• Keine Ergebnisse gefunden

Von Beginn seiner Veröffentlichungstätigkeit an interessiert sich Cousinet dafür, was genau ein Kind ist. Daraus resultieren eine Reihe von Artikeln und Buchbeiträgen, die zum einen Überlegungen und Forschungsergebnisse zur Natur des Kindes zum Thema haben, zum anderen aber auch praktische Erziehungsratschläge beinhalten, die darauf abzielen, das Kind zu verstehen und es dementsprechend angemessen zu behandeln.

1907 veröffentlicht Cousinet den Artikel „Eigensinni und Gehorsam“36 über eine Erhebung, deren Ergebnisse 1905 von Théodate L. Smith im „Pedagogical Seminary“

veröffentlicht wurden. Smith vertritt den Standpunkt, dass man den Willen der Kinder stärken muss, um Eigensinnigkeit und Ungehorsam zu verhindern bzw. zu verändern.

Kinder brauchen von Anfang an klare Regeln und gleichzeitig Freiräume, denn zu viele oder zu strenge Regeln führen nicht zu echtem Gehorsam, „wenn man darunter einen inneren Respekt vor Regeln und vor Autorität und nicht nur einen äußerlichen Konfor-mismus versteht“37. Cousinet schließt aus den Ausführungen Smiths, dass Gehorsam in der Erziehung seine Berechtigung hat, weil man Kindern nicht jede Anweisung erklären kann (vgl. 1907a, S. 393). Es geht dabei aber darum - und er verweist hier auf Durkheim -, den Willen zu stärken, indem man ihn begrenzt, ohne ihn zu sehr einzu-engen (vgl. 1907a, S. 394). Wenn man dabei von Kindern die Einhaltung von Regeln fordert, so müssen auch Eltern und Lehrer sich an diese Regeln halten.

Die Rolle der Analogie in der Wahrnehmung des Kindes

Im gleichen Jahr schreibt Cousinet einen für seine Pädagogik wegweisenden Artikel über die Rolle der Analogie in der Wahrnehmung des Kindes (vgl. 1907b), der das große Interesse Cousinets an der Psychologie des Kindes markiert. Maurice Debesse zufolge stellt er ebenso wie der Artikel über die kindliche Solidarität (vgl. 1908b) eine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Psychologie des Kindes dar (vgl. Debesse 1962, S.11).

Cousinet beschäftigt sich hier mit dem Phänomen, dass Kinder oft Ähnlichkeiten zwi-schen Objekten feststellen, die für Erwachsene keine Ähnlichkeiten haben. Manchmal liegt ein schlichter Mangel an Vokabular zu Grunde, was aber nicht der Fall bei Dingen

36 Diese Übersetzung birgt einige Schwierigkeiten, denn Cousinet bezieht sich auf einen im Pedagogical Seminary erschienenen englischen Aufsatz von Théodate L. Smith von 1905, und er erläutert in einer Fußnote (1907a, S. 385), dass das Wort „obstinacy” am ehesten mit „bouderie“

zu übersetzen ist, was dann aber auf deutsch „schmollen“ oder noch besser „motzen“ bedeutet.

37 „(…), si l’on entend par là un respect intérieur de la loi et de l’autorité et non pas seulement un conformisme extérieur“, Cousinet 1907a, S. 391.

ist, deren Namen die Kinder kennen (vgl. 1907b, S. 160). Für die meisten Psychologen ist der Gebrauch von Analogien nicht nur ein natürliches Verhalten von Kindern, son-dern eine besondere Verstehens- und Ordnungsstrategie, was Cousinet zufolge eine Übertragung von Ordnungs- und Verstehensprinzipien des Erwachsenen auf das Kind darstellt. Die gängige Theorie der kindlichen Wahrnehmung geht davon aus, dass das Kind bei einem neuen Gegenstand zunächst die Unterschiede zu bekannten Dingen fest-stellt und dann Analogien zu bereits Bekanntem zieht. Nach dieser Theorie ist „das Kind von neuen und unbekannten Dingen umgeben, die es kennenlernen möchte oder muss, und da es sie nicht versteht, interpretiert es ihre Natur oder ihre Benutzbarkeit über Analogie zu Dingen, die es bereits kennt.“38 Cousinet nennt dies die „mittelbare Analogie“ (analogie médiate, 1907b, S. 164).

