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Beginnen

Im Dokument Sarah Kofman (Seite 172-0)

III. VErbIndunGSLInIEn

III.1. Beginnen

Kofmans Spuren führen über ihre Anfänge in Toulouse und die ers-ten unterrichtsjahre am Pariser lycée Claude Monet nun miters-ten in den Mai 68 hinein. Wie sah die re-Inszenierung des frühromanti-schen ›Bunds der geister‹ von Schelling, Hegel und Hölderlin im Frankreich der späten 1960er Jahre aus? Welche Menschen bilde-ten jene Allianzen in der französischen Metropole, die mittlerweile unter dem Überbegriff ›französische Postmoderne‹ in manche geschichtsbücher der Philosophie eingegangen sind?

»Ich weiß nicht, wann genau ich Sarah kennengelernt habe, aber ich bin mir sicher, dass ich sie durch Derrida kennengelernt habe, da ich weiß, dass ich Derrida zuerst kennengelernt habe. […] Derrida habe ich 69 kennengelernt und damals kannte er schon Sarah, das ist sicher, aber ich kann es nicht genauer sagen. Also 69 habe ich Der-rida kennengelernt, zuerst über Briefe, und dann haben wir ihn hier-her nach Strasbourg eingeladen zu einer Konferenz und danach begannen wir regelmäßigen Kontakt zu halten. und bei einer gele-genheit hat er mir Sarah vorgestellt – ich weiß nicht wann genau…

[K. F.: das ist nicht wichtig] doch…aber eigentlich ist es einfach: es war zwischen 69 und 72 – war sie nicht auch bei der Konferenz über Nietzsche in Cerisy, bei der großen Konferenz ›Nietzsche heute‹?«

(Interview Nancy 2009: 3, Z. 9-20)

Ja, dort war sie tatsächlich.70 Jean-luc Nancy versuchte sich im Interview an das exakte Datum zu erinnern, es gelang ihm aber nicht. Dafür erinnerte er sich umso genauer an das Jahr, in dem er Jacques Derrida persönlich kennengelernt hatte. eigentlich konnten sich alle meine InterviewpartnerInnen nicht mehr genau an Daten bzw. Jahreszahlen erinnern. Dieser umstand kann für eine Biogra-phin ärgerlich sein, vor allem weil es sich um hilfreiche eckpunkte handelt, die von keinem nationalen Archiv gespeichert werden.

gleichzeitig bedeutet es, dass die Versuche, sich des genauen Zeit-punkts zu entsinnen, dazu führen, dass wichtigere erinnerungsin-halte, wie zum Beispiel der erste eindruck u.ä., in den Hintergrund treten. Über den umweg des erinnerungsversuchs und des Schei-terns am liefern konkreter und korrekter ›Daten und Fakten‹

70 In Cerisy-la-Salle wurden seit Anfang des 20. Jahrhunderts Kolloquien zu Fra-gen zeitFra-genössischer Philosophie, Wissenschaft, Kunst und Politik abgehalten. Ich komme später ausführlicher auf diesen Ort und das Kolloquium zu Nietzsche zurück.

Sarah Kofman Anfang der 1970er Jahre

F O T O g r A F I e V O N A l e x A N D r e K Y r I T S O S

gelangten meine gesprächspartnerInnen dann meist doch recht schnell zu ihren eindrücken, Anekdoten und anderen erinnerungs-fragmenten. Nancys Zitat wurde von mir ausgewählt, weil er der letzte noch lebende Kollege Kofmans ist, der sie genau in dieser bewegten Zeit der späten 1960er Jahre und somit in Kofmans Anfangszeit als Philosophin in Paris kennengelernt hatte.

