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3   Analyse der aktuellen Ist-Situation, Handlungsfelder und

3.2   Spezialisierte Versorgungsformen bei Seltenen Erkrankungen

3.2.4   Gemeinsame Versorgung – Shared Care

Beschreibung der Ist-Situation

Auf Grund der Komplexität und Chronizität vieler Seltener Erkrankungen bestehen Therapien häufig aus vielfältigen interdisziplinären Behandlungsmaßnahmen, die sowohl kompliziert bzw. spezialisiert als auch einfach bzw. routinemäßig durchzufüh-ren sein können und regelmäßig erbracht werden müssen. Um eine hohe Be-handlungsqualität zu gewährleisten, können die diffizilen Maßnahmen in vielen Fäl-len nur von spezialisierten und kompetenten Einrichtungen durchgeführt werden. Ein entsprechendes krankheitsspezifisches Wissen und Erfahrungen werden vorwiegend in Einrichtungen mit spezialisierten Ärzten vorzufinden sein, d. h. im Regelfall in Re-ferenzzentren oder Spezialambulanzen. Diese spezialisierten Institutionen werden jedoch bei den meisten Seltenen Erkrankungen relativ selten sein und weit entfernt vom Wohnort der Betroffenen liegen, die deswegen hohe Zeit- und Reisekosten auf sich nehmen müssen, um sich behandeln zu lassen.

Viele notwendige ärztliche und nicht-ärztliche Therapieleistungen sind jedoch auch von verhältnismäßig einfacher Natur und benötigen daher nicht zwingend eine hohe

Spezialisierung des Leistungserbringers. Durch den regelmäßigen und umfassenden Behandlungsbedarf vieler chronischer Seltener Erkrankungen können Shared-Care-Modelle, d. h. die arbeitsteilige Zusammenarbeit zwischen Primärversorgern und Spezial- bzw. Referenzzentren, bei der eine genau definierte Delegation bestimmter Aufgaben erfolgt, eine ganzheitliche Therapie von Seltenen Erkrankungen ermög-lichen. Zudem können Kosten und Belastungen der Therapie gesenkt werden, indem die erbrachten Leistungen bestmöglich auf verschiedene Leistungserbringer verteilt werden und eine enge Zusammenarbeit unter Nutzung der jeweiligen Kompetenzen ermöglicht wird. Schon auf Grund der großen Entfernungen sind Shared-Care-Modelle bei der Versorgung Seltener Erkrankungen in Skandinavien üblich. Es könn-te daher zweckmäßig sein, die Erfahrungen aus anderen Ländern auch für die Ver-sorgungsstrukturen bei Seltenen Erkrankungen in Deutschland zu nutzen.

Ergebnisse der Befragung

Shared-Care-Modelle können verschiedene Elemente enthalten, die für die Versor-gung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen eine unterschiedliche Relevanz auf-weisen können. Für die befragten Personen ist das wichtigste Element eines Shared-Care-Modells für Seltene Erkrankungen eine Zusammenarbeit von einem Referenz-zentrum mit einem oder mehreren mitversorgenden Einrichtungen bzw. Personen.

Als ebenfalls sehr wichtiges Kriterium wurde genannt, dass die mitversorgende Ein-richtung den Therapieempfehlungen des Referenzzentrums folgen sollte. 70,9 Pro-zent der Befragten waren darüber hinaus der Ansicht, dass die Diagnosestellung und Behandlungseinstellung in einem Referenzzentrum erfolgen sollte. Ein gemeinsames Qualitätsmanagement der beteiligten Einrichtungen und eine regelmäßige Vorstel-lung des Patienten im Referenzzentrum werden auch als relativ wichtige Elemente eines Shared-Care-Modells angesehen. Ein Management von akuten, aber weniger gravierenden Problemen bei niedergelassenen Medizinern, eine Zusammenarbeit von verschiedenen Einrichtungen in einem Qualitätszirkel und eine ausschließliche Vorstellung des Patienten im Referenzentrum bei Notfällen oder für spezialisierte Behandlungen werden von den Befragten als weniger wichtige Elemente einer ge-meinsamen Versorgung angesehen (vgl. Anhang 5.1.4, Tab. 30). Die Bedeutung der Zusammenarbeit von verschiedenen Einrichtungen in einem Qualitätszirkel wird von den verschiedenen befragten Personengruppen unterschiedlich bewertet. Über die Hälfte der befragten Patientenorganisationen sehen dieses Merkmal einer