Er versucht, dieser Sicht der Dinge einen logischen Fehler nachzuweisen. „Wenn das Kind zuerst das Neue wahrnimmt, das heißt die Verschiedenheit der Dinge, ist es un-möglich, dass es im Anschluss daran durch eigene Bemühungen die Analogie ent-deckt.“39 Der Geist des Kindes „hat sich noch nicht weit genug entwickelt, um Ähnlich-keiten wahrzunehmen, nachdem es bereits die Unterschiede erkannt hat, und außerdem ist es sinnlos wahrzunehmen, wie sich die Dinge ähneln, wenn man zunächst ihre unter-schiedliche Natur wahrnimmt“40. Cousinet stellt der Idee der „vorgeblichen Wahr-nehmung der Unterschiede“ (prétendue perception de diversités, 1907b, S. 165) eine gegensätzliche Theorie gegenüber, der zufolge das Kind „sich in einem gleichförmigen Chaos bewegt, das aus Empfindungen gebildet wird, die sich für seinen unausgebildeten Geist und sein noch nicht erwachtes Urteilsvermögen gleichen“41. Das Kind nimmt also zunächst alles als analog und gleich wahr, es „vergleicht keine Wahrnehmungen, son-dern nimmt Vergleiche wahr“42. Es nimmt die Welt als eine große homogene unklare Masse wahr, innerhalb derer sich nur einige Wahrnehmungen unterscheiden lassen, wie die Nahrung, die Mutter und etwas später den eigenen Körper (vgl. 1907b, S. 165). Das bedeutet, „dass das Kind in einem neuen Ding nur die Teile oder Qualitäten sieht, die es bereits von anderen Dingen her kennt. Es sieht den Rest nicht.“43 Das Kind nimmt die Analogien vor den Unterschieden wahr, was Cousinet die unmittelbare Analogie (ana-logie immédiate, 1907b, S. 166) nennt. Das bedeutet weiterhin, dass ein Kind zunächst

38 „(…) l’enfant est entouré de choses neuves et inconnues qu’il désire ou qu’il a besoin de connaître, et comme il ne les comprend pas, il en interprète la nature ou l’usage par analogie avec les choses qu’il connaît déjà“, Cousinet 1907b, S. 164.

39 „Si l’enfant aperçoit d’abord la nouveauté, c’est-à-dire la diversité des choses, il est impossible que par ses efforts il en découvre par la suite l’analogie“, Cousinet 1907b, S. 164.

40 „Son esprit n’est point assez développé pour apercevoir les ressemblances après avoir perçu les différences, et, en outre, il est inutile de voir comment les choses se ressemblent, si on les connaît d’abord dans leur nature distincte (…)“, Cousinet 1907b, S. 164.

41 „(...) qu’il se meut au milieu d’un chaos uniforme formé de sensations qui se ressemblent toutes pour son esprit et son discernement non encore éveillé“, Cousinet 1907b, S. 165.

42 „(...) qu’il ne compare pas des perceptions mais qu’il perçoit des comparaisons“, Cousinet 1907b, S. 165.

43 „(...) c’est que l’enfant ne perçoit dans la chose nouvelle et inconnue que les parties ou les qualités qu’il a déjà connues dans d’autres choses. Il ne voit pas le reste“, Cousinet 1907b, S. 165.

ein Ding gar nicht als wirklich neu wahrnimmt, sondern in ihm nur das bereits Bekannte erkennt (vgl. 1907b, S. 169).