Jean-luc Nancy und Sarah Kofman bildeten kurz nach grün-dung des Verlags galilée 1971 gemeinsam mit Jacques Derrida und Philippe lacoue-labarthe, der wie Nancy an der universität Stras-bourg lehrte, das schon erwähnte Publikationskollektiv La philoso-phie en effet. eines der ersten Bücher, das von Michel Delorme 1973 in dieser reihe verlegt wurde, war Kofmans Camera obscura de l’idéologie. Allerdings publizierte das Kollektiv auch beim Ver-lag Aubier-Flammarion. Die Publikationsreihe existiert jedoch bis heute bei Delormes Verlag galilée. Voller enthusiasmus forderte die kleine gruppe Texte ein, die eine Philosophie en effet hervorbrach-ten. Das bedeutet, dass Philosophie eine Wirkung haben sollte, dass ein philosophischer Text zuerst genau auf seine internen und exter-nen Konsequenzen hin geprüft werden musste, aber auch dass spektakuläre ›effekte‹ nicht nur außerhalb der Philosophie zur Ver-schleierung von Machtdiskursen dienen, sondern auch und gerade durch die Philosophie gestützt werden. Weiters forderte das Kollek-tiv, wie auf allen Klappentexten der reihe zu lesen ist, dass die Phi-losophie keine transparente und schiedsrichterliche Neutralität mehr an den Tag legen, sondern zu ihren Waffen und ihrer Kriegs-strategie stehen sollte. ein gewisses revolutionär-romantisches Potenzial ist diesem französischen ›Bund der geister‹ wahrschein-lich nicht abzusprechen.71

Bevor Sarah Kofman als einzige Frau in diesen Kreis von Philo-sophen aufgenommen wurde, suchte sie nach ihrer rückkehr aus Toulouse 1963 und neben ihrer lehrtätigkeit am lycée Claude Monet wieder die universität auf. Sie begann ihre Thèse d’état unter der Betreuung des französischen Hegel-Spezialisten Jean Hyp-polite an der Sorbonne. Ihr Interesse, ja ihre Begeisterung für das kritische Denken Freuds und Nietzsches führten sie auch in die

71 Auf das Publikationskollektiv la philosophie en effet gehe ich im Kapitel Poly-phones Schreiben anhand eines Beispiels genauer ein.

Seminare des Psychoanalytikers André green, zu gilles Deleuze nach Vincennes und schließlich zu Jacques Derrida an die École normale supérieure. Derrida war dort seit 1965 Philosophie-Dozent. Wie schon erwähnt wurde, hatte Kofman die Aufnahme-prüfung an die eNS vor Beginn ihres Philosophiestudiums an der Sorbonne zwar versucht, aber nicht bestanden. Knapp zehn Jahre später kehrte sie als ›freie Hörerin‹ (auditeur libre) in die ›heiligen Hallen‹ der rue d’ulm beim Pantheon zurück. Auch bei Jean Hyp-polite an der Sorbonne dürfte sie einige zukünftige Kollegen ken-nengelernt haben, besuchten doch auch die um ungefähr zehn Jahre älteren gilles Deleuze, Michel Foucault, Jean laplanche, louis Alt-husser und schließlich der um nur vier Jahre ältere Jacques Derrida die Vorlesungen des Übersetzers von Hegels Phänomenologie des Geistes und experten in deutscher Philosophie.

Ihre Doktorarbeit wollte Kofman ursprünglich zum Begriff der Kultur bei Freud und Nietzsche schreiben. Ich habe im vorangehen-den Kapitel gezeigt, wie sie sich vom existenzialismus Sartres und vom Feminismus Beauvoirs aufgrund deren Ablehnung der Psycho-analyse wegbewegte und begann, sich zuerst Freud und in der Folge Nietzsche anzunähern. Jean Hyppolite hätte vielleicht ein ›Doktor-vater‹ werden können, gehörte der 1907 geborene doch der gene-ration von Kofmans leiblichem Vater an. Allein, Hyppolite verstarb schon 1968 – zu einem Zeitpunkt, als Kofman gerade erst einen Teil ihres Doktoratskonzepts in Form eines Artikels über Nietzsche publiziert hatte. Vielleicht aufgrund von Hyppolites Tod, vielleicht aufgrund des Wechsels zu gilles Deleuze kam es jedenfalls nicht zu dem ursprünglich geplanten Doktoratstext – Kofman nutzte statt-dessen die sich in den 1970er Jahren noch bietende Möglichkeit, ihr Doktorat durch eine thèse sur travaux, das heißt durch eine kumulative Dissertation zu erwerben. erst 1976 hielt sie an der reformuniversität Paris 8 in Vincennes ihre Verteidigungsrede. Zu diesem Zeitpunkt war sie schon seit fünf Jahren maître-assistant, also lehrbeauftragte, an der Sorbonne. Von ihrer Defensio gibt es ein Manuskript im Archiv des Institut Mémoires de l’édition con-temporaine (IMeC), leider schwer leserlich, ohne Typoskript und undatiert. Dennoch werde ich auch auf diese rede genauer einge-hen, da sie eine aufschlussreiche Selbstverortung der Philosophin

darstellt und ihr Verhältnis zu Autor(innen)schaft und Autorität erhellt.

