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3   Analyse der aktuellen Ist-Situation, Handlungsfelder und

3.3   Diagnose und Therapie

3.3.2   Therapieleitlinien und Patientenpfade

Beschreibung der Ist-Situation

Therapieleitlinien und Patientenpfade nehmen im Bereich der evidenzbasierten Medizin eine immer wichtigere Rolle ein und werden für mehr und mehr Indikationen entwickelt. Die evidenzbasierte Medizin versucht die Wirksamkeit verschiedener Therapiemöglichkeiten durch Studien und Erfahrungswerte zu evaluieren. Therapie-leitlinien bauen auf der erfassten Evidenz auf und sollen auf diesem Wege einen in-dikationsspezifischen Therapieablauf gewährleisten, der basierend auf wissenschaft-lichen Erkenntnissen eine einheitliche und optimale Krankheitsbehandlung sicherstel-len soll. Es ist jedoch zweifelhaft, ob bei Seltenen Erkrankungen eine Erstellung von Therapieleitlinien durchgeführt werden kann und dieses ggf. sinnvoll ist. Auf Grund der geringen Fallzahlen ist eine Erfassung der Krankheitsverläufe und Therapiemaß-nahmen erschwert und die Evidenz über die Wirksamkeit vieler MaßTherapiemaß-nahmen äußerst gering. Es existieren zudem nur wenige spezialisierte Ärzte, die über spezifische Fachkenntnisse und einen großen Erfahrungsschatz verfügen. Viele Therapieleitli-nien müssten somit auf einer geringen Evidenz aufbauen. Ihre Erstellung stellt außerdem einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand dar. Unklar ist auch, wer entsprechende Leitlinien in der praktischen Tätigkeit entwickeln, lesen und

anwen-den würde. Es ist anzunehmen, dass die wenigen spezialisierten Ärzte bereits über ein großes Wissen und eine große Erfahrung verfügen und ein Austausch mit den anderen spezialisierten Medizinern besteht. Daher ist fraglich, ob Leitlinien in der Praxis angewendet werden würden.

Da die Zahl der Leitlinien in Deutschland besonders groß ist, gibt es Bemühungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaf-ten e. V. (AWMF), die Zahl der Leitlinien auf sog. „durchgängige“ PatienFachgesellschaf-tenpfade ein-zuengen. Ein klinischer Behandlungspfad (engl.: clinical pathway) ist in diesem Zu-sammenhang ein berufsgruppen- und abteilungsübergreifender Ablaufplan zur Durchführung der Diagnostik und medizinischen Behandlung bei festgelegter Behandlungsqualität, unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen sowie un-ter Festlegung der Verfahren/Prozesse und der angestrebten Ergebnisse (vgl. vertie-fend Dykes, P.C. (2002)). Ein klinischer Behandlungspfad steuert nicht nur den Be-handlungsprozess, er ist gleichzeitig das begleitende Dokumentationsinstrument und ermöglicht fortgesetzte Evaluation und Verbesserung. Klinische Behandlungspfade werden möglichst unter Berücksichtigung existierender medizinischer Evidenz und Leitlinien entwickelt. Auf diesen Patientenpfaden sind dann die kritischen Punkte, an denen eine leitlinienkonforme Handlungsweise (Diagnostik oder Therapie) erforder-lich ist, erkennbar und können dort auch im Sinne von detaillierten Leitlinien ausge-führt werden. Bei Seltenen Erkrankungen wird zu fragen sein, ob es ersatzweise einen Konsensfindungsprozess geben muss, der eine leitlinienentsprechende Rege-lung auch dann festschreibt, wenn ausreichende Evidenz hierfür nicht erreichbar ist.

Ergebnisse der Befragung

Von den befragten Akteuren wird die Entwicklung von Leitlinien und Patientenpfaden als wichtig und notwendig beurteilt. Knapp die Hälfte aller Teilnehmer ist der Ansicht, dass Patientenpfade anstelle von Leitlinien definiert werden sollten, wenn die umfas-sende Leitlinienerstellung aus wissenschaftlichen Gründen (mangelnde Evidenz) oder praktischen Erwägungen scheitert. 36 Prozent sind zudem der Ansicht, dass eine Entwicklung von Leitlinien bei Seltenen Erkrankungen genauso sinnvoll und notwendig ist wie bei häufigen Erkrankungen und der Leitlinienerstellung Priorität beigemessen werden muss. Nur ein sehr geringer Anteil der Befragten ist der Mei-nung, dass weder Leitlinien noch Patientenpfade notwendig sind oder auf Grund der

geringen Fallzahlen nicht erstellt werden können (vgl. Anhang 5.1.4, Tab. 48). Inner-halb der verschiedenen befragten Gruppen sind keine größeren Differenzen hinsich-tlich der Beantwortung auszuweisen (vgl. Anhang 5.1.4, Tab. 49).