Die Schwierigkeit, die Vielfältigkeit zu erkennen, verliert sich im Laufe der Zeit, und wenn sie auch nie ganz verloren geht, gelingt es dem Kind doch immer besser, das Neue zu erkennen, und es verwechselt immer seltener Neues mit Bekanntem. Dabei ist es durchaus ein Zeichen von Intelligenz, wenn Kinder ab etwa einem Alter von 10 Jahren einen neuen Gegenstand untersuchen, um ihn zu verstehen und nicht mehr versuchen, ihn etwas Bekanntem zuzuordnen. Auf diese Art und Weise nähert sich die kindliche Wahrnehmung immer mehr der Realität an (vgl. 1907b, S. 170):

„Jede Tätigkeit, mit der sich die Wahrnehmung des Kindes neu ausrichtet und sich der Realität mehr anpasst, ist an die Erfahrung gekoppelt, die es mit den Dingen vertraut macht, an die Lektionen seiner Lehrer, die sie ihm verständlich machen und an das Gemeinschaftsleben, das es zwingt, die Dinge aus der Nähe zu betrachten“ (1907b, S. 170, siehe S. 482).

Man kann nicht über einen längeren Zeitraum hin die Dinge verwechseln, die man be-nutzt. Um sie zu verstehen, sind sowohl die tägliche Erfahrung als auch Unterricht und Schulleben hilfreich:

„Es ist aber vor allem das soziale Leben, das die Kinder ganz allgemein daran gewöhnt, die Unterschiede, die Vielfalt der sie umgebenden Welt wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen nicht mehr miteinander zu verwechseln. Wie wir gesehen haben, konstruiert jedes Kind für sich selbst eine homogene und geeinte äußere Welt“ (1907b, S. 171, siehe S. 482).

Wenn das Kind in die Schule kommt, trifft es auf andere Kinder und damit auf andere Vorstellungen der Welt und muss sich mit diesen Vorstellungen auseinandersetzen. In diesem Prozess der Auseinandersetzung entwickeln und verändern sich die eigenen Vorstellungen, und es werden Kompromisse und Übereinkünfte nötig, die den Frieden zwischen den Kindern hervorbringen, der das soziale Leben erst möglich macht. Dieser Prozess verdrängt den Individualismus und schafft den Raum für das soziale Leben der Kinder. Äußeres Zeichen dieser Entwicklung ist das Verschwinden von „Imaginations- oder Imitationsspielen“ (jeux d’imagination ou d’imitation, 1907b, S. 171f), denn die Imaginationen sind individuell und daher kaum in Einklang zu bringen. Je älter die Kinder werden, desto mehr steigt auch ihr Interesse an der Wahrheit, an realen Dingen und deren Funktion. Deshalb wandelt sich die kindliche Imagination im Laufe der Schulzeit, was nicht wirklich zu beklagen ist, denn

„die so genannte Vorstellungskraft der Kinder ist nichts anderes als eine Mischung aus Wahrnehmungen und Bildern und die Unfähigkeit, die Realität exakt sehen zu können. (...) Diese Transformation der kindlichen Wahrnehmung ist unseres Erachtens zu großen Teilen dem sozialen Leben zu verdanken, welches die falschen Analogien zerstört und die verschiedenen Vorstellungen durch die Sicht und die Liebe zur Realität in Einklang bringt“ (1907b, S. 173, siehe S.482).

Die kindliche Solidarität

Cousinet kritisiert hier zunächst den Moralunterricht, der in den Schulen eingeführt wurde, um Kindern die Moral in „18 oder 23 Lektionen“ beizubringen, denn

„wie in allen anderen Bereichen des Unterrichtswesens glaubt man, man müsse mit den Grundlagen anfangen, weil dies das Einfachste sei. Denn im Prinzip wissen die Kinder nichts und man muss sie instruieren und schrittweise vorangehen bis hin zu komplexen Sachverhalten, um so die ganze Wissenschaft zu durchlaufen“ (1908b, S. 281, siehe S. 482).

