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Topologien der Verwandtschaft

Im Dokument Sarah Kofman (Seite 50-85)

I. hErKunfTSLInIEn

I.2. Topologien der Verwandtschaft

ein Ort wird auf Altgriechisch als Topos bezeichnet. Dieser Begriff besitzt allerdings schon zur Zeit seiner altgriechischen Verwendung eine Bandbreite übertragener Bedeutungen. Bei Aristoteles wird der Begriff erstmals in Zusammenhang mit der rhetorik verwendet.

›Topos‹ kann demnach abwertend einen gemeinplatz oder ein Kli-schee bezeichnen. es soll in diesem Kapitel vor allem um den Topos-Begriff in seiner Nähe zur Metapher gehen.24 Die Verwandt-schaft stellt ein fein geknüpftes Netz aus Beziehungen zwischen sol-chen Topoi dar: Mutter, Vater, Kind, geschwister, Mutterbruder und Vaterschwester usw. Die realen Personen besetzen terminolo-gisch und schließlich topoloterminolo-gisch betrachtet verschiedene Orte bzw.

leerstellen, die wiederum unterschiedliche Funktionen tragen. Die Funktion eines Vaters oder einer Mutter im polnischen Judentum zu Beginn des 20. Jahrhunderts war durch bestimmte Traditionen, religiöse Vorschriften, gewohnheiten und Klischees bestimmt. eine Topologie der Verwandtschaft soll im Folgenden die Möglichkeit bieten, diese jüdischen Klischees den individuellen Positionen, die vor allem Mutter und Vater im autobiographischen Schreiben Sarah Kofmans einnehmen, gegenüberzustellen.

Neben der Nähe zu Metapher und Klischee spielt der Titel die-ses Kapitels auch auf den topological turn an, der in Zusammen-hang mit dem sogenannten spatial turn einen Paradigmenwechsel innerhalb der Kultur- und Sozialwissenschaften seit ende der 1980er Jahre bezeichnet (vgl. Bachmann-Medick 2009: 284 ff.).

raum wird dabei nicht mehr rein geographisch-kulturell definiert, sondern als ergebnis sozialer Beziehungen. unter anderem werden Metaphern des raumes solchen der Zeit zur erfassung kultureller Phänomene gegenübergestellt. Das räumlich-kartographische Vor-stellungsvermögen erlaubt gegenüber dem zeitlich-chronologischen auch die Wahrnehmung synchron verlaufender ereignisse auf einer horizontalen ebene. In Zusammenhang mit Sarah Kofmans

Biogra-24 Hier könnte auch zusätzlich der Begriff ›Chronotopos‹ erwähnt werden, wie er von Michail M. Bachtin in seiner romantheorie entworfen wurde. er hat die Auf-gabe, raum und Zeit, d.h. den Ort eines geschehens und dessen Zeitverläufe als untrennbar miteinander verbunden zu denken (vgl. Bachtin 2008).

phie und Autobiographie können verschiedene Topoi bestimmt werden: Sie thematisiert selbst den double bind in ihrer Mutterbe-ziehung und das Trauma des Verlusts des Vaters durch die Depor-tation. Über ihre Beziehungen zu den geschwistern erfahren wir jedoch sehr wenig, insbesondere über die Brüder. Aus dieser Beob-achtung kann gefolgert werden, dass sich Kofman stärker für verti-kal verlaufende genealogien als für horizontal sich auffächernde Topologien interessiert hat. Diese Annahme wird durch ihr Auf-greifen des Begriffs der fiktiven genealogie von Friedrich Nietzsche gestützt (vgl. Kofman 1972, 1979, 1992, 1993). Hier grenze ich mich von Kofmans Methode bzw. Weg ab und folge ihr nicht in richtung genealogie.