Ergebnisse der Einzelinterviews und Fokusgruppendiskussion

Im Rahmen der strukturierten Interviews wurde festgestellt, dass die Entwicklung von Leitlinien für die Versorgung von Seltenen Erkrankungen sinnvoll sein könne. Thera-pieleitlinien könnten wahrscheinlich nicht bei allen Seltenen Erkrankungen entwickelt werden. Je seltener eine Erkrankung sei, desto geringer sei die Evidenz über die Be-handlungsmöglichkeiten. Deshalb könnten zunächst für die nicht sehr seltenen Er-krankungen Therapieleitlinien entwickelt werden, da hier ein Nutzen wesentlich leichter gezeigt werden könne. Aber auch bei einigen sehr seltenen Erkrankungen könne die Ausarbeitung von Leitlinien zweckmäßig sein. Durch Leitlinien könnte vor allem die Diagnose erleichtert werden. Im Vordergrund der Leitlinienerstellung bei Seltenen Erkrankungen solle nicht die Definition genauer Handlungsrichtlinien ste-hen, sondern es sollten Maßnahmen beschrieben werden, die den Patienten mög-lichst schnell in geeignete Einrichtungen überführten.

Die Fokusgruppe der spezialisierten Mediziner kam zu dem Schluss, dass Leitlinien und Patientenpfade die Versorgung einschließlich Diagnosestellung, Verlaufskontrol-le und Therapie verbessern könnten. Leitlinien seien sehr wichtig, da sonst nur unzu-reichende Therapiemöglichkeiten entwickelt werden könnten. Die umfassenden An-forderungen der AWMF an Leitlinien seien allerdings für viele Seltene Erkrankungen nicht zu erfüllen. Die Erstellung von Leitlinien könne in diesen Fällen zu aufwendig und kontraproduktiv sein. Patientenpfade, die möglichst umfassend das Versor-gungsspektrum abdeckten und in die sich viele Beteiligte einbrächten, seien positiv zu bewerten, wenn durch sie möglichst viel Wissen erfasst werde. Überdies sei die Integration von Seltenen Erkrankungen in Leitlinien für häufige Erkrankungen, bspw.

als Differenzialdiagnose, sinnvoll. Die Einbringung von Seltenen Erkrankungen in Symptom-Leitlinien weise ein ebenso großes Potenzial auf. Eine Dokumentation und Veröffentlichung der Behandlungsstandards solle durch krankheitsspezifische Netz-werke erfolgen. Die am Netzwerk beteiligten Referenzzentren sollten für die Leitli-nienerstellung verantwortlich sein. In den Leitlinien solle Bezug auf die medizinischen Fachgesellschaften genommen werden. Die medizinischen Fachgesellschaften seien

jedoch nicht zwingend am Prozess der Leitlinienerstellung zu beteiligen, sondern sollten allgemeingültige Standards für die Erstellung von Leitlinien bei Seltenen Er-krankungen entwickeln. Die in den Referenzzentren entwickelten Leitlinien sollten aktiv verbreitet werden. Aus diesem Grund sollten sie frei zugänglich sein. Da sich Primärversorger nicht ausreichend über Leitlinien informieren könnten, solle sich das Leitlinienangebot insbesondere an spezialisierte Leistungserbringer und „Case-Manager“ richten, die für die Koordination der Gesamttherapie von Seltenen Erkran-kungen zuständig seien.

In den Fokusgruppen der Patientenorganisationen und öffentlichen Organisationen wurden keine expliziten Meinungen zu diesem Themenbereich erhoben.

Handlungsfelder und Lösungsszenarien

Die Erstellung von Leitlinien zur Diagnostik und Therapie sowie eine Sammlung von Referenzfällen können die zukünftige Versorgung von seltenen Leiden nachhaltig verbessern (vgl. Pommerening, K. / Debling, D. / Kaatsch, P. et al. (2008), S. 494) bzw. die Evidenz bestehender Leitlinien wesentlich erhöhen. Leitlinien bzw. Patien-tenpfade für Seltene Erkrankungen sollten auch aus Sicht der Befragten gebildet und implementiert werden. Es sollte jedoch hierbei krankheitsindividuell abgewogen werden, welches Instrument jeweils vorteilhafter bzw. praktikabler ist.

Eine praktische Umsetzung von Leitlinien erfolgt bei Seltenen Erkrankungen bis dato jedoch nur sehr bedingt (vgl. Weller, K. / Vetter-Kauzcok, C. / Kähler, K. et al. (2006), S. A2792-A2796). Ein Konzept für die Leitlinienerstellung bzw. Etablierung von Pa-tientenpfaden sollte daher den krankheitsspezifischen Aufwand und Nutzen berück-sichtigen sowie definieren, welchen Standards Leitlinien für Seltene Erkrankungen zu genügen hätten, wer für die Entwicklung von Leilinien bzw. Patientenpfaden zustän-dig sein sollte und wie eine spätere Umsetzung in der Praxis gewährleistet werden könnte. Gerade bei sehr seltenen Erkrankungen könnte eine Leitlinienerstellung nicht möglich sein, es sollte jedoch auch hier versucht werden, einfache Patientenpfade zu definieren, die zumindest eine zeitnahe Behandlung in einer kompetenten Versor-gungseinrichtung sicherstellen.

Der zeitliche und finanzielle Aufwand zur Erstellung von Leitlinien, die von der AWMF akzeptiert werden, ist erheblich. Bei begrenzten personellen Ressourcen (wenige Spezialisten) ist die Herstellung eines formalisierten Konsenses allerdings kaum möglich. Besser erscheint die grundsätzliche Beteiligung der Spezialisten für Seltene Erkrankungen an der Herstellung allgemeiner Leitlinien mit dem Ziel, dass in allen Leitlinien in angemessener Weise auf Seltene Erkrankungen verwiesen wird, die in irgendeiner Beziehung zu den in der Leitlinie adressierten Beschwerden, Befunden oder Krankheitsbildern stehen.

Zwar ist eine evidenzbasierte Therapie auch bei Seltenen Erkrankungen anzustre-ben. Allerdings ist hier - wie auch bei den Volkskrankheiten - der Begriff der evidenz-basierten Medizin als Integration kollektiven und individuellen Wissens zu verstehen.

Wo möglich, ist die Schaffung von Evidenz durch klinische Studien oder zumindest durch systematische Beobachtungen zu unterstützen (siehe Kap. 3.5.2). Die Formu-lierung von Leitlinien oder Patientenpfaden ist sinnvoll, wenn systematische Evidenz (verschiedener Evidenzstufen) vorliegt und durch ihre Zusammenstellung und Be-wertung eine bessere Versorgung des Patienten erreicht werden kann. Dabei ist eine kritische Balance zwischen dem Wunsch, dem Nutzen und dem Aufwand für die Er-stellung solcher Instrumentarien zu wahren. Es zeigt sich aber nicht selten, dass ge-rade der Weg zu einer Leitlinie oder einem Patientenpfad nützlich ist, um bestehen-des Wissen zu erschließen und für eine Verbesserung der Patientenversorgung zu-gänglich zu machen. Möglicherweise sollte in diesem Zusammenhang ein allgemei-nes Konzept für die Entwicklung von Leitlinien bei Seltenen Erkrankungen entwickelt werden, welches den speziellen Anforderungen der Seltenheit gerecht wird, aber doch eine möglichst hohe Evidenz sicherstellt. Innerhalb dieses Projekts könnten ebenfalls Maßnahmen entwickelt werden, wie Seltene Erkrankungen verstärkt im Bereich der Differenzialdiagnostik von Leitlinien für häufigere Erkrankungen und in Symptomleitlinien berücksichtigt werden könnten, ohne die Komplexität dieser Leitli-nien unverhältnismäßig zu erhöhen.

Die Entwicklung von krankheitsspezifischen Leitlinien bzw. Patientenpfaden sollte durch die Institutionen mit der umfangreichsten Kompetenz durchgeführt werden. Die krankheitsspezifischen medizinischen Netzwerke und insbesondere die spezialisier-ten Referenzzentren scheinen hierfür die besspezialisier-ten Voraussetzungen zu biespezialisier-ten. Um

eine möglichst praxisnahe Formulierung dieser Leitlinien zu gewährleisten, sollte sich das Leitlinienangebot an spezialisierte bzw. kompetente Leistungsanbieter richten und nicht zwingend an die Primärversorger. Leitlinien bzw. Patientenpfade sollen in der Primärversorgung hauptsächlich eine schnelle Überweisung in geeignete Spezi-alambulanzen sicherstellen. Die SpeziSpezi-alambulanzen sollen sich jedoch bei der Therapie an Leitlinien bzw. Patientenpfaden orientieren. Hierbei ist zu überlegen, ob die Leistungsvergütung nicht an die Einhaltung von Leitlinienstandards gekoppelt werden könnte und auf diesem Wege eine qualitätsgesicherte Therapie sicherzustel-len ist (siehe Kap. 3.1.4).