In den Schulen werden die moralischen Vorstellungen der Kinder und ihre „Disposition zum Guten“ (disposition vers le bien, 1908b, S 282) ignoriert. Cousinet schließt sich der Forderung Durkheims an, den abstrakten Moralunterricht zu ändern, um die Moral an-zuerkennen „die von den Kindern in unseren Klassen verstanden und angewendet“44 wird. Selbst wenn man das Ziel hat, die realen Moralvorstellungen der Kinder zu ver-ändern, muss man doch von der sozialen Realität ausgehen. In allen anderen Fächern soll Unterricht von den familiären Realitäten ausgehen, warum also nicht auch im Mo-ralunterricht (vgl. 1908b, S. 284).

Das Kind wächst nicht allein auf, „es ist Teil einer Gesellschaft, der kindlichen Gesell-schaft, der Gruppe, die aus Schülern derselben Klasse oder derselben Schule gebildet wird, und, noch über diesen Gruppen stehend, der großen kindlichen Gemeinschaft.“45 In dieser Gesellschaft bildet sich zunächst eine vage, veränderliche Moral aus, die für die Kinder aber immer wahrnehmbar ist und die für sie die einzige soziale Moral darstellt, so wie die kindliche Gesellschaft die einzige Gesellschaft ist (vgl. 1908b, S.

284). Ohne Kenntnis dieser kindlichen Moral, laufen Lehrer Gefahr, vor ihnen eine Mo-ral aufzubauen, die sie nicht erreicht.

Die kindliche Moral ist nur unvollständig bekannt, und ihre Beschreibung wird durch zwei Umstände erschwert. Zum einen nennt Cousinet das Misstrauen der Kinder den Erwachsenen gegenüber. Die Individualpsychologie ist durchaus in der Lage, zu einem einzelnen Kind einen hinreichenden Kontakt herzustellen, um sein Vertrauen zu gewin-nen. Bei Gruppen sieht dies anders aus, weil „noch einmal, eine Gruppe von Kindern nichts von uns will“ (le groupe enfantin, encore une fois, ne veut point de nous, 1908b, S. 285). Das macht den Kontakt sehr schwierig, und man braucht sehr erfahrene Be-obachter. Bemerken die Kinder, dass sie beobachtet werden, verhalten sie sich so, wie sie sich immer Lehrern gegenüber verhalten. Deshalb ist die Methode der Fragebögen von Stanley Hall sehr nützlich, wenn sie auch einige Gefahren birgt und verfälschte Ergebnisse liefern kann, denn die persönliche Meinung und die tatsächliche Lebens-praxis gehen bisweilen stark auseinander. „In der kindlichen, wie in der menschlichen Gesellschaft, folgen die Individuen oft einer Praxis, die sie verurteilen.“46 Bei solchen Untersuchungen muss man beachten, inwieweit die Kinder bereits sozialisiert sind, denn einige Kinder neigen dazu, die Moralvorstellungen der Gruppe weiterzugeben, die

44 „(...) de la morale telle qu’elle est conçue ou appliqué par les enfants qui sont dans notre classe (…)“, Cousinet 1908b, S. 282.

45 „L’enfant fait partie d’une société, la société enfantine, le groupe formé par élèves d’une même classe ou d’une même école, et au-dessus de ces groupes, de la vaste confraternité enfantine“, Cousinet 1908b, S. 284.

46 „Dans la société enfantine comme dans la société humaine, les individus obéissent à des pratiques qu’ils condamnent“, Cousinet 1908b, S. 285.

nicht zwangsläufig ihre eigenen sein müssen, während andere ihre Individualität be-halten. Die Untersuchung kann also nur von jemandem ausgewertet werden, der die Kinder kennt und ihren Charakter mit einbezieht, was die Ergebnisse wiederum ihrer Objektivität beraubt, womit solche Untersuchungen kaum in der Lage sind zu über-prüfen, was sie sich vorgenommen haben.