Im Kontrast zur genealogie soll mit der Topologie das Augen-merk auf die Synchronizität von erfahrung gelegt werden, auch wenn die Beschreibung eines lebens klassischerweise diachron die

›Stationen des lebens‹ (Bourdieu 1990) durchläuft. In einem ersten Schritt frage ich daher nach dem Ort der Mutter, wobei sich rasch herausstellt, dass es davon mehrere gibt – mehrere Orte und Veror-tungen gleichzeitig. In einem weiteren Schritt frage ich danach, wie Sarah Kofman sich selbst innerhalb der von ihr entworfenen Topo-logie zwischen zwei Müttern verortet. und schließlich wird nach möglichen Topoi des Vaters gesucht, wobei von Anfang an dessen Ortlosigkeit im Vordergrund steht.

o r T E / T o P o I d E r m u T T E r

Trotz aller mütterlichen unternehmungen zur rettung der Familie wird der Ort der Mutter in Kofmans Autobiographie immer wieder auf den häuslichen Bereich festgelegt. Sie ist in der Küche der rue Ordener ›zu Hause‹ und nach der Flucht zur ›Dame aus der rue labat‹ bleibt sie in deren Wohnung eingesperrt. Der oikos ist seit der griechischen Antike der häusliche Bereich und zugleich die Sphäre der Privatheit im gegensatz zur politischen Öffentlichkeit, die sich innerhalb der polis auf der agora, dem Marktplatz und in der ekklesia, der Volksverammlung abspielt.25 Kofmans Mutter

25 Der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis hat sich in etli-chen Texten mit der Institution bzw. der Instituierung der gesellschaft und des

scheint diesem oikos, der weiblich konnotiert ist, anzugehören, ohne die geschlechtsspezifische raumaufteilung wesentlich in Frage zu stellen. Trotzdem scheint sie nicht die zärtliche, weiche und naive Mutter zu sein, sondern eine Frau, die wahrscheinlich schon viele Schwierigkeiten – zum Beispiel die emigration aus Polen – überstanden und nun in Paris gehofft hat, ein neues leben an der Seite ihres Mannes beginnen zu können. Alle sechs Kinder hat sie erst in Frankreich zur Welt gebracht. laut des Datenblattes N° 49826 des Personenregisters der Polizei des Vichy-regimes lebte

»der staatenlose rabbiner Berck Kofman« in der rue Ordener

»verheiratet mit einer Jüdin«.26 es werden sechs Kinder mit franzö-sischer Staatsbürgerschaft unter fünfzehn Jahren, für die Sorge zu tragen ist, aufgezählt: rachelle, geboren 1930, Chane, geboren 1932, dann Sarah, geboren 1934, und die Brüder Aron, 1936, Joseph, 1939, und schließlich der jüngste, Isaac, geboren 1940. Bei der Deportation des Vaters kommt dem jüngsten Bruder Isaac eine

Individuums auseinandergesetzt. Vgl. zu den Begriffen polis, oikos, agora und ekklesia vor allem folgende Texte: La polis grecque et la création de la démocratie (Castoriadis 1986: 325-382) und Pouvoir, politique, autonomie (Castoriadis 1990: 137-171).

26 »Weder religion noch ethnische Zugehörigkeit waren seit gut siebzig Jahren Bestandteil der Personendaten in Frankreich, auch wenn schon bei der Volkszäh-lung von 1941 einige noch unkomplette erhebungen über Juden gemacht worden waren. Mittels der Anordnung vom 27. September 1940 hatten die Deutschen eine Judenzählung in der Besatzungszone gefordert, und die französische Polizei hatte ohne umschweife mit der effizienten erstellung eines ›fichier complet des Juifs de Paris‹ [vollständiges register aller Pariser Juden] unter Aufsicht von André Tulard begonnen« (Marrus/Paxton 1981: 146). und weiter heißt es über dieses register, aus dem auch das mir vorliegende Datenblatt zu Berck Kofman entstammt und auf welchem handschriftlich seine Verhaftung am 16.7.1942 und unter der rubrik

»Spezielle Anmerkungen« der Transport am 29.7.1942 nach Auschwitz vermerkt ist: »Dieses register war vorbildlich in seiner effizienz und Organisation. es wurde permanent aktualisiert. Verschieden gefärbte Datenblätter trennten franzö-sische Juden von den übrigen. [] Die entwicklung dieses registers übertraf die Anordnungen der Deutschen aufgrund des bürokratischen Verwaltungseifers und der eingefleischten Bereitschaft der Polizei, Fremde aus der Nähe zu überwachen und zu kontrollieren. Die Deutschen hatten freien Zugang zum register und bedienten sich seiner nach der ersten Verhaftungswelle von 1 000 namhaften Juden am 12. Dezember 1941 vor allem nach Beginn der Deportationen von 1942« (ebd.: 341-342). Das Datenblatt N° 49826 befindet sich in den Fichiers Juifs, Archives Nationales du Marais, Paris.