gemein-samen Versorgung als wichtiges Kriterium an (vgl. Anhang 5.1.4, Tab. 31). Insbe-sondere die befragten Leistungserbringer und Forscher geben diesem Element jedoch nur eine geringe Bedeutung. Im Gegensatz zu den anderen befragten Perso-nengruppen (Ø 17,1%) bewerten 41,2 Prozent der befragten Kostenträger eine aus-schließliche Vorstellung des Patienten im Referenzentrum bei Notfällen oder für spe-zialisierte Behandlungen als wichtiges Element eines Shared-Care-Modells (vgl. An-hang 5.1.4, Tab. 32).

Nach Ansicht der befragten Personen kann eine gemeinsame Versorgung von Pa-tienten vielfältige Ziele bedienen. Ein Großteil der Befragten sieht das Potenzial von Shared-Care-Modellen insbesondere im Bereich einer medizinisch höherwertigen Versorgung, einem leichteren Transfer neuer Erkenntnisse in therapeutische Maß-nahmen, einer Einhaltung von Qualitätsstandards und einer Implementierung von festen Ansprechpartnern für die Patienten. Ein etwas geringeres Potenzial (51,9%) wird Shared-Care-Modellen in Bezug auf die Umsetzung einer kostengünstigen sorgung zugeschrieben. Für 40 Prozent der Befragten kann eine wohnortnahe Ver-sorgung und eine gute Erreichbarkeit der Leistungserbringer durch Modelle der ge-meinsamen Versorgung sichergestellt werden. Die befragten Patientenorganisatio-nen und OrganisatioPatientenorganisatio-nen sowie Leistungserbringer antworteten relativ einheitlich. Ei-ne wohnortnahe Versorgung kann vor allem aus Sicht der befragten Leistungserbrin-ger durch eine gemeinsame Versorgung erreicht werden (62,5%). Für lediglich 35,3 Prozent der befragten Kostenträger (Gesamt: 70,3%) kann durch Shared-Care-Modelle eine Implementierung eines festen Ansprechpartners für die Patienten ge-währleistet werden (vgl. Anhang 5.1.4, Tab. 35). Im Rahmen der freien Antwortmög-lichkeiten wurde als weiteres Ziel von Shared-Care-Modellen eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für klinische Studien angegeben. Als weiteres wichtiges Ele-ment einer gemeinsamen Versorgung sollten Konsultationen des Referenzzentrums durch den Hausarzt finanziell honoriert werden. In der Aus-, Fort- und Weiterbildung der Primärärzte sollte ebenfalls auf die Notwendigkeit einer frühzeitigen und zielge-richteten Überweisung hingewiesen werden, da für die Therapie stets Fachärzte mit großer Erfahrung nötig seien.

Ergebnisse der Einzelinterviews und Fokusgruppendiskussion

Innerhalb der Fokusgruppendiskussion der spezialisierten Ärzte wurde festgestellt, dass für die Versorgung von Seltenen Erkrankungen vielfältige Versorgungseinrich-tungen und eine Koordination der Gesamttherapie notwendig seien. Aus diesen Gründen könnte für die Therapiekoordination die Berufung eines „Vertreters“ für die Patienten und betroffenen Familien zielführend sein. Diese Aufgabe könnte der eines

„Case-Managers“ ähnlich sein, der die Komplexität der jeweiligen Seltenen Erkran-kung überblicken und die Gesamttherapie koordinieren müsse. Fraglich sei hierbei, auf welcher Ebene des Versorgungsgeschehens ein solcher „Case-Manager“ ver-ordnet sein solle. Kontrovers wurde diskutiert, ob ein solcher Manager auf Ebene eines Referenzzentrums, mit dem Vorteil einer hohen krankheitsspezifischen Exper-tise sowie Erfahrung oder auf Ebene des Hausarztes/Kinderarztes, mit dem Vorteil einer Wohnortnähe zum jeweiligen Patienten, angesiedelt sein solle. Unstrittig war, dass ein solcher Hausarzt durch ein Shared-Care-Modell mit einem Referenzzentrum verbunden sein solle bzw. ein reger Informationsaustausch notwendig sei. Als prob-lematisch wurde jedoch die dürftige Kommunikationskultur im deutschen Gesund-heitswesen und hieraus entstehende Informationsprobleme gekennzeichnet. Eine Lösungsmöglichkeit hierbei könne die Implementierung eines „Global-Case-Managers“ auf Ebene eines Referenzzentrums, mit entsprechend großer Expertise und Erfahrung und eines „Personal-Case-Managers“, der in direktem Patientenkon-takt stehe, sein.

