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Devenir-philosophe

Im Dokument Sarah Kofman (Seite 87-120)

II. fLuchTLInIEn

II.1. Devenir-philosophe

»Was uns in ein Werden hineintreibt, kann irgend etwas sein, etwas ganz unerwartetes oder unbedeutendes.« (Deuleuze/

guattari 2005: 397)

Das französische devenir ist wie im Deutschen ein hauptwörtlich gebrauchtes Verb. Das Werden steht als philosophisch-anthropolo-gischer Begriff in diesem Kapitel dem ontologischen Sein gegen-über. es bedeutet eine unaufhörliche Bewegung, die keinen eindeu-tigen ursprung und kein endgültiges Ziel kennt. Philosoph- bzw.

Philosophin-Werden kann eigentlich erst von diesem Bewegungsbe-griff ausgehend differenziert werden. Dabei ist festzuhalten, dass sich Sarah Kofman wahrscheinlich als Philosoph und nicht als Phi-losophin bezeichnet hätte, wäre Deutsch ihre Sprache gewesen.

Die Begriffe ›Fluchtlinien‹ und ›Werden‹ gehen in der hier gemeinten Form auf gilles Deleuze und Félix guattari zurück.

Allerdings scheint meine Verwendung dieser Begriffe teilweise der Definition zu widersprechen, die Deleuze und guattari im zweiten Teil von Kapitalismus und Schizophrenie geben. Denn dort beschreiben sie das rhizomatische Werden als »Anti-gedächtnis«

(anti-mémoire) (Deleuze/guattari 2005: 400).42 Das Werden kann sich quasi nicht selbst erinnern, es ist an keinem gedächtnispunkt festzumachen. Wie kann daher dieses Werden mit dem Projekt einer Biographie, die das Werden eines Menschen zu rekonstruieren versucht, in einklang gebracht werden?

Das Werden bei Deleuze/guattari hebt sich nicht nur vom iden-titätslogisch gedachten Sein der Metaphysik ab, sondern versucht auch jeglichem relationalen Denken, welches auf der Verbindung von Punkten beruht, ein völlig neues Modell gegenüberzustellen. In diesem Sinn widerspricht es scheinbar meinem Konzept einer Topo-logie, die ja auch als Vernetzung von topologischen Punkten ver-standen werden kann. Das Modell von Deleuze/guattari hingegen geht von der linie im gegensatz zum Punkt aus und von einer

vor-42 Im Übrigen findet sich auch schon im kurzen Text Rhizome, der später das Vorwort zu Mille Plateaux (1980) wurde, folgender Satz: »Das rhizom ist eine Anti-genealogie« (Deleuze/guattari 2005: 21).

wiegend politisch konzipierten und ständig in einem ungewissen Werden befindlichen ›Minderheit‹, die der statischen ›Mehrheit‹ des weißen, erwachsenen, vernunftbegabten Mannes eher zur Seite als gegenüber gestellt wird. Denn die ontologischen Attribute »Weißer-Mensch, erwachsener-Mann etc.« (ebd. 396) rufen sofort ihre gegenteile und somit den für das europäisch-westliche Denken konstitutiven Dualismus hervor. Dieses schematisch-dualistische Denken, das die ereignisse sofort einzuordnen weiß, gilt es in den Augen der beiden Autoren zu vermeiden. Denn von einem als

›Mehrheit‹ definierten zentralen Punkt aus wird geschichte geschrieben und gemacht, werden die Binaritäten verteilt: »männ-lich-(weiblich), erwachsener-(Kind), weiß-(schwarz, gelb oder rot), vernünftig-(Tier)« (ebd.: 398). Die linie, von der die beiden Auto-ren sprechen, verbindet keine Punkte zu ›Hybriden‹, sondern ver-läuft genau an den Punkten vorbei oder zwischen ihnen durch.

geschichte soll nicht mehr von einem zentralen Punkt, einer zentra-len Perspektive aus geschrieben werden. Insofern können Deleuze und guattari formulieren:

»ein Punkt ist immer ein ursprungspunkt. Aber eine linie des Wer-dens hat weder Anfang noch ende, weder Ausgangspunkt noch Ziel, weder ursprung noch Bestimmung. […] ein Werden ist weder eins noch zwei, noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die grenze oder Fluchtlinie, die Fallinie, die vertikal zu beiden verläuft. Das Werden ist ein Block (linien-Block), weil es eine Zone der Nachbarschaft und ununterscheidbarkeit bildet, ein Nie-mandsland, eine nicht lokalisierbare Beziehung, die die beiden ent-fernten oder angrenzenden Punkte mitreißt und den einen in die Nachbarschaft des anderen trägt – und die grenze-Nachbarschaft verhält sich zum Angrenzen ebenso gleichgültig wie zur entfernung.«

(Deleuze/guattari 2005: 400)

Wenn dieses Werden also eine nicht lokalisierbare Beziehung bedeutet, die zwei Punkte zwar irgendwie miteinschließt, ohne sie jedoch in eine direkte Beziehung zu einander zu setzen, stellt sich die Frage, wie dieses Werden überhaupt in Worte gefasst, wie es beschrieben werden kann. Deleuze/guattari geben dazu vor allem ein Beispiel, jenes von der Wespe und der Orchidee (vgl. ebd.: 20, 400). In einem Wechselspiel von Deterritorialisierung und reterri-torialisierung bilden Wespe und Orchidee eine Fluchtlinie des Wer-dens, ohne dass die eine völlig zur anderen wird. Die Orchidee

ver-führt gewissermaßen die Wespe, indem sie die Form einer Wespe nachahmt. Sie ›deterritorialisiert‹ sich. Die Wespe wiederum spricht auf diese Verstellung der Orchidee an und ›reterritorialisiert‹ sich auf ihr. gleichzeitig wird sie ein Bestandteil der reproduktion der Orchidee, indem sie deren Pollen weiterträgt, wenn sie wieder weg-fliegt. Deshalb sprechen die Autoren auch von einer ›Deterritoriali-sierung‹ der Wespe als Teil des reproduktionsapparates der Orchi-dee und einer ›reterritorialisierung‹ der OrchiOrchi-dee durch die Neuan-siedelung ihres Pollens. Dieses Beispiel macht vielleicht den logischen Hintergrund des rhizomatischen Werdens deutlicher.

Allerdings wirkt es bedenklich oder auch gefährlich, diese Begriff-lichkeit auf die Problematik des Minderheit/Mehrheit-Werdens von Individuen zu übertragen.

In einem kurzen gedankenexperiment soll dennoch dem Bei-spiel der Wespe und der Orchidee gefolgt werden. Denn Deleuze/

guattari sprechen auch vom ›Jude-Werden‹, ›Frau-Werden‹ und

›Kind-Werden‹ des Menschen (bzw. des Nicht-Juden, Mannes, erwachsenen). Der Mensch, so kann vielleicht verkürzt paraphra-siert werden, ist nicht, sondern wird und zwar in einem kontinuier-lichen Prozess, der von Flucht- bzw. Bruchlinien rhythmisiert wird.

Weiters unterscheiden die Autoren zwischen den erinnerungen, die ein Mensch von sich als Kind haben kann, und dem ›Kind-Werden‹

eines Menschen. Das bedeutet, dass der erwachsene Mensch immer auch gleichzeitig Kind ist, dass » ›ein‹ Kind [mit uns] koexistiert in einer Nachbarschaftszone oder einem Block des Werdens, auf einer Deterritorialisierungslinie, die uns beide fortträgt – im gegensatz zu dem Kind, das wir gewesen sind, an das wir uns erinnern oder das wir uns vorstellen […]« (Deleuze/guattari 2005: 401). Minori-tär-Werden bedeutet in dieser logik nicht, zahlenmäßig einer gruppe anzugehören, die der Mehrheitsgruppe untergeordnet wäre, sondern ist eine »aktive Mikropolitik« (ebd.: 397). ein Nicht-Jude kann deshalb Jude werden, ohne dass Deleuze/guattari damit eine reale Konversion zum jüdischen glauben meinen. es geht vielmehr darum, die eigene Zentralperspektive aufzugeben, geschichte nicht in der Absicht zu betreiben, die eigene Perspektive zur Mehrheitsperspektive zu machen, sondern sich die Perspektive einer Minderheit (Jude, Frau, Kind, Tier…) gewissermaßen ›anzu-eignen‹. Anstatt von Aneignung oder Identifizierung sprechen die

beiden Autoren von De- und reterritorialisierung wie im Beispiel von Wespe und Orchidee. Angewandt auf Sarah Kofmans Situation scheint nun auf den ersten Blick genau die umgekehrte Bewegung der Fall zu sein. Ihr Werden scheint ein Majoritär-Werden sein zu wollen: Sie kehrt sich vom minoritären Ostjudentum ab, vermischt sich mit Studierenden der Philosophie in einer vermeintlichen

›republik des geistes‹, von der Deleuze/guattari schreiben, dass sie Teil derselben staatlichen Mehrheitslogik ist, die nichts Neues her-vorbringt (vgl. ebd.: 40).43 Dieses Verhalten Kofmans, ihr devenir-philosophe, kann aber auch als Strategie der Camouflage gedeutet werden. Denn nicht nur die Nicht-Juden müssen Jude-Werden, son-dern auch die Juden selbst. Wie ist das zu verstehen?