Statt einer Doktorarbeit publizierte Kofman in den 60er Jahren zwei getrennte Artikel zu Nietzsche (1967) und Freud (1969), die sich auf die eine oder andere Art beide mit der Bedeutung von Kul-tur auseinandersetzen. Beide Artikel nehme ich zum Ausgangs-punkt, um Kofmans Begegnung mit diesen Autoren exemplarisch darzustellen. Beachtenswert ist Kofmans parallel verlaufende Beschäftigung mit Nietzsche und Freud, die sich durch ihr ganzes leben zieht. Ihr erstes Buch Die Kindheit der Kunst setzt sich hauptsächlich mit Freud auseinander und erschien erstmals 1970 im Verlag Payot. 1972 hielt Kofman dann ihren Vortrag bei der Konferenz von Cerisy über Nietzsche. Im selben Jahr erschien auch ihr erstes Nietzsche-Buch, Nietzsche et la métaphore, dem sie etli-che Thesen für ihre Defensio entnimmt. Die Verteidigung dieser Thesen, vermischt mit Thesen aus Die Kindheit der Kunst und anderen Texten, hält sie schließlich 1976. In weiterer Folge kulmi-nierte die Auseinandersetzung mit Freud und Nietzsche, Kofmans

›Übervätern‹, in dem doppelbändigen Werk Explosion I und II zu Nietzsches Autobiographie Ecce Homo (1992 und 1993). Dieser Arbeit widmet sie die letzten Jahre ihres lebens, und es ist nicht zuletzt diesen beiden Bänden zuzuschreiben, dass die französische Presse im Nachruf der Philosophin als »Nietzscheanerin und Freu-dianerin« gedachte (vgl. z.B. die Tageszeitung Libération vom 18.10.1994: Suicide de Sarah Kofman nietzschéenne et freudienne).

n I E T Z S c h E o d E r d I E m E T a m o r P h o S E n G o T T E S

Kofmans zweiter Artikel erschien wie ihr erster über Sartre in der Revue de l’enseignement philosophique. Der Titel dieser ersten Publikation über Nietzsche von 1967 lautet Métamorphose de la volonté de puissance du judaïsme au christianisme d’après

›L’Antéchrist‹ de Nietzsche (Verwandlung des Willens zur Macht vom Judentum zum Christentum nach Nietzsche: »Der Antichrist«, deutsche Übersetzung von Bernhard Nessler, vgl. Kofman 2002).

er wurde von Kofman in eines ihrer letzten Bücher, Le mépris des Juifs . Nietzsche, les Juifs, l’antisémitisme (Die Verachtung der Juden) von 1994, im Anhang aufgenommen. Sie verfährt dabei

ähnlich wie mit ihrem ersten Artikel von 1963: ebenfalls ans ende einer späten Buchpublikation gehängt wirken diese beiden Texte wie relikte aus einer untergegangenen Vergangenheit. und doch werden sie von der Autorin in ihren Textkorpus integriert. Der Zusatz, dass ›sie sich‹ in ihrem frühen Text zu Sartre ›nicht mehr wiedererkenne‹, findet sich allerdings in Bezug auf Nietzsche nicht.

Anscheinend versteht sie ihn 1994 als Teil ihres Textkorpus’, ja sogar als »eine erste, sehr alte Skizze für die aktuelle Arbeit« (Kof-man 2002: 43).

Die erste handschriftliche Version ihres Aufsatzes zu Nietzsches Der Antichrist liegt im Archiv des IMeC. Das Manuskript wurde im Jänner 1965 von Kofman »à mon petit minet« gewidmet – es ist nicht bekannt, wen sie mit diesem Kosenamen gemeint hat. Immer-hin kann dadurch die entstehung des Textes datiert werden (vgl.

