhebung, H.K.].

42 Vgl. ebd., S. 34.

43 Ebd., S. 84.

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wird die machttheoretische Dimension als Herrschaftstechnik deutlich. Die ‚Zere-monialität der Kommunikation‘ kultureller Erinnerungsakte, wir könnten auch sagen: Ihre Selbstreflexivität ist immer schon eine ‚Formung (des Erinnerns), die in Formungen der Erinnerung‘ übergeht.⁴⁴ Genau darin ist ihre politische Dimen-sion als Herrschaftsstruktur definiert. Die zeremoniellen Formungen stellen Topografien her, welche die Akteure bestimmen, Positionen und Zeit-Orte festle-gen, von denen aus die Bedeutsamkeiten verkündet werden, über die zu sprechen der Gemeinschaft möglich ist. Während Tradition jedem zugänglich ist, der lesen, schreiben und sprechen kann, ist das kulturelle Gedächtnis  – in dem skizzier-ten Verständnis – immer auf Meister und exklusive Medien , Priester und Kulte, Künstler und Kultobjekte verwiesen; auf Spezialisten, die die Orte, Gegenstände und Praktiken verwalten, mit denen sich die radikal getrennten Raum-Zeiten der Toten und der Lebenden aufeinander beziehen lassen.

Die zeremonielle Ordnung der Praktiken des Erinnerns, Vergegenwärtigens und Wiederholens legt die Topografie des gemeinschaftlichen Lebens – die Posi-tionen, von denen aus, die RelaPosi-tionen, in denen und die Bezüge, über die gespro-chen werden kann – fest, indem sie diese in der Parallelwelt eines Totenreichs projektiert. Sie schafft Gemeinschaft , indem sie in streng hierarchischer Aus-richtung die exklusiven Orte, Akteure und Praktiken festlegt, von denen aus sich das Leben der Gemeinschaft mit dem Reich der Toten synchronisieren lässt. Die großen Kontinuitäten, die durch das kulturelle Gedächtnis hergestellt werden – der Mythos , die archaischen Religionen –, beschreiben Gemeinschaftsformen, in denen das alltägliche gegenwärtige Leben durch priestergleiche Verwalter der Vergangenheiten definiert, geregelt und bestimmt wird.

Letztlich betrifft das kulturelle Gedächtnis Herrschaftsformen, die sich auf Dauer zu stellen suchen, indem sie ihre Machtvollzüge darüber organisieren, dass sie die kontingente Zeit politischer Gemeinwesen mit der Ewigkeit einer Gemein-schaft der Toten verbinden. Assmann spricht in diesem Zusammenhang von der

‚Zweizeitigkeit des menschlichen Lebens‘.⁴⁵ Genau hier entsteht ein Problem.

Definiert man nämlich das Leben in zwei Zeiten als eine der „universalen Funk-tionen des kulturellen Gedächtnisses, d. h. der Kultur als Gedächtnis“,⁴⁶ wird ein autoritäres Vergemeinschaftung sprinzip, das aus Funktionsbestimmungen frühhistorischer Religionen rekonstruiert wurde⁴⁷, für die menschliche Kultur

44 Vgl. ebd., S. 53.

45 Vgl. ebd., S. 57.

46 Ebd., S. 84.

47 Vgl. ebd, S.  83 f. Assmann zitiert diesbezüglich Hubert Cancik/Hubert Mohr: Erinnerung/

Gedächtnis, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe 2, hrsg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladigow, Karl-Heinz Kohl, Stuttgart 1990, S.  299–323, hier: S.  311: „Die allgemeine

im Allgemeinen in Anschlag gebracht. Mit der kulturtheoretischen resp. anthro-pologischen Verallgemeinerung geht die theoretische Trennschärfe des Begriffs verloren.