»Das Jude-Werden, das Frau-Werden etc. umfassen also gleichzeitig eine Doppelbewegung: mit der einen entzieht sich ein Term (das Sub-jekt) der Mehrheit, mit der anderen tritt ein Term (das Medium oder der Träger) aus der Minderheit heraus. […] ein Subjekt des Wer-dens gibt es nur als deterritorialisierte Variable der Mehrheit, und ein Medium des Werdens gibt es nur als deterritorialisierende Variable einer Minderheit.« (Deleuze/guattari 2005: 397)

laut diesem Zitat funktioniert das Minoritär-Werden eines Subjekts nur, wenn sich dieses Subjekt von der Mehrheit, zu der es unter anderen Zugehörigkeiten auch gehört, deterritorialisiert, sich entzieht oder ›ausklinkt‹ und wenn auf der anderen Seite ein Medium, in dem dieses Werden möglich wird, zur Verfügung steht, welches sich seinerseits einer fixierten Minderheit entzieht.44 Im grunde folgen Deleuze/guattari hier der logik, die sie im Beispiel mit der Wespe und der Orchidee dargelegt haben. Beide Terme sind gewissermaßen aufeinander angewiesen, sind aber jeweils für sich

43 Tatsächlich kann es kein ›Majoritär-Werden‹ geben, da die beiden Termini miteinander inkompatibel sind, wie zum Beispiel Pelagia goulimari deutlich macht (vgl. goulimari 1999: 102 ff.).

44 Denn auch die Minderheiten können wie Mehrheiten funktionieren, sind nicht einfach dadurch, dass sie zahlenmäßig weniger sind, ein Werden: »Dennoch sollte man ›minoritär‹ als Werden oder Prozeß nicht mit ›Minorität‹ als gesamtheit oder Status verwechseln. Die Juden, die Zigeuner etc. können unter bestimmten Bedin-gungen Minoritäten bilden, doch das reicht nicht aus, daraus ein Werden [des devenirs] zu machen. Man reterritorialisiert sich in einer Minorität als Status oder läßt sich in ihr reterritorialisieren; aber man deterritorialisiert sich in einem Wer-den« (Deleuze/guattari 2005: 396).

doppelt, einmal ›eigenes‹ und einmal Teil des ›Fremden‹, dann wie-der ›Selbst‹ und ›Anwie-derer‹. Insofern ergibt sich aus dieser Denkfigur ein Chiasma.45

um beim Bild der sich kreuzenden Diagonalen zu bleiben, sei noch einmal auf den referenztext von Deleuze/guattari verwiesen, in dem von der ›Befreiung‹ der linie und auch der Diagonale die rede ist. Diese Befreiung besteht im neuerlichen Aufbrechen einer linie bzw. Diagonale, die zuvor gezogen wurde. Beispiele für sol-che Befreiungsversusol-che finden die beiden Autoren vor allem in der Musik und bildenden Kunst. Dabei meinen sie allerdings nicht irgendeine Musik, sondern speziell avantgardistische, serielle und experimentelle Musik, wie sie von Igor Strawinsky, John Cage, Pierre Boulez oder luciano Berio realisiert wurde. Als gestaltungs-mittel werden exemplarisch »die Chromatik, komplexe Agréments und Noten, aber auch schon alle Mittel und Möglichkeiten der Polyphonie, etc.« (Deleuze/guattari 2005: 405) genannt. An das musikalische gestaltungsmittel der Polyphonie möchte ich strate-gisch im Hinblick auf das Verfassen einer Biographie anschließen – viele Stimmen, verschiedene Stimmen, nicht aufeinander abge-stimmte Stimmen, die einander aber kreuzen können oder auch nur parallel verlaufen, ohne voneinander Notiz zu nehmen. Meine Stimme wird auf den kommenden Seiten immer wieder aufs Neue von anderen Stimmen durchbrochen. Die folgenden Fluchtlinien sind keinesfalls als geradlinige entwicklungslinien der Person Sarah Kofman zu verstehen, sondern als mögliche entwürfe eines Wer-dens, das Kafkas Kleiner-Werden nahe kommt.46