Kofman 1965: KFM2.A18-05.01). Meine Auffassung von Kofmans Auseinandersetzung mit den Ideen Nietzsches und Freuds wird von folgender These geleitet sein: Im Versuch, ihre persönliche Vergan-genheit als verfolgte Jüdin mit der allgemeinen geschichte des 20.

Jahrhunderts und der philosophischen Kritik an den humanisti-schen Idealen der Aufklärung in einklang zu bringen, geht Kofman in die Vergangenheit des deutschen ›geisteslebens‹ zurück, um dort nach den gründen für den in Deutschland sich ausprägenden ras-sistischen Antisemitismus zu forschen. Nietzsche und Freud sind für sie dabei diejenigen Autoren aus der epoche des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die neben Karl Marx und Ferdinand de Saussure als paradigmatisch für den Bruch mit den Ideologien der europäischen Aufklärung gelten. In Kofmans Augen finden Nietzsche und Freud die richtigen Worte für die Malaise der zivilisierten Welt im späten 19. Jahrhundert. gleichzeitig gibt sie sich nicht mit einer bloß textimmanenten Kritik der beiden zufrie-den. Denn Kofman studiert auch intensiv deren zeitgenössische ein-flüsse wie zum Beispiel jenen von e.T.A. Hoffmann.

Ich fasse nun zuerst einige zentrale Punkte aus dem Nietzsche-Artikel von 1965/1967 ins Auge. Kofmans Verhältnis zu Nietzsche kann dabei nicht vollständig erläutert werden. Zu viele Teilaspekte, die sich durch ihr gesamtes Werk ziehen, müssten berücksichtigt werden. Deshalb konzentriere ich mich auf diesen wegweisenden Text sowie den darin zentralen Begriff der Metamorphose und

beziehe nur am rande spätere Texte Kofmans in die Analyse mit ein. Der nur wenige Seiten umfassende Artikel beschreibt Nietz-sches Neuinterpretation des Verhältnisses von Judentum und Chris-tentum in seinem Spätwerk Der Antichrist von 1895. Allerdings ist Kofmans ›resumé‹ zugleich Interpretation und Konstruktion eines anderen, neuen Textes. Diese Methode übernimmt sie von Freud und beschreibt sie 1973 in ihrem zweiten Buch über Freud, Quatre romans analytiques, folgendermaßen:

»Der rückgang auf den Text selber, in seiner gesamtheit, macht jedoch einsichtig, dass das Freudsche resumé nicht nur dazu dient, die nachlassende erinnerung des lesers aufzufrischen, sondern eine wohlbestimmte methodologische Funktion hat, dass es Möglichkeits-bedingung der Interpretation ist und zugleich deren Produkt.« (Kof-man 1993: 7)

Die Zusammenfassung eines anderen Textes ist demnach immer auch zugleich schon Interpretation. Ähnlich wie Freud mit literarischen Texten (z.B. mit Jensens Gradiva) verfährt Kofman nun mit Nietzsche: Der Artikel scheint Abschnitte aus Nietzsches Der Antichrist einfach zu referieren und erzählt zugleich eine andere geschichte. Der Titel ruft die Assoziation zu Ovids Meta-morphosen wach. Kofman erzählt demnach die geschichte von der

›Verwandlung‹ des Judentums in das Christentum. Angesichts ihrer Herkunft verwundert es nicht, dass Kofmans erster Zugang zu Nietzsche über dessen Begriff des Judentums führt. Auch angesichts der unterschiedlichen Versuche, Nietzsche als Antisemiten zu ver-einnahmen – allen voran sind hier Nietzsches Schwester elisabeth Förster-Nietzsche und die von ihr nach Nietzsches Tod 1906 her-ausgegebene Kompilation Der Wille zur Macht zu nennen – wird Kofmans Bemühen, Nietzsche als gegner des Antisemitismus seiner Zeit und geradezu als Philosemiten darzustellen, verständlich. Kof-mans Anti-religiosität und Atheismus, die im Interview mit Marie-Jo Bonnet thematisiert wurden, spielen hier ebenfalls eine rolle.

Dieses Misstrauen in die religion dürfte aufgrund Kofmans erfah-rung der antisemitischen Verfolgungen auch einen biographischen ursprung haben.