Man kann nur über sehr viele Beobachtungen mehr über die Moral der Kinder erfahren, und Cousinet will sich hier auf das seiner Meinung nach relativ leicht zu erkennende Phänomen der Solidarität innerhalb der Gruppe beschränken. Er orientiert sich dabei an Durkheims Verständnis des Wortes Solidarität, der ein doppelter Charakter zugestanden wird. Sie ist für das Individuum ein Zwang, der aber ein Objekt der Affektion und tiefen Zuneigung werden kann. Dieses Phänomen existiert außerhalb des Individuums, vor ihm und kann weder durch seine persönlichen Ansichten, noch durch individuelle Handlungen geändert werden. Die Solidarität wird damit zu einer „sozialen Institution“

(institution sociale, 1908b, S. 286).

In Anlehnung an Durkheim bezeichnet Cousinet die schulische Gesellschaft als

„Horde“, die noch keine sozialen Beziehungen aufgebaut hat (vgl. 1908b, S. 287). An-hand von Tardes Definition der Gesellschaft47 zeigt er, dass Kinder in Gruppen viel weniger frei sind als es den Anschein hat, denn ihr Imitationstrieb bringt sie dazu, an-dere nachzuahmen. Von Tarde hat Cousinet offensichtlich auch die Idee übernommen, dass die Kindergruppe die erste, einfachste Form der Gesellschaft ist48.

Der Antrieb für seine Untersuchung ist die Fragestellung, in welche Richtung sich die Erziehung von Kindern entwickeln muss, und er sieht zwei Alternativen:

„soll man aus ihnen christliche Individualisten machen, die nur ihr eigenes Wohlergehen und ihre Vervollkommnung im Sinn haben, oder vielmehr Men-schen, die für das soziale Leben geeignet sind, die in erster Linie einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leisten möchten und die um eine Annäherung der Gemüter bemüht sind, damit unter ihnen nur die Eigenschaft gefördert werden, die der Gruppe nützen?“ (1908b, S. 288, siehe S. 482).

Den Standpunkt Tardes entwickelt Cousinet weiter und macht aus der Imitation inner-halb der Gruppe ein gegenseitiges Helfen (vgl. 1908b, S. 289). Diese gegenseitige Hilfe ist dabei weder sozialistisch zu deuten, noch hat sie etwas mit Justiz zu tun, sie ist „eine

47 „Eine soziale Gruppe ist insoweit eine Versammlung von Wesen, als sie versuchen sich gegenseitig zu imitieren oder, ohne sich momentan zu imitieren, sich ähneln und ihre gemeinsamen Merkmale alte Nachahmungen desselben Modells sind.“ „Un groupe social est une collection d’êtres en tant qu’ils sont en train de s’imiter entre eux ou en tant que, sans s’imiter actuellement, ils se ressemblent et leurs traits communs sont des copies anciennes d’un même modèle.“ Gabriel Tarde in Cousinet 1908b, S. 287.

48 „Eine Masse von Kindern, die gemeinsam aufgezogen wurde (…), die die gleiche Erziehung in der gleichen Umgebung erhalten hat und noch nicht in Klassen und Berufe differenziert ist: das ist die Hauptmaterie der Gesellschaft. Sie knetet dies und formt über die funktionelle Differenzierung unvermeidlich und zwangsläufig eine Nation.“ „Une masse d’enfants élevés en commun (…) ayant reçu la même éducation dans le même milieu et non encore différenciés en classe et en professions: telle est la matière première de la société. Elle pétrit cela, et en forme, par voie de·différenciation fonctionnelle, inévitable et forcée, une nation.“ Gabriel Tarde in Cousinet 1908b, S. 287.