Die Fokusgruppe der Patientenvertreter äußerte sich ebenfalls positiv über Shared-Care-Modelle und kam zu dem Ergebnis, dass eine gemeinsame Versorgung von Patienten durch verschiedene Leistungserbringer vor allem eine medizinisch höher-wertige Versorgung in Wohnortnähe und einen leichteren Transfer neuer Erkenntnis-se in die Therapie ermöglichen könne. Shared-Care-Modelle könnten für viele Selte-ne Erkrankungen erstmals eiSelte-ne kompetente wohnortnahe Versorgung ermöglichen.

Eine wohnortnahe Versorgung durch Primärversorger, mit entsprechenden Vergü-tungsanreizen (Abrechnung nur in Zusammenarbeit mit der spezialisierten Einrich-tung) und einer Kooperation mit einem Referenzzentrum, wäre hierfür notwendig.

Der ambulante Pflegedienst solle ebenfalls in Shared-Care-Modellen Berücksichti-gung finden. Eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung aller am Verbund beteilig-ten Leistungserbringer sei für den Erfolg von Shared-Care-Modellen maßgebend.

In der Fokusgruppe der öffentlichen Organisationen wurden keine expliziten Meinun-gen zu diesem Themenbereich erhoben.

Handlungsfelder und Lösungsszenarien

Einer gemeinsamen Versorgung von Patienten durch Shared-Care-Modelle wird ins-gesamt ein hohes Potenzial zugeschrieben. Auf Grund der Seltenheit vieler Erkran-kungen lassen sich viele spezialisierte Versorgungsleistungen mit einer hohen Quali-tät nur durch eine Bündelung von Patienten realisieren. Eine Zentralisierung ausge-wählter Versorgungsleistungen in bestimmten Einrichtungen erscheint somit sinnvoll, verursacht jedoch insbesondere für die Betroffenen hohe Kosten und Belastungen.

Für bestimmte Teilbereiche der Versorgung kann daher eine Leistungserstellung in dezentralen Strukturen vorteilhafter sein (siehe Kap. 3.2.2). Shared-Care-Modelle können somit potenziell die Qualität und Effektivität der Versorgung durch eine ziel-gerichtete Steuerung der Patienten in die jeweils geeigneten Versorgungsstrukturen verbessern. Eine spezialisierte Therapie in wohnortfernen Einrichtungen, bei der gleichzeitig einfache Behandlungsschritte von wohnortnahen Leistungserbringern durchgeführt werden, kann hierdurch grundsätzlich ermöglicht werden. Ein Spezial-zentrum steht dabei in enger Abstimmung mit einer assoziierten peripheren Ambu-lanz, die zum einen für die Durchführung der durch das Spezialzentrum bestimmten Therapie zuständig ist und zum anderen den Patienten bei einer kritischen Veränder-ung des Zustands schnell untersucht und die Ergebnisse zur weiteren AbklärVeränder-ung und für therapieleitende Entscheidungen an das Spezialzentrum übermittelt. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Spezialambulanzen bzw. Referenzzentren und mitver-sorgenden Leistungserbringern ist somit ein zentrales Element eines Shared-Care-Modells und für ein anzustrebendes gemeinsames Qualitätsmanagement von grund-legender Bedeutung. Eine höherwertige medizinische Versorgung durch einen hohen Patientennutzen könnte auf diesem Wege erreicht werden.