entscheidende rolle zu. Als nämlich der Vater ›abgeholt‹ wird und sich im glauben, dadurch seine Familie zu schützen, dem Polizisten stellt, geschieht laut Autobiographie Folgendes:

»Vier uhr nachmittags. es klopft. Meine Mutter öffnet. ein Polizist mit verlegenem lächeln fragt: ›Herr rabbiner Bereck Kofman?‹ ›er ist nicht da‹, sagt meine Mutter. ›er ist in der Synagoge.‹ Der Polizist beharrt nicht. er will schon wieder weggehen. Da tritt mein Vater aus einem Zimmer, in dem er sich hingelegt hatte, und sagt: ›Doch, ich bin da. Nehmen Sie mich mit!‹ ›unmöglich, ich habe ein Kind auf dem Arm, das keine zwei Jahr alt ist!‹ sagt meine Mutter und zeigt ihm meinen Bruder Isaac. Dann fügt sie hinzu: ›Ich erwarte noch ein Kind!‹ und sie streckt ihren Bauch vor. Meine Mutter lügt! Mein Bruder war gerade am 14. Juli zwei Jahre alt geworden. und soweit ich weiß, war sie nicht schwanger! In diesem Punkt konnte ich nicht so sicher sein wie im ersten, doch ich fühlte mich sehr unwohl. Ich wusste damals noch nicht, was eine ›fromme lüge‹ ist (zu diesem Zeitpunkt nahm man Väter von Kindern unter zwei Jahren noch nicht mit, und wenn der Polizist leichtgläubig gewesen wäre, hätte mein Vater gerettet werden können), und ich verstand nicht genau, was vorging: die Vorstellung, dass meine Mutter lügen könnte, erfüllte mich mit Scham, und beunruhigt und verwirrt sagte ich mir, dass ich vielleicht doch noch ein Brüderchen bekommen würde.«

(Kofman 1995b: 12-13)

Der jüngste Bruder, gerade erst zwei Jahre geworden, war das Zünglein an der Waage. Ich werde auf ihn noch einmal zurück-kommen, wenn es um die albtraumhafte Flucht durch die rue Marcadet geht. Im Anhang zu Comment s’en sortir? von 1983 ana-lysiert Kofman nämlich nur die eine Wortsilbe des Straßennamens:

mar. Diese setzt sie in Verbindung mit der Wurzel des französi-schen Wortes für Albtraum: cauchemar. Die zweite Wortsilbe unterschlägt sie, sonst müsste sie über die rolle ihres cadet nach-denken. Denn das Wort bedeutet auf Deutsch der jüngste Bruder.

Hätte die razzia des 16. Juli 1942, die berüchtigten Rafles du Vél’

d’Hiv, nur zwei oder drei Tage früher stattgefunden, so wäre der Vater tatsächlich verschont geblieben – zumindest für dieses eine Mal.27 Nun war aber der Polizist leider nicht leichtgläubig, sondern bloß verunsichert:

27 Die rafle du Vélodrome d’Hiver ist die größte Deportation von Jüdinnen und Juden in Frankreich während des Zweiten Weltkriegs. Am 7. Juli 1942 machte