Notwendigkeit des Lebens“ (nécessité vitale, 1908b, S. 289). Damit ist die Solidarität in Kindergruppen der in primitiven Völkern vergleichbar. Die Kinder in einer Klasse stel-len eine Gesellschaft im Kleinen dar, in deren Innerem sich kleine Gruppen, meist zum Spielen, bilden. Deren Solidarität wird besonders stark, wenn die Gruppe von außen bedroht wird, zum Beispiel wenn ein Kind aus ihr beschuldigt wird, etwas Unrechtes getan zu haben. Sie zeigt sich auch, wenn Kinder aus fremden Klassen nicht an einem Spiel teilnehmen dürfen, und wird ausgedehnt, wenn die eigene Schule im Vergleich mit einer anderen herausgestellt wird. Am stärksten zeigt sich besonders diese Form der Solidarität in den Banden krimineller Jugendlicher.

Eine weitere Form der Solidarität zeigt sich im Lehrer-Schüler-Verhältnis. Wenn der Lehrer den Schülern als illegitimer Tyrann erscheint, führt das zu tiefem Unverständnis zwischen beiden Parteien (vgl. 1908b, S. 291). Keine Erkenntnis der Psychologie oder der Pädagogik, auch nicht die für Cousinet nicht realisierbare maßgeschneiderte Schule Claparèdes, kann die „radikale Unverständlichkeit“ (inintelligibilité radicale, 1908b, S.

291) zwischen Kind und Lehrer, vor allem aber zwischen Gruppe und Lehrer, auflösen.

„Kinder leben in einer Welt, die mit Hilfe von nicht ausreichender Erfahrung und un-geordneter Phantasie konstruiert wird, eine Welt, die für uns irreal, aber sehr real für sie ist.“49 Die Interessen der Erwachsenen sind ihnen unverständlich, so wie diese die Kinderinteressen als kindisch abtun. Dieses gegenseitige Nichtverstehen ist die Haupt-ursache für das mangelnde Vertrauen von Kindern zu Erwachsenen. Lehrer brechen mit ihren schulischen Ansprüchen und Interessen in die Kinderwelt ein, um ihre als höher bewerteten Interessen durchzusetzen (vgl. 1908b, S. 292), und Kinder sind sich sehr schnell darüber im Klaren, dass die Interessen der Lehrer durchaus nicht ihre eigenen sind.

Wenn der Lehrer Dinge unterrichtet und zu vermitteln versucht, hinter denen er offen-sichtlich selbst nicht steht, verlieren Kinder das Vertrauen in ihn und betrachten ihn als Feind. Für diesen Lehrer bleibt nur seine Autorität und die Lust am Befehlen übrig, was unweigerlich zu weiterer Ablehnung durch die Kinder führt (vgl. 1908b, S. 292). „In diesem künstlichen Charakter, den die Schule in ihrer Gesamtheit von Lehrer, Unter-richt und Disziplin für die Kinder hat, muss man die Ursache für das radikale Nicht-verstehen suchen, das Lehrer und Schüler voneinander trennt.“50 Mit Ausnahme der sogenannten guten Schüler, die an ihre Arbeit glauben, ist die Schulwelt für die kind-liche Gesellschaft ein Muster ohne Wert. „Für die kindkind-liche Gesellschaft besteht die reale Welt aus der Gesamtheit aller Arten von Beziehungen, die Individuen miteinander unterhalten“51, und genau diese Beziehungen werden von der Schule ignoriert.

49 „Les enfants vivent dans un monde construit au moyen d’une expérience insuffisante et d’une imagination confuse, un monde irréel pour nous, très réel pour eux“, Cousinet 1908b, S. 291.

50 „C’est dans ce caractère artificiel qu’a l’école dans l’esprit de l’enfant, l’école tout entière, les maîtres, l’enseignement et la discipline qu’il faut chercher la cause de cette inintelligibilité radicale qui sépare maître et élèves“, Cousinet 1908b, S. 293.