Die Probleme, die sich daraus ergeben, treten in der kategorialen Unterschei-dung zwischen dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis deutlich hervor. Assmann spricht von der ‚diffusen Teilhabe der Gruppe am kommuni-kativen Gedächtnis‘, die er der ‚immer differenzierten Teilhabe am kulturellen Gedächtnis‘ gegenüberstellt.⁴⁸ Das kommunikative Gedächtnis meint die leben-dige Erinnerung von Akteuren, ist letztlich auf die biografischen Erinnerungen gegründet, die eingebettet sind in Familien und Gruppenzugehörigkeiten: Es

„umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. Der typische Fall ist das Generationen-Gedächtnis. Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörperten, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis.“⁴⁹

Das kulturelle Gedächtnis hingegen meint die toten Sinnbestände, die ganz allgemein den kulturellen ‚Techniken der Memorierung‘, den Medien zugeschla-gen werden. Es fängt die Kontinzugeschla-genz des Todes in einer Art organischem Wachs-tum der Zeit auf, in der die Medien durch die Funktion definiert sind, die Position ehemals Lebender zu vertreten: „Was heute noch lebendige Erinnerung ist, wird morgen nur noch über Medien vermittelt sein.“⁵⁰

An die Stelle einer machttheoretischen Definition des kulturellen Gedächt-nis ses tritt eine kulturtheoretische Universalie, die ihre Bestimmung aus dem Gegensatz zwischen der lebendigen Erinnerung sozialer Interaktion und der an Medientechniken und -praktiken gebundenen Rekonstruktion der Vergangen-heit – die ‚fundierende Erinnerung‘ – gewinnt⁵¹:

Der Modus der fundierenden Erinnerung arbeitet stets – auch in schriftlosen Gesellschaf-ten  – mit festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art: in Gestalt von Ritualen , Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wegen, Malen, Landschaften usw., Zeichensystemen aller Art [sic!], die man aufgrund ihrer mnemotech-nischen (Erinnerung und Identität stützenden) Funktion dem Gesamtbegriff „Memoria“

Funktion von Religion ist es, durch Erinnern, Vergegenwärtigen und Wiederholen Ungleichzei-tiges zu vermitteln.“

48 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 53.

49 Ebd., S. 50.

50 Ebd., S. 51.

51 Der „Hauptunterschied gegenüber dem kommunikativen Gedächtnis ist seine Geformtheit und die Zeremoninalität seiner Anlässe.“ Vgl. ebd., S. 58.

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zuordnen darf. Der Modus der biographischen Erinnerung dagegen beruht stets, auch in literalen Gesellschaften, auf sozialer Interaktion.⁵²

Die Dichotomie von lebendiger Erinnerung und toter Medienpraxis kultureller Gedächtnis bildung verdeckt die Frage nach dem Politischen aller Erinnerungs-kultur, die doch mit der These von der „Relation von Erinnerung und politischer Identität“ deutlich adressiert wurde. Das meint zum einen die „Technologie der Macht“⁵³, die die lebendige Erinnerung des kommunikativen Gedächtnis ses nicht weniger bestimmt als die medialen Techniken die Memoria. Das meint zum andern die Möglichkeit, dass sich politische Gemeinschaften durchaus selbst als kontingente Anfänge entwerfen können; Rorty nennt dies liberale Utopie , Arendt Revolution.

Erinnerungsgemeinschaften, wie Assmann sie rekonstruiert hat, negieren im Streben nach Kontinuität und Dauer die Alltagserfahrung leibhafter Individuen.

In deren alltäglichem Zusammenleben manifestiert sich nämlich Zeit als eine unabweisbare Erfahrung der Kontingenz ihrer leibhaften Existenz. In der Pers-pektive liberaler Utopie kann die Geschichte politischer Gemeinschaften gerade nicht außerhalb dieser Erfahrung angesiedelt werden. Die Erinnerungsgemein-schaft ist in ihrem Streben nach transzendentaler Begründung ihrer Kontinuität und Dauer der politischen Gemeinschaft im Sinne Rortys diametral entgegenge-setzt.⁵⁴

In der kulturtheoretischen Diskussion hat der Begriff „kulturelles Gedächt-nis “ bald den Zweck erfüllt, „die Relation von Erinnerung und politischer Iden-tität“ aus dem Feld historisch-politischer Auseinandersetzungen herauszulösen und im ewigen Frieden epistemologischer Topografien anzusiedeln. Aber die medialen Praktiken kultureller Erinnerung lassen sich weder auf einen universel-len Begriff des Gedächtnisses bringen – handelt es sich doch stets um historisch und kulturell distinkte Politiken des Erinnerns –, noch lässt sich eine Erinne-rungsform behaupten, die sich als reine soziale Interaktion biografischer Erin-nerungen vollzieht.