Ich gebe zu, dass ich mich lange gefragt habe, wie es Kofman anstellt, dass ihre Texte über Nietzsche resumé und Neukonstruk-tion zugleich sind. Die pointierte umdeutung gewisser

nietzscheani-scher erklärungsmuster gelingt ihr vor allem dadurch, dass sie deren Pathos entschärft und sich ›als jüdische leserin‹ zur Verbün-deten Nietzsches im Kampf gegen jegliche Form von Verblendung macht. Die Form der Paraphrase, der ›indirekten rede‹ erlaubt es ihr, Distanz zu Nietzsches Ausrufesätzen zu gewinnen. So vermit-telt zum Beispiel Kofmans Nietzsche et la métaphore, welches bis heute nicht auf Deutsch übersetzt ist, ein sehr anderes Nietzsche-Bild, als ich es aus eigener lektüre der deutschen Originaltexte gewonnen hatte. Vielleicht konnte ich mich dem ›deutschen Nietz-sche‹ auch nicht unbefangen nähern – zu präsent ist Nietzsches Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus, zu verworren scheint Nietzsches eigene Position zu ›Deutschtum‹, Frauen, Blut und Boden und dem Antisemitismus. Auch wenn es von Anfang an (und auch schon vor seinem Tod im Jahr 1900) kritische rezeptio-nen Nietzsches gegeben hat, kann ich mich eines inneren Wider-standes Nietzsche gegenüber nicht erwehren. So kann Der Anti-christ als ein Spätwerk gelesen werden, in dem der Autor auch seine eigene Metamorphose von einem anti-jüdischen über einen anti-christlichen zu einem anti-religiösen Menschen wenn schon nicht reflektiert, so doch ausbreitet. Nietzsches ›Fluch auf das Christentum‹ – so der untertitel – kann ganz allgemein als das Anprangern heuchlerischer Doppelmoral und jeder Form von poli-tisch-religiöser Manipulation verstanden werden. In dieser Hinsicht teile ich auch Kofmans Begeisterung für Nietzsche – gerade ange-sichts der nicht minder heuchlerischen 1950er und 60er Jahre in europa.

Ferner ist anzumerken, dass Kofmans Nietzsche-lektüre auch viele elemente der zeitgenössischen ›linken‹ und französischen Nietzsche-Interpretation integriert. Ihre ›entdeckung‹ Nietzsches schuldet daher sicher einiges ihrem zeitgenössischen umfeld in Frankreich. gerade gilles Deleuze und Michel Foucault beeinflus-sen die junge Philosophin. Nietzsche und die Philosophie von Deleuze erschien schon 1962 in Frankreich. ebenfalls hat Kofman 1969 im Seminar von Jacques Derrida an der eNS erstmals ihren entwurf zu Nietzsche et la métaphore vorgestellt (vgl. Kofman 1983c: 210). Kofmans Nietzsche-lektüre wird im Folgenden einem close reading unterzogen, wie sie es auch selbst betreibt.

In ihrem Artikel von 1965/67 stellt Kofman eingangs fest, dass die traditionelle religionsgeschichte den Übergang vom Judentum zum Christentum als ›historischen Fortschritt‹ beschreibe. Nietz-sches neuer Zugang bestehe nun darin, dass er sich nicht mehr der historischen, sondern einer psychologischen und typologischen Methode bediene. er schenke dem traditionellen Text der Bibel kei-nen glauben mehr, da er die Bibel als historische ›Fälschung‹ im Interesse der Priesterklasse entlarvt habe. In der Absicht, ihre eigene Machtposition im Christentum abzusichern, hätten die christlichen Priester ›die Juden‹ zu ihren Feinden erklärt. Nietzsches Blick richte sich laut Kofman auf die »Menschentypen und den jeweiligen Willen zur Macht, wie er von diesen Menschentypen repräsentiert und zur geltung gebracht« werde (vgl. Kofman 1994a: 86; e.Ü.). Das Christentum werde von Nietzsche als Wie-derholung des Judentums und keineswegs als historischer Fort-schritt gewertet. Daraus schließt Kofman, dass Nietzsche das Judentum höher bewertet als das Christentum. Das ist ein befremd-licher Kurzschluss, wenn man bedenkt, dass Nietzsche das Chris-tentum, gegen das er ins Feld zieht, aus dem Judentum ableitet. Auf dieser Interpretation bzw. Transkription Nietzsches baut nun Kof-mans weitere Argumentation auf.