45 Vgl. zu diesem Begriff die Arbeit von Pechriggl 2006. Das Chiasma wird darin als »diagonale Überkreuzung zweier gegensatzpaare« definiert und als methodolo-gisches Analyseinstrument für Philosopheme von Sappho, Platon und Aristoteles eingesetzt. Pechriggl führt in der einleitung folgendes Beispiel an: »A=Selbst/

C=eigenes und B=Anderer/D=Fremdes): Die zuerst nicht verknüpften Termini (A-D und B-C) werden durch das Chiasma verbunden, also mittels Überkreuzung der beiden Achsen []. Dadurch wird die Planperspektive zu einer die je gültigen formalen gegensätze verbindenden sphärischen Perspektive, das heißt für unser Beispiel, dass auch die postulierten gegensätze zwischen Selbst und Fremdem auf-gehoben oder zumindest relativiert werden, was die Perspektive auf das eigene im Anderen bzw. das Fremde im Selbst bzw. im eigenen eröffnet« (Pechriggl 2006:

9-10).

46 Mit dem Kleiner-Werden bei Kafka spiele ich auf einen anderen Text von

gil-› E I n K I n d d E r r E P u b L I K ‹

»Also um wieder auf Sarah Kofman zurückzukommen: Sarah hatte keine Wahl. Die einzige Art durchzukommen war, an die universität zu gehen und in die Sorbonne reinzukommen. Sie hatte keine andere Wahl – aus einem jüdisch-polnischen Milieu stammend, als Überle-bende der Shoah, ihr Vater, der ermordet worden war, ihre Mutter, die sie [ihre Tochter, Anm.d.V.] nicht liebte…sie hatte keine Wahl.

[…] Das nennt man ein Kind der republik. Ja, man kann wirklich sagen, dass sie ein Kind der republik ist – während ich erst später kam und die Wahl hatte, das ist der unterschied.« (Interview Bonnet 2007: 13-14, Z. 49-11)

»Das taucht sehr klar in Rue Ordener, rue Labat auf: Sie ist trotz allem ein bisschen ein Kind der republik und, nun ja, eines, das auch dank einer gewissen republikanischen Idee studieren konnte. und das war ihr selbst auch komplett bewusst, schließlich war sie selbst – das ist ihre zutiefst nietzscheanische Seite – sehr anti-religiös.« (Interview Boullant 2007: 23, Z. 7-12)

Nachdem zwei Personen im Interview unabhängig voneinander den französischen Topos vom ›Kind der republik‹ aufgebracht hat-ten, befragte ich auch Kofmans langjährigen lebensgefährten Alex-andre Kyritsos dazu:

»Ja, der amtliche Fachausdruck dafür ist Mündel [pupille] der Nation. Das ist die Hilfe, die von der Nation den Kindern von [Kriegs]Opfern etc. zugute kommt. und ja, das gab es, aber in einem anderen Sinn war sie auch ein Kind der republik, weil sie ihr leben im unterricht verbrachte, sie war jemand, die sich vom unterricht ernährte, aber auf sehr wichtige Art und Weise – schon zu ihren Anfängen noch in der Volksschule. Die Beziehung, die sie mit ihren eltern unterhielt – diese Familie, in der die eltern untereinander Pol-nisch sprachen, wenn sie sich private Dinge zu sagen hatten, und die Jiddisch im Alltag sprachen und in der Schule wurde Französisch

les Deleuze und Félix guattari von 1975 an, Kafka . Für eine kleine Literatur.

Darin haben die beiden Autoren schon früh ein Konzept des Werdens und der Fluchtlinien entworfen. ›Klein‹ ist in Zusammenhang mit dem Konzept von Min-derheit zu setzen, allerdings darf eine MinMin-derheit nicht als Zustand, sondern soll als ein ›Minder-Werden‹ gedacht werden (vgl. die Anmerkung des Übersetzers Burkhart Kroeber zur unterscheidung von littérature mineure/majeure in Deleuze/

guattari 1976: 24). Die drei charakteristischen Merkmale einer kleinen literatur sind: »Deterritorialisierung der Sprache, Koppelung des Individuellen ans unmittel-bar Politische, kollektive Aussageverkettung« (ebd.: 27).

gesprochen – das ergab doch immerhin einen interessanten Cocktail.