»er will keinerlei Verantwortung übernehmen und bittet meine Mut-ter, meinen Vater zur Polizeiwache zu begleiten, um erklärungen zu geben. Sie gehen. Wir stehen zu sechst auf der Straße und drängen uns schluchzend und heulend aneinander. Als ich zum ersten Mal in einer griechischen Tragödie das bekannte Wehklagen ›ô popoï, popoï, popoï‹ las, musste ich unwillkürlich an diese Szene aus meiner Kindheit denken, als sechs von ihrem Vater verlassene Kinder nur noch mit erstickter Stimme und in der gewissheit, ihn nie wieder zu sehen, schluchzen konnten: ›Oh Papa, Papa, Papa‹.« (ebd.: 13-14) Zurück bleiben sechs Kinder mit einer überforderten Mutter, die noch dazu kaum Französisch spricht. es gelingt ihr, die Kinder mithilfe jüdisch-kommunistischer Freundinnen auf dem land bei Merville zu verstecken, sie selbst kehrt nach Paris zurück in der Hoffnung auf Neuigkeiten von ihrem Mann. Ihre Tochter Sarah jedoch will unter keinen umständen von der Mutter getrennt wer-den. Als sie das unkoschere essen der französischen Bauern verwei-gert, wird sie zu einer gefahr, die die anderen geschwister verraten könnte. Die Mutter sieht sich gezwungen, Sarah zurück nach Paris zu holen. Noch einmal zurück in die rue Ordener. Dort erlebt Sarah Kofman eine kurze Periode glücklicher Zweisamkeit mit der Mutter:

»Von Merville zurückgekehrt, blieb ich zu Hause bei meiner Mutter.

Da ich nicht mehr zur Schule ging, spielte ich die lehrerin und

sich die ›technische Kommission‹ unter Darquier, Dannecker und Bousquet an die Ausarbeitung der Details. Die Deutschen forderten die Verhaftung von 28 000 Juden innerhalb von zwei Tagen in Paris und umgebung, wovon 22 000 deportiert werden sollten. »Die Operation ›Vent printanier‹ [›Frühlingsbrise‹] sollte schon eine Woche später beginnen. Nur in letzter Minute wurde das Datum abgeändert, um das störende Zusammenfallen mit dem 14. Juli [dem französischen National-feiertag, Anm.d.V.] zu verhindern; abgesehen davon schien alles bestens geregelt«

(Marrus/Paxton 1981: 351). Bei den razzien des 16. und 17. Juli 1942 wurden schließlich rund 13 000 Jüdinnen und Juden, davon über 4 000 Kinder, festge-nommen und ein Teil in die Pariser Wintersporthalle (Vélodrome d’Hiver) gepfercht, von wo aus sie über französische lager, insbesondere aber über Drancy im Norden der Stadt nach Auschwitz deportiert wurden. Von den 42 000 vorwie-gend staatenlosen und ausländischen Jüdinnen und Juden, die im Jahr 1942 vom Vichy-régime nach Auschwitz ausgeliefert wurden, kehrten nur 811 Menschen nach Kriegsende zurück. In diesem Zusammenhang sind folgende Standardwerke zu nennen: Serge Klarsfeld (1978): Le Mémorial de la déportation des Juifs de France, Paris; und das schon zitierte Werk von Michael Marrus/robert O. Paxton (1981/2004): Vichy et les Juifs, Paris.

brachte ihr (mit dem Schulbuch Antoine und Antoinette) französisch lesen und Schreiben bei. Zusammen verstrickten wir schlechte Wolle. Wie damals, als ich Mumps hatte und vierzig Tage lang nicht zur Schule gehen konnte, hatte ich meine Mutter wieder ganze Tage nur für mich allein.« (ebd.: 36)

Die anderen fünf geschwister bleiben außerhalb von Paris ver-steckt. Als eines Abends im Februar 1943 jemand zur Wohnung der Kofmans in der rue Ordener kommt und Mutter und Tochter vor einer erneuten razzia warnt, flüchten die beiden Hals über Kopf zur ›Dame aus der rue labat‹. Diese Frau wird Sarah

›Mémé‹, ›Omi‹, nennen.28 »Sie war eine frühere Nachbarin meiner eltern, als sie noch in der rue des Poissonniers wohnten. Meine Mutter war ihr auf der Straße aufgefallen, als sie in ihrem Kinder-wagen ›so niedliche, blonde Kinderchen‹ spazierenfuhr, und sie erkundigte sich immer nach unserer gesundheit« (ebd.: 42).