51 „Pour la société enfantine, le monde réel est formé par l’ensemble des relations de toute espèce que les individus entretiennent entre eux“, Cousinet 1908b, S. 293.

Cousinet setzt sich auch mit dem vielschichtigen Problem des „Verpetzens“ (délation, 1908b, S. 294) auseinander. Zunächst ist das Verpetzen völlig logisch für das Kind. Ein kleines Kind, das von älteren Geschwistern ein Unrecht erfährt, geht zu seinen Eltern, um sich Hilfe zu holen, weil es sich nicht anders wehren kann. Kleine Kinder berichten Eltern von begangenen Regelverstößen, worin Cousinet „vage Grundzüge von Gerech-tigkeit“ (vague rudiment de justice, 1908b, S. 294) erkennt. Diese Haltung behält das Kind in der Schule bei, weil es zunächst von „Feinden umringt“ (entouré d’ennemies, 1908b, S. 294) ist und weil es Zeuge einer ganzen Reihe von Regelverstößen wird. Aber bereits im jüngsten Schulalter wird deutlich, dass das Verpetzen verurteilungswürdig ist, wenn es nicht mehr der eigenen Verteidigung dient. Im weiteren Schulalter ist dann das Verpetzen überhaupt nicht mehr gestattet.

Cousinet zieht den Schluss, dass die beobachtete und beschriebene Solidarität nichts mit Freiheit oder mit einem „Quasi-Vertrag“ (quasi-contrat, 1908b, S. 298) zu tun hat, son-dern damit, dass sich das Individuum den Regeln unterwirft, die in der es umgebenden Gesellschaft herrschen. Das Individuum kann sich zum einen dieser Situation grund-sätzlich nicht entziehen, und sie bietet außerdem auch einige Vorteile, wie Schutz und die Möglichkeit zu sozialen Spielen. Über Nachahmung und Gewohnheit fängt das Kind an, die soziale Moral zu lieben, die eigentlich seinen individuellen Instinkten ent-gegensteht. „Die soziale Solidarität gründet sich hier auf die Schwäche des Indi-viduums, auf seine nicht ausreichend ausgeprägte Individualität, die weder durch Erb-anlagen noch durch die Erziehung ausreichend gebildet ist.“52

Seine Untersuchungen führen Cousinet zu drei Ergebnissen:

„1. Die Solidarität bei Kindern beruht viel mehr auf dem Gefühl, zu einer Gruppe zu gehören, als auf Zuneigung oder gegenseitiger Hilfe.

2. Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zeigt sich vor allem in Konflikt-situationen, immer dann, wenn die Gruppe angegriffen wird oder ganz einfach in ihrer Gesamtheit bedroht ist. Die Solidarität der Kinder ist eine defensive Solidarität.

3. Diese Solidarität steht in direkter Relation zum Alter und der Konzentration der Gruppe“ (1908b, S. 299, siehe S. 482f).

Diese Solidarität ist etwas ganz anderes als das, was Philosophen und Politiker gerne in ihr sehen. Es ist der Zusammenschluss der Schwachen angesichts unzureichend aus-gebildeter Individualität, die die Gruppe auch nicht zulässt. „Sie ist keine Union, son-dern Sklaverei.“53 Die erste Aufgabe der Moral unterrichtenden Lehrer muss es also sein, die Kinder aus dem blinden Gehorsam zu dieser Solidarität herauszuholen. Es gilt diese „unmoralische Solidarität“ (solidarité immoral, 1908b, S. 300) zu brechen und mit Kindern ihre individuellen Wertvorstellungen zu finden. Das bedeutet nicht, dass dem Egoismus Vorschub geleistet werden soll. Das Ziel des Moralunterrichts muss sein, dass

52 „La solidarité sociale se fonde ici sur la faiblesse de l’individu, sur son individualité encore insuffisamment accentué, insuffisamment formée même par l’hérédité et l’éducation“, Cousinet 1908b, S. 298.

53 „Elle n’est pas une union mais un esclavage“, Cousinet 1908b, S. 299.

die Kinder sich freiwillig zu Gruppen zusammenschließen und sie die Gruppen lieben (vgl. 1908b, S. 300). Wenn sich der Charakter ausgebildet hat, ist es wichtig, die Grup-penbildung zu unterstützen, denn dann zeigen sich die Vorteile der Solidarität innerhalb einer Gruppe. Ohne genauer zu zitieren verweist Cousinet hier auf Lalande, der deutlich gemacht hat, „dass sich nur durch das Leben in einer Gesellschaft starke, moralische Persönlichkeiten bilden können“54. Lässt man Kinder in der falschen Solidarität auf-wachsen, erzieht man Menschen, die entweder nach jeder Möglichkeit suchen, den Zwängen zu entgehen, oder Sklaven, die immer dann Gesetzen und Traditionen genau folgen, wenn sie ihnen in ihrer Schwäche hilfreich sind.

3.1.1) Erziehung - Kinder sind anders

Aus der Idee der völligen Andersartigkeit des Kindes leitet Cousinet seine Vorstellung von Erziehung ab, die er 1948/49 im einzigen in einer deutschsprachigen Zeitschrift erschienenen Artikel erläutert. Zunächst beschreibt er die übliche Vorstellung von Er-ziehung, wonach die Erziehungsmaßnahmen umso ausgeprägter sein müssen, je kleiner ein Kind ist. Je älter es wird, desto weniger muss es erzogen werden, weil es dem Er-wachsenen immer ähnlicher wird. Cousinet behauptet demgegenüber, dass eher der Ju-gendliche Erziehung im eigentlichen Sinne braucht, weil er lernen muss, sich in der Welt der Erwachsenen zurechtzufinden. Die Welt des Kindes ist dagegen völlig von dieser Welt abgetrennt.

Erwachsene sehen das Kind meistens als ein dem Erwachsenen gleichendes, aber un-terlegenes Wesen an. Die Beobachtung scheint dies zu bestätigen, denn offensichtlich kann das Kind nicht dieselben Dinge wie ein Erwachsener tun. Außerdem hält der Er-wachsene „das Kind für ihm unterlegen, weil er es wie einen Unterlegenen behandelt“

(il juge l’enfant inférieur à lui, parce qu’il le traite comme un inférieur, 1948/49b, S.

91). Es scheint sehr schwer für Menschen zu sein, diese Haltung aufzugeben, selbst wenn eine oder mehrere Erfahrungen zeigen, dass man damit falsch liegt. Laut Cousinet bescheinigen sich Menschen gerne eine Überlegenheit über andere, was

„die nur das Relikt eines unzureichend entwickelten Egozentrismus ist und – weil wir Schwierigkeiten damit haben, die uns umgebende Ordnung der Dinge zu stören, selbst wenn diese Ordnung recht unvollkommen ist (aber das Leben treibt uns, oder wir glauben, dass es uns drängt und dass wir uns beeilen müssen zu handeln, bevor wir die Zeit haben, nachzudenken) – so widerstrebt es uns auch, die Beziehungen zu verändern, die wir einmal aufgebaut haben, selbst wenn eine oder mehrere auf einander folgende Erfahrungen zeigen, dass diese Beziehungen falsch sind“ (1948/49b, S. 92, siehe S. 497).

So verhält es sich – Cousinet zufolge – auch mit der Beziehung zwischen Erziehenden und Kindern, die sich erst ändert, wenn die Kinder zum Lebensunterhalt beitragen müs-sen und sie damit zu Gleichberechtigten werden. Eltern sehen nie die tatsächliche Ent-wicklung ihrer Kinder, die sich entweder scheinbar schneller entwickeln, weil sie die

54 „(...) que par la vie en société seule peuvent se former de vigoureuses personnalités morales (...)“, Cousinet 1908b, S. 300.