So legt Nietzsche in Der Antichrist viel Wert darauf zu erklä-ren, wie es dazu kam, dass der ursprünglich starke, jüdische gott zu einem schwachen wurde. Zwei gründe nennt Nietzsche für den Niedergang des jüdischen Volkes, das seine ›Selbstbejahung‹

ursprünglich im ›Fest-Cultus‹ ausgelebt hätte: »Dieser Zustand der Dinge [starkes jüdisches Volk, Anm.d.V.] blieb noch lange das Ideal, auch als er auf eine traurige Weise abgethan war: die Anar-chie im Innern, der Assyrer von aussen« (Nietzsche 1888/1980:

193). Kofman deutet diese Aussage als eine historische erklärung, auf die Nietzsche hier noch statt auf eine ›typologische‹ zurück-greife. Aufgrund widriger historischer umstände, so versucht Kof-man Nietzsches Bibellektüre von einer Verfluchung des Christen-tums in ein lob des JudenChristen-tums umzudeuten, hätte das jüdische Volk seine Kraft und vor allem die Anlässe, Feste zu feiern, verlo-ren. Sie konkretisiert ihre eigene Interpretation, indem sie Nietzsche paraphrasiert:

»Nach der epoche der Könige ließen die innere Anarchie und von außen der Triumph der Assyrer die Juden nach und nach das Ver-trauen, das sie in ihren gott setzten, verlieren: Blieb er noch ihr gott, wenn er so das lager wechseln konnte? Von da an hätte sich der gedanke, von ihrem gott verlassen zu sein, durchsetzen müssen:

Aber die Juden veränderten nur die Konzeption, die sie sich von ihm gemacht hatten. […] So wurden gleichzeitig der Teufel und der

›liebe‹ gott [le ›Bon‹ Dieu] geboren: der eine als Symbol für eine finstere Macht, der andere als Symbol für die Ohnmacht einer Macht.« (Kofman 2002: 76)

um ihr Vertrauen in ihren starken gott nicht zu verlieren, hät-ten die Juden einen Trick angewandt: Die jüdische Priesterkaste veränderte die Konzeption eines einzigen starken gottes, indem sie ihn in einen guten und einen bösen gott aufspaltete. Was ändert Kofman nun an Nietzsches Darstellung, während sie seinen Text vorgeblich ›nur‹ zusammenfasst? Zuerst ändert sie die Abfolge von Nietzsches Argumentationsschritten und setzt diese im Verfahren der bricolage neu zusammen, vielleicht auch nur um zu kürzen.

Dabei legt sie jedoch ihr Augenmerk weniger auf Nietzsches Begriff des Christentums als auf den jüdischen Begriff gottes. Der Wille zur Macht sei laut Kofman in einer religiösen Weltsicht als Wille gottes zu deuten. eine ›typologische‹ Interpretation dieser genealo-gie des Willens zur Macht müsse sich, so Kofman, auf Menschenty-pen und deren unterschiedliche Begriffe von gott beziehen.

Kofmans Artikel webt Nietzsches Text neu: es geht ihr nicht wie Nietzsche um das Anprangern der christlichen Dekadenz, son-dern um die jüdischen Metamorphosen gottes. Diese gehen in ihren Augen mit einem ›typologischen‹ Wandel des Menschenbildes einher. Hier unterscheidet sich Kofmans ›Wille zum Wissen‹ auch grundlegend von jenem Michel Foucaults. Sie betrachtet nicht etwa das ›Dispositiv‹ der jüdischen und christlichen religion, sondern die sich wandelnden Konzeptionen der Identität gottes. Diese

›Identität‹ gottes wird von Kofman als menschliche Projektion auf gott gelesen. Ihre Auseinandersetzung mit Nietzsche wird also von

›Identität‹ gottes wird von Kofman als menschliche Projektion auf gott gelesen. Ihre Auseinandersetzung mit Nietzsche wird also von

Im Dokument Sarah Kofman (Seite 172-0)