Sarah Kofman ist zum Zeitpunkt der Flucht acht Jahre alt. Die gefahren, die sie erlebt und auf die sie als Kind direkte körperliche reaktionen in Form von erbrechen zeigt, kehren in späteren Jahren in Albträumen wieder. Schon im vorangehenden Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass Kofman in ihrem Buch Comment s’en sortir? erstmals ein autobiographisches Fragment mit einem philo-sophischen Text verknüpft. Ich werde nun auf den Albtraum einge-hen und Kofmans eigene Traumanalyse um eine alternative Deu-tung ergänzen. Schon gut zehn Jahre vor ihrer Autobiographie lässt Kofman, so meine These, zwei konträre gesichter der Mutter durchblicken. es geht nicht nur um die Angst vor dem ›geholt-Werden‹ durch die gestapo, sondern auch um die Angst vor der Mutter selbst, vor ihren erzieherisch gemeinten Drohungen. Somit ergibt sich noch in der rue Ordener eine erste Verdoppelung des Topos ›Mutter‹, der in der rue labat die zweite Verdoppelung in Form von Mémé folgt.

Der scheinbar vom Haupttext des Buches unabhängige epilog trägt den Titel cauchemar . en marge des études médiévales – Alb-traum . Am Rand der Mittelalterstudien (Kofman 1983: 101; hier

28 Im Folgenden wird der französische Name Mémé, den Sarah Kofman der

›Dame aus der rue labat‹ gegeben hat, beibehalten anstatt der deutschen Überset-zung Omi.

und im Folgdenden e.Ü.). es handelt sich zunächst um einen Kom-mentar Kofmans zu einer linguistischen Studie von Bernard Cer-quiglini, welche die verlorengegangene Sprache des französischen Mittelalters im 13. Jahrhundert zum gegenstand hat. Für Kofman ist bedeutsam, dass die Partikel mar einen »unheimlichen rest aus einem anderen Zeitalter« darstellt und dass sich diese Partikel auch im französischen Wort für Albtraum cauchemar wiederfindet (ebd.:

103 ff.). Auf der Spur der Bedeutung von mar hebt Kofman hervor, dass es in der nicht-höfischen Dichtung des Mittelalters »das Zei-chen von Angst und Schwäche, von unmöglicher oder ungeteilter liebe« und von unglück ist (ebd.: 107). Diese negative Bedeutung verknüpft sich nun bei Kofman mit der erinnerung an den Alb-traum und eine verdrängte Vergangenheit – eine Vergangenheit,

»die zu einem ganz anderen Zeitalter, zu meinem Mittelalter gehört; sie ist erneut in einem Text aufgetaucht, der einem einzigar-tigen Code, einer völlig persönlichen Syntax und grammatik folgt.« Dieser Text ist ihr Albtraum, ein Traumtext:

»Ich bin in einem Zimmer meiner Kindheit, mit meiner Mutter, mei-nen Brüdern und Schwestern, in der Nacht. Kommt ein Vogel, eine Art Fledermaus mit menschlichem Kopf hereingeflogen und stößt laute Schreie aus: ›unglück über euch! unglück über euch!‹ Meine Mutter und ich, terrorisiert, fliehen. Wir sind tränenüberströmt in der rue Mar-cadet; wir wissen, dass wir in äußerster gefahr schwe-ben, wir befürchten sterben zu müssen. Ich erwache voller Angst.«

(Kofman 1983: 108-109; kursiv im Original)

Durch die albtraumhafte Straße, die rue Marcadet müssen Mutter und Tochter an jenem Februarabend 1943 fliehen. es ist die Straße, die eine Welt und ein Zeitalter mit einer anderen Welt und einem neuen Zeitalter verbinden wird. eine Straße, die weg von den gleisen des Nordbahnhofs führt, in dessen Nähe sich die rue Ordener befindet – weg von ihrem bisherigen leben. Die geschwis-ter bleiben weigeschwis-terhin getrennt von der Mutgeschwis-ter am land versteckt.

Sie sind zwischen zwölf und zweieinhalb Jahre alt. Nicht einmal den jüngsten Sohn holt die Mutter zu sich. Nur ihre Tochter Sarah hat als einziges Kind durchgesetzt, in Paris bei ihr bleiben zu dür-fen. Über Kofmans späteres Verhältnis zu den geschwistern verliert sie in ihrer Autobiographie kein Wort. laut Alexandre Kyritsos unterhielt sie ihr leben lang ein recht gutes Verhältnis zu ihren

Schwestern, insbesondere zur mittleren Schwester, die im Krieg den Decknamen Annette angenommen und behalten hat. Mit ihren Brüdern soll Kofman kein enges Verhältnis gehabt und den Kon-takt mit ihnen gemieden haben. Ihr jüngster Bruder Isaac hat sie um nur elf Jahre überlebt.

Auch wenn Sarah Kofman als Kind die Nähe und den ver-meintlichen Schutz der Mutter genießt, können ihre Ängste nicht mehr beruhigt werden, denn auch die Mutter ist angesichts des Deportationsterrors machtlos. Dies ist ein Schock für die Tochter, welche die Mutter als eine strenge kennt, was sich aus einem Kom-mentar Kofmans zu ihrem Albtraum erahnen lässt: Im Postskrip-tum zu diesem Albtraum assoziiert Kofman die Fledermaus mit der talmudischen Figur der lilith, der ersten rebellischen Frau vor eva, und mit einer weiteren Figur der jiddischen Folklore, dem Nachtvo-gel bzw. der Hexe Maredewitchale: »Diese andere Inkarnation von lilith hat mich während meiner Kindheit verfolgt: Wenn ich nicht brav war, hat mich meine Mutter in einer dunklen Kammer einge-sperrt, wo ›Maredewitchale‹ kommen und mich, wenn schon nicht verschlingen, so zumindest weit weg von zu Hause entführen würde: das war die Drohung« (Kofman 1983: 112).

Diese dunkle, bedrohliche Welt ihrer frühen Kindheit verlässt Sarah Kofman in dem Augenblick, als sie mit der Mutter bei der

›Dame aus der rue labat‹ Zuflucht sucht. Bis zu diesem ereignis war sie nur in der Schule mit der anderen, nicht-jüdischen Welt des republikanischen Frankreich in Kontakt gekommen. In der rue labat erfährt sie die französische lebensweise auf neue, ganz intime Art – dort wird Frankreich nicht mehr von einer Institution repräsentiert, sondern von einer jungen, liebevollen Witwe, die dem Bedürfnis des Kindes nach verständnisvoller Aufmerksamkeit ent-gegenkommt:

»[Meine Mutter] wusste genau, dass diese Frau Kinder sehr gern hatte (tagsüber hütete sie übrigens noch ein kleines Mädchen, Jeanine, auf die ich sehr bald eifersüchtig wurde), dass sie auch streu-nende Katzen aufsammelte, um sie zu füttern und zu streicheln, aber trotzdem! Warum küsste sie mich so oft? Beim Aufstehen, beim Schlafengehen, bei der geringsten gelegenheit! Bei uns zu Hause hatte es in der Tat weder regelmäßige Küsse am Morgen und am Abend, noch so viele umarmungen und Zärtlichkeiten gegeben.«

(Kofman 1995b: 53-54)

Das jüdische Mädchen wird schließlich von dieser französi-schen Dame als Tochter behandelt und sogar auf die Straße, also in die Öffentlichkeit geführt. Sie wird von ihr nach l’Haÿ-les-roses mitgenommen, wo Mémés weitläufige Familie lebt und bei Tisch mehrere generationen auf einmal zusammentreffen – von ihrer eigenen Familie kennt Kofman ja bis auf die eltern und die geschwister niemanden. Seit der emigration sei der Vater nur noch in Briefkontakt mit seiner in Polen gebliebenen Familie gestanden, bis eines Tages ein Brief mit dem Vermerk »Haus abgebrannt«

zurückkam (vgl. Kofman 1995b: 67). Die Ausflüge an den Famili-enort in der Nähe von Paris unternimmt Sarah Kofman allein mit Mémé, die Mutter muss versteckt zu Hause bleiben. Bei der rück-kehr von einem dieser Ausflüge aufs land versäumen die beiden die

zurückkam (vgl. Kofman 1995b: 67). Die Ausflüge an den Famili-enort in der Nähe von Paris unternimmt Sarah Kofman allein mit Mémé, die Mutter muss versteckt zu Hause bleiben. Bei der rück-kehr von einem dieser Ausflüge aufs land versäumen die beiden die

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