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3.2.1) Kritik der traditionellen Schule

Die Kritik an der traditionellen Schule, ihren Verfahren und ihrer Theorie zieht sich durch das gesamte Werk Cousinets. 1950 geschieht dies pointiert in „Leçons de péda-gogie“, einer von ihm veröffentlichten Sammlung von Artikeln zu verschiedