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3.3.1) Orthographie und Grammatik

Cousinets erster Artikel (1906) hat mit dem Unterricht der Rechtschreibung ein schul-praktisches Thema, das bis heute brisant ist. Die Definition der Orthographie als

„Kunst, die Wörter einer Sprache, den grammatischen Regeln folgend korrekt zu schreiben“276, hat laut Cousinet zwei Konsequenzen. Zum einen müssen Kinder mit der Gebrauchs- und der Regelorthographie zwei Orthographien beherrschen. Zum anderen ist die Rechtschreibung eine dem Fechten oder Musizieren vergleichbare Kunst, in der

275 „(...) dans un monde artificiel, d’une vie artificielle qui ne leur permet pas de prendre conscience de leurs possibilités, de leurs besoins, de leurs intérêts, de leur mode de travail naturel“, Cousinet 1959a, S. 129.

276 „(...) l’art d’écrire correctement les mots d’une langue suivant les lois de l’usage et les règles de la grammaire“, Cousinet 1906, S. 297.

nur erfolgreich gehandelt werden kann, wenn die Handlungen unbewusst erfolgen (vgl.

1906, S. 297).

Üblicherweise wird die Orthographie über das Diktat gelehrt, bei dem das Kind ein akustisches Signal analysieren muss, um seine Schreibweise herauszufinden (vgl. 1906, S. 297). Während 10 – 15 % der Kinder kaum Probleme damit haben, steht der Rest vor vier Hindernissen. Zum einen gibt es Wörter, die gleich ausgesprochen, aber verschie-den geschrieben werverschie-den, zum anderen ein schlichtes Aufmerksamkeitsproblem, das die Worte des Lehrers deformiert. Des weiteren Hörprobleme und schließlich die natürliche Faulheit, die ein Kind in einer Zeile ein Wort richtig schreiben und in der nächsten falsch schreiben lässt (vgl. 1906, S. 298f).

Manchmal schreiben Kinder Wörter falsch, die sie eigentlich kennen und deren Falsch-schreibung sie auch erkennen, wenn sie darauf aufmerksam gemacht werden. Dieses Phänomen ist nicht allein durch Unaufmerksamkeit und Ablenkung zu erklären. „Wenn wir ein Wort denken, hören wir es entweder (auditive Vorstellung), oder wir sehen es (visuelle Vorstellung), oder wir sprechen es innerlich aus (motorische Vorstellung).“277 Da die motorische Vorstellung am verbreitetsten ist278, kommt es bei einem Diktat be-reits dadurch zu Fehlern, dass etwas Gehörtes in ein motorisches Bild umgewandelt werden muss, bevor es geschrieben werden kann. Als Beweis für diese Theorie be-schreibt Cousinet das Phänomen, dass Kinder ein falsch geschriebenes Wort in einem Text richtig lesen. Sie erkennen den Fehler nicht, denn „ein Wort noch einmal zu lesen bedeutet, es erneut innerlich auszusprechen“279. Abschließend stellt er fest, dass die for-schende Auseinandersetzung mit der Sprache hohen bildenden Wert besitzt und es nicht zu akzeptieren ist, die Rechtschreibung lediglich mechanisch zu vermitteln.

Cousinet nimmt das Thema des Grammatikunterrichts in einer Reihe „pädagogischer Vorträge“ (conférences pédagogiques, 1950k, S. 13) im Schuljahr 1950/51 wieder auf.

Daraus entstehen zwei Artikel in denen er Positionen entwickelt, die er bis zum Beweis ihres Gegenteils nicht aufgeben will.

„Wir bekräftigen, a) dass erst im Alter von 13 Jahren, das heißt ganz am Ende der Kindheit, bei Kindern etwas auftaucht, was man als grammatisches Bedürfnis be-zeichnen könnte,

b) dass, so wie es die Erfahrung zeigt, Kinder eine korrekte Orthographie erwer-ben können, ohne grammatische Theorie zu erlernen und ohne grammatische oder orthographische Übungen zu machen,

c) dass man schließlich nicht sagen kann, dass die Verbesserung der Orthographie vom Grammatikunterricht abhänge“ (1950k, S. 13, siehe S. 499).

1951 fügt er hinzu, dass die „Stunde der Grammatik“ (l’heure de la grammaire, 1951a, S. 104) erst dann schlägt, wenn ein Kind fragt, warum ein Wort auf eine bestimmte Art und Weise geschrieben wird, oder wenn es Ähnlichkeiten zwischen mehreren Worten

277 „Lorsque nous pensons un mot, ou nous l’entendons (image auditive), ou nous le voyons (image visuelle), ou nous le prononçons intérieurement (image motrice)“, Cousinet 1906, S. 302f.

278 Cousinet stützt sich auf eine Untersuchung des dänischen Philosophen Höffding, vgl Cousinet 1906, S. 303.

279 „Car relire un mot, c’est à nouveau le prononcer intérieurement“, Cousinet 1906, S. 303.

feststellt. „Die Beobachtungsgrammatik beginnt in dem Moment, da die bis dahin als Werkzeug genutzten Worte für den Schüler zu Objekten werden.“280 Cousinet zufolge sind die ersten Worte, die dieses Interesse wecken, meistens Verben, die die Schüler dann auf die gleiche Art und Weise untersuchen können, so wie sie bereits vorher Pflanzen, Tiere und Steine untersucht haben. Ausgeprägtes Interesse an der Sprache sei aber bei Kindern sehr selten anzutreffen (vgl. 1951a, S. 100).

Die Vorträge und Artikel münden in ein Buch über die Praxis des Grammatikunterrichts (1952a), das in engem Zusammenhang mit der „Methode de travail libre par groupes“

(1949a) steht und sich mit der weitverbreiteten Auffassung auseinandersetzt, dass Kin-der kein richtiges Französisch erlernen, wenn sie keinen ausgedehnten Grammatikunter-richt mehr haben.281

Aus einer ganzen Reihe pädagogischer und sozialer Gründe heraus hat vor allem der Begriff des Korrekten eine ständig steigende Bedeutung erfahren, denn nur die korrekte Beherrschung der Sprache ermöglicht sozialen Aufstieg. Für die Eltern ist das fehler-freie Schreiben von Diktaten und anderen Texten, sowie der gehobene Sprachstil der Gradmesser für gute schulische Arbeit. Die Pädagogen haben sich dem angeschlossen und eine korrekte Orthographie für unerlässlich erklärt. Korrekt ist demnach, was den Gesetzen der Grammatik folgt, woraus wieder geschlossen wurde, dass die Qualität des Grammatikunterrichts entscheidend für die orthographischen Leistungen der Kinder ist.

Schließlich wurden die besonderen Schwierigkeiten der Grammatik und die Not-wendigkeit des Nachdenkens zu ihrer Beherrschung in den Rang eines kulturell bedeut-samen Gutes erhoben. Grammatiklehrer und öffentliche Meinung sind nach wie vor dieser Überzeugung, indes fehlt es an echten Beweisen für deren Stichhaltigkeit (vgl.

1952a, S. 2).

Es ist für Cousinet nicht erkennbar, dass Grammatikunterricht und Orthographieleistung in Zusammenhang stehen. Man kann lediglich feststellen, dass eine gewisse Anzahl von Kindern orthographisch korrekt schreibt und eine gewisse Anzahl nicht. „Das Erlernen der Orthographie ist eine Sache, das Erlernen der grammatischen Regeln eine andere (...).“282

Das Diktat dient der Kontrolle durch den Lehrer und wird als „intellektuelle Gymnas-tik“ (gymnastique intellectuelle, 1952a, S. 7) angesehen. Ziel ist es, weniger als 5 Fehler im „Certificat d’études“ (Volksschulabschluss) zu machen, danach ist die Recht-schreibung wieder mehr oder weniger unwichtig, wie die Praxis beweist. Warum letzt-lich ein Erwachsener orthographisch richtig schreibt, ist aber ungeklärt (vgl. 1952a, S.

8). Die Idee der intellektuellen Gymnastik hält Cousinet für eine reine Hypothese,

280 „La Grammaire d’observation commence au moment, où les mots, toujours utilisés comme instrument, deviennent pour l’élève des objets“, Cousinet 1951a, S. 105.