und für sie war die republikanische Schule, die Kommunalschule gestaltgebend für etwas sehr Wichtiges. ebenso wichtig waren die verschiedenen lehrerinnen, die sie hatte. Ja, Sarah ist ein Kind der Schule in gewisser Weise – und ich sage das in dem Sinn, insofern ihr erfolg in der Schule und im Professor-Sein [être-prof] bestand. Das war doch ihr universum des lebens, der Intelligenz, des Begreifens der Dinge im Allgemeinen. und man kann aus einer Menge von gründen ein Musterschüler [élève modèle] werden, und sie hatte viele gründe, um noch mehr als ein Musterschüler zu werden.«

(Interview Kyritsos 2007: 11-12, Z. 32-8)

Flüchtete sich das Kind Sarah Kofman in die Konformität einer Musterschülerin oder versuchte sie zunächst nur, es den lehrerIn-nen recht zu machen, um ein bisschen Anerkennung und liebe zu erfahren, die ihr von der leiblichen Mutter verwehrt wurde? Viel-leicht kann ihr schulischer ehrgeiz als ein Symptom von liebes-mangel gedeutet werden. ebenso kann er einfach Zeichen einer Überlebensstrategie sein, die sich Kofman schon als Kind zurecht gelegt hat. Im Folgenden sollen einige Besonderheiten des französi-schen Schulsystems und Sarah Kofmans umgang mit ihnen anhand des Topos vom enfant de la république dargestellt werden. Schon der Vorteil, den sie gegenüber ihren eltern besaß, nämlich auch Französisch zu verstehen und zu sprechen, muss ihr die Bedeutung von Bildung bewusst gemacht haben. Auf jeden Fall war ihr ›Wille zum Wissen‹ schon früh ausgeprägt. Sie wollte nicht nur alles lesen und verstehen, sondern auch selbst schreiben und anderen so ihre Ideen mitteilen. ermutigt dazu wurde sie von Mémé und vor allem von einigen lehrerinnen, die sie in vielerlei Hinsicht unterstützten.

In ihrer Autobiographie nennt Kofman auch einige namentlich.

Zum Beispiel erzählt sie von ihrer Pariser Volksschullehrerin Fag-nard/Fagnart, die einmal Sarah mit der Mutter und den geschwis-tern bei sich versteckte.47 eine andere Passage, in der Kofman von ihrem Schulbesuch in Moissac nach ende des Zweiten Weltkriegs

47 Kofman gibt in ihrer Autobiographie die Wohnadresse dieser lehrerin an, die sie Madame Fagnard nennt. Ihr Name diente der Familie Kofman während der Okkupation auch als Deckname. Aufgrund der exakten Adresse konnten die Angaben überprüft werden: Der Name wurde von Kofman nur leicht abgeändert, lucie Fagnart hieß vor ihrer Heirat mit Paul Fagnart Wiedeman. Sie lebte nach ihrer Scheidung 1936 in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter Bertha

berichtet, bietet die Möglichkeit, Kofmans persönliche erinnerung an die staatliche unterstützung, die ihr nach Kriegsende zugute kam, dem Topos vom ›Kind der republik‹ gegenüber zu stellen:

»Nach unserer rückkehr [von einem neunmonatigen Aufenthalt in einem Sanatorium für Kinder aus Pariser Hospitälern in Hendaye, Anm.d.V.] schickte uns unsere Mutter nach Moissac, um uns wieder mit dem Judentum vertraut zu machen; es war ein Heim für Kinder, deren eltern deportiert worden waren, und das an der Pfadfinderbe-wegung orientiert und auf technische erziehung ausgerichtet war. Ich blieb fünf Jahre in le Moulin. ein ganzes Jahr lang weigerte ich mich, am gottesdienst und am gemeindeleben teilzunehmen. […] Die Bibliothekarin, Madame Cohn, eine bemerkenswerte Frau, gab mir die Schlüssel, so dass ich in der Bibliothek arbeiten konnte, dem einzigen raum, in dem es im Winter warm war, wenn ich den elekt-rischen Heizkörper einschaltete, denn die ziemlich kleinen Schlafzim-mer, die wir mit mehreren teilten, waren nicht geheizt.« (Kofman 1995b: 99-101)

Offenbar gab es für Kinder von deportierten jüdischen eltern bzw. elternteilen Internate, die sich die religiös-jüdische erziehung und reorientierung der häufig während der Okkupation katholisch getauften Kinder zur Aufgabe gemacht hatten. Sarah Kofman war laut Autobiographie der drohenden Taufe entgangen, indem sie aus dem Warteraum flüchtete, während ihre Mutter gemeinsam mit Mémé das Prozedere mit einem katholischen Priester besprach (vgl.