In jedem Akt des Erinnerns ist die räumliche und zeitliche Ordnung einer Gemeinschaft thematisiert, der Rhythmus des gemeinschaftlichen Lebens (der Festkalender des ‚bürgerlichen, kirchlichen, bäuerlichen oder militärischen

52 Ebd., S. 52.

53 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–

1976), Frankfurt/M. 1999, S. 286.

54 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 39 ff.

Jahres‘⁵⁵) und der Raum ihrer Sinnlichkeit.⁵⁶ Alle Erinnerung bezieht sich auf Räume, in denen Gemeinschaften Raumgestalt annehmen: „Gruppe und Raum gehen eine symbolische Wesensgemeinschaft ein, an der die Gruppe auch festhält, wenn sie von ihrem Raum getrennt ist […].“⁵⁷ Letztlich ist damit nichts anderes gesagt, als dass jede Gemeinschaft durch die raum-zeitliche Ordnung ihrer Sinn-lichkeit, durch eine spezifische „Sensorialitätsordnung “ bestimmt ist.⁵⁸

Die Politiken kultureller Erinnerungspraktiken vollziehen sich also immer schon innerhalb einer gemeinschaftlich geteilten Welt, die in ihrer raum-zeit-lichen Sinnlichkeitsordnung von eben solchen medialen Praktiken festgelegt wird, die Assmann als kulturelles Gedächtnis frühhistorischer Kulturen rekons-truiert hat. Statt aber zwischen lebendiger Interaktion und medialen Techniken der Memoria wäre zwischen verschiedenen politischen Strategien der Vergan-genheitskonstruktion zu unterscheiden. Jene sind allesamt als mediale Prakti-ken poetischen Machens aufzufassen, die sich auf die raum-zeitliche Ordnung einer gemeinschaftlich geteilten Welt beziehen. Dabei bewegen sie sich in der Spanne zwischen Herrschaftstechniken , welche die Formen der Sinnlichkeit, die das Leben einer Gemeinschaft bestimmen, festlegen, stabilisieren und reprodu-zieren, und jenen exzentrischen Interventionen, die darauf abzielen, in neuen Beschreibungen politische Anfänge (Arendt) zu etablieren. Man kann die Pola-rität mit einer begrifflichen Dichotomie Rancières einerseits als Ästhetiken der Politik, andererseits als Politik des Ästhetischen bezeichnen.

Kollektives Gedächtnis und individuelle Erinnerung

Auch der Begriff des kollektiven Gedächtnis ses, wie Halbwachs ihn entwickelt, meint letztlich nichts anderes als den Umstand, dass Menschen immer schon in kommunizierende Gemeinschaften eingebunden sind, wenn sie sich auf Vergan-genheiten beziehen und sich erinnern. Wir kommunizieren und handeln, lernen und werden gelehrt – und dieser „soziale Bezugsrahmen“ bildet, so die grund-legende Hypothese von Halbwachs, gleichsam die Einfriedung und die Struktur jeder individuellen Erinnerung: „Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Indi-viduum […] hätte kein Gedächtnis.“⁵⁹ Die Kommunikation einer Gemeinschaft (Gruppe, Kollektiv) schafft die Rahmungen, in denen sich individuelles, d. h.

55 Vgl. ebd., S. 38.

56 Das „Gedächtnis braucht Orte, tendiert zur Verräumlichung.“ Ebd., S. 39.

57 Ebd [meine Hervorhebung, H.K.].

58 Vgl. Rancière: Der emanzipierte Zuschauer, S. 75.

59 Vgl. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 35.

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leibgebundenes Erinnern vollzieht. Nur darf man „Kommunikation“ hier nicht als Austausch sich selbst gewisser und in ihren Intentionen transparenter Sub-jekte verstehen. Gerade die Intransparenz des kollektiven Gedächtnis ses für die

leibgebundenes Erinnern vollzieht. Nur darf man „Kommunikation“ hier nicht als Austausch sich selbst gewisser und in ihren Intentionen transparenter Sub-jekte verstehen. Gerade die Intransparenz des kollektiven Gedächtnis ses für die

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