281 Der französische ‚Grammatikunterricht’ entspricht in etwa dem deutschen ‚Sprachunterricht’, denn sein Thema ist „die Kunst, korrekt zu sprechen und zu schreiben“ (l’art de parler et d’écrire correctement, Cousinet 1952a, S. 1).

282 „L’apprentissage de l’orthographe est une chose, l’apprentissage des règles grammaticales en est une autre (...)“, Cousinet 1952a, S. 4.

zufolge unterstellt wird, dass Grammatikunterricht eine Aufmerksamkeitsübung ist.

Aufmerksamkeit beschränkt sich aber darauf, ein Problem zu lösen (vgl. 1952a, S. 9) und nicht mehrere. Cousinet nennt das Beispiel des Überquerens einer Straße, bei der die Aufmerksamkeit auf das sichere Erreichen der anderen Seite gerichtet ist und nicht auf Farbe und Fabrikat der Autos. Genauso achtet man beim Klavierspielen auf die Noten und nicht auf den Zustand der Partitur. Schreiben ist aber, zumal für Kinder, die es nicht so gut beherrschen, ein ständiges Überlegen, ein ständiges Richten der Auf-merksamkeit auf mehrere Probleme auf mehreren Ebenen (vgl. 1952a, S. 9).

Früher wurde das Diktat zu nichts anderem als zur Vorbereitung auf das „Certificat d’études“ benutzt. Da das Ziel so klar war, waren die Übungen, wie umstritten sie auch gewesen sein mögen, durchaus sinnvoll, sieht man das Diktat aber als Vorbereitung auf das Leben an, verliert es als Übungsform seinen Sinn. Cousinets Hauptargument gegen das Diktat ist aber, dass es auf dem psychologischen Irrtum der Aufteilung der Fächer basiert, die zu einem abgetrennten Spezialunterricht für Rechtschreibung führte. „Das Erwerben der Rechtschreibung ist aber in Wirklichkeit an die Entwicklung des ganzen Individuums gekoppelt.“283 Man erwirbt sie durch Nachforschungen, Beobachtungen, freies Schreiben, Zusammenarbeit in den Gruppen, also nicht aufgrund von Belehrun-gen, sondern nur aufgrund eigener Forschungen. „Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich eine Handlung nur durch ihre Übung entwickelt“284, denn gerade bei der Rechtschreibung spielen zu viele Variablen – wie zum Beispiel die Reifung – eine Rolle. Cousinet bezweifelt einen direkten Zusammenhang zwischen grammatischen und orthographischen Kenntnissen. Die Grammatiker haben die Regeln nicht erfunden, son-dern die bereits bestehende Sprache beschrieben, wogegen die Orthographie sich in vielen Fällen unabhängig von der Grammatik gebildet hat (vgl. 1952a, S. 12).

Im Schuljahr 1947/48 wählte Cousinet in einer Abschlussklasse der Volksschule (pri-maire) per Zufall sechs Schülerarbeitshefte aus, um sich die Fehler in den Orthogra-phieübungsarbeiten anzusehen. Seine Untersuchung erbrachte, dass Kinder, die viel Grammatikunterricht hatten, keinen Wissensvorsprung gegenüber anderen hatten. In einem 6. Schuljahr machte er eine zweite Untersuchung und stellte dabei fest, dass Kin-der dieses Alters zwar in Kin-der Lage sind, ihren Text mit dem Originaltext zu vergleichen und ihre Fehler zu korrigieren. Sie lieferten allerdings für etwa die Hälfte der Fehler Erklärungen, die zeigten, dass sie den Unterricht nur teilweise verstanden hatten und nun alles durcheinander warfen. Cousinet schließt daraus, dass die Auseinandersetzung mit Grammatik nur so stattfinden darf, dass Kinder ihr grammatisches Bedürfnis in dem Moment befriedigen können, wenn es auftritt. Erst wenn sich das Kind für Grammatik interessiert, kann es sie auch erlernen (vgl. 1952a, S. 27).

283 „Mais l’acquisition de l’orthographe est liée au développement de l’individu tout entier“, Cousinet 1952a, S. 11.

284 „C’est une illusion de croire qu’une activité ne se développe que par l’exercice de cette activité“, Cousinet 1952a, S. 11.