Kofman 1995b: 49). Nach fünf Jahren im Südwesten Frankreichs kehrte Kofman schließlich in die Sozialwohnung der Mutter nach Paris zurück, um in der Hauptstadt die letzten zwei Jahre bis zum Schulabschluss am lycée Jules Ferry zu absolvieren.48 Nur Mémé, mit der sie den Kontakt auch von Moissac aus über Briefe gehalten hatte, scheint sie bei dieser rückkehr an die Kommunalschule und in ihrer Absicht, die Aufnahmeprüfung an die École Normale Supérieure zu machen, tatkräftig unterstützt zu haben:

Wiedeman und ihrem 1920 geborenen Sohn lucien. Diese recherchen im Pariser Melderegister verdanke ich Jürgen Supthut.

48 Interessanterweise war Jules Ferry (1832-1893) als Ministerpräsident der Drit-ten republik u.a. für die einführung des unentgeltlichen, verpflichDrit-tenden und lai-zistischen grundschulbesuchs 1880 und für die errichtung der ersten staatlichen Mädchenschule verantwortlich.

»Dank Mémé, die meinem Philosophielehrer und der Direktorin des gymnasiums Jules-Ferry die Situation erklärt hatte, konnte ich trotz allem meine Studien abschließen. Ich war Stipendiatin mit Halbpen-sion und aß mittags im gymnasium; am Abend musste ich allerdings teuer für mein Beefsteak bezahlen! […] Meine Mutter schaltete mir abends früh das licht aus; ich erinnere mich, dass ich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke die Wege der Freiheit von Sartre gelesen habe. Nach diesen zwei Jahren hatte ich sieben Kilo abge-nommen und jegliche religiöse Praxis aufgegeben. Ich bekam ein vol-les Stipendium, wodurch ich beide Vorbereitungsklassen für die École Normale Supérieure machen und im Schülerinnenwohnheim der rue du Docteur-Blanche wohnen konnte: dort hatte ich zum ers-ten Mal ein Zimmer für mich allein.« (Kofman 1995b: 104-105) Dieser letzte Satz kann als Anspielung auf Virgina Woolfs essay A Room of One’s Own von 1929 verstanden werden, ist der Text doch ein Klassiker des Feminismus und auch nicht ohne Aus-wirkung auf französische Debatten um ein ›weibliches Schreiben‹, die écriture féminine.49 Andere Passagen der Autobiographie schil-dern ganz offen Kofmans ehrgeiz als Schülerin, die alles daran setzte, um vor den lehrerInnen mit Wissen und vor der Klasse mit Witzen zu brillieren (vgl. z.B. Kofman 1995b: 102). Schon als Kind und vielleicht aufgrund der erfahrung mit den erziehungsmethoden

»Dank Mémé, die meinem Philosophielehrer und der Direktorin des gymnasiums Jules-Ferry die Situation erklärt hatte, konnte ich trotz allem meine Studien abschließen. Ich war Stipendiatin mit Halbpen-sion und aß mittags im gymnasium; am Abend musste ich allerdings teuer für mein Beefsteak bezahlen! […] Meine Mutter schaltete mir abends früh das licht aus; ich erinnere mich, dass ich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke die Wege der Freiheit von Sartre gelesen habe. Nach diesen zwei Jahren hatte ich sieben Kilo abge-nommen und jegliche religiöse Praxis aufgegeben. Ich bekam ein vol-les Stipendium, wodurch ich beide Vorbereitungsklassen für die École Normale Supérieure machen und im Schülerinnenwohnheim der rue du Docteur-Blanche wohnen konnte: dort hatte ich zum ers-ten Mal ein Zimmer für mich allein.« (Kofman 1995b: 104-105) Dieser letzte Satz kann als Anspielung auf Virgina Woolfs essay A Room of One’s Own von 1929 verstanden werden, ist der Text doch ein Klassiker des Feminismus und auch nicht ohne Aus-wirkung auf französische Debatten um ein ›weibliches Schreiben‹, die écriture féminine.49 Andere Passagen der Autobiographie schil-dern ganz offen Kofmans ehrgeiz als Schülerin, die alles daran setzte, um vor den lehrerInnen mit Wissen und vor der Klasse mit Witzen zu brillieren (vgl. z.B. Kofman 1995b: 102). Schon als Kind und vielleicht aufgrund der erfahrung mit den erziehungsmethoden

Im Dokument Sarah Kofman (Seite 87-120)