Die Behandlungseinstellungen und bedeutsamsten Therapiemaßnahmen sollten von spezialisierten Ärzteteams bzw. von Spezialambulanzen oder Referenzzentren durchgeführt werden. Hausärzte sind somit zum einen für eine schnelle und zielge-richtete Überweisung zu spezialisierten Versorgungseinrichtungen und zum anderen für die Erbringung verhältnismäßig einfacher und routinemäßiger bzw. wiederkeh-render Behandlungsbestandteile, nach Anweisung der spezialisierten und

koordinie-renden Einrichtung, relevant. Sie sind jedoch auch als Vertrauensperson und An-sprechpartner für die Patienten und ihre Familien sowie für die Behandlung anderer gesundheitlicher Probleme grundsätzlich sehr bedeutend (vgl. Knight, A. W. / Senior, T. P. (2006), S. 83). Die wohnortnah erbrachten Leistungen sollten nach An-weisung der spezialisierten Einrichtung auszuführen sein. Bei vielen Erkrankungen sind darüber hinaus pflegerische und rehabilitative Leistungen für einen Therapieer-folg essentiell. Eine enge Kooperation zwischen der spezialisierten Einrichtung, rehabilitativen Leistungserbringern und dem ambulanten Pflegedienst ist deshalb für eine qualitätsgesicherte und dem Behandlungsziel dienliche Therapie notwendig. Es sollte zudem krankheitsspezifisch bestimmt werden, ob eine Vorstellung oder Be-handlung des Patienten in Spezialambulanzen bzw. Referenzzentren regelmäßig stattfinden sollte oder ob eine Vorstellung nur bei Notfällen oder einer Veränderung des Gesundheitszustandes anzustreben ist.

Die Koordination von komplexen Therapien bei Seltenen Erkrankungen ist von gro-ßer Wichtigkeit für den Behandlungserfolg. Versorgungskonzepte für Seltene Erkran-kungen sollten daher eine Institution im Versorgungsgeschehen für die Erkrankungs-koordination vorsehen. Diese Institution bzw. der betreffende Mediziner könnte die Funktion eines „Case-Managers“ übernehmen. Auf diesem Wege könnte die Ge-samttherapie kompetent koordiniert und ein fester Ansprechpartner für die Betroffe-nen implementiert werden, der den jeweiligen Behandlungsablauf entsprechend der individuellen Bedürfnisse der Patienten adjustieren könnte. Es müsste hierbei krank-heitsspezifisch entschieden werden, auf welcher Ebene des Versorgungsgesche-hens - eher in spezialisierten Einrichtungen oder bei wohnortnahen Leistungserbrin-gern - ein solcher „Case-Manager“ implementiert werden sollte. Ein Einbezug humangenetischer Beratungsstellen könnte für die Therapiekoordination ebenfalls relevant sein.

Der zusätzliche Informations- und Dokumentationsaufwand sowie die Kosten für die Koordination und Abstimmung von Therapiemaßnahmen sollten durch das Gesund-heitswesen vergütet werden. Zukünftige Versorgungskonzepte sollten den besonder-en zeitlichbesonder-en Bedarf für die Behandlung und Koordination der Gesamttherapie von Patienten mit Seltenen Erkrankung berücksichtigen. Diese zusätzlichen Aufwendun-gen könnten jedoch wiederum durch einen Abbau von Über- und Fehlversorgung

gemindert werden (siehe Kap. 3.1.3). Außerdem sollten Leistungen, die für Patienten aus anderen Bundesländern (und anderen EU-Mitgliedstaaten) erbracht werden, entsprechend vergütet werden. Um einen Missbrauch der Verfügbarkeit zu verhin-dern und so den Zugang für Patienten mit berechtigtem Interesse an einer Versor-gung in einem Referenzzentrum sicher zu stellen, muss nicht nur die Bereitstellung der Ressourcen organisiert werden, sondern auch die Inanspruchnahme durch Pa-tienten, die nicht schon im Referenzzentrum akzeptiert und angebunden sind. Hier könnte ein abgestuftes Modell der Zuweisung (Anfrage > telemedizinische Konsulta-tion > Zuweisung) hilfreich sein. Bei einigen Anfragen kann schon im Vorfeld ohne eine Vorstellung des Patienten eine wegweisende Beratung erfolgen. Reicht die auf diesem Wege verfügbare Informationen nicht für eine hilfreiche Stellungnahme und Empfehlung des Referenzzentrums aus, kann in einer telemedizinischen Konsulta-tion geklärt werden, ob und ggf. wo eine tatsächliche Vorstellung und/oder Anbin-dung des Patienten sinnvoll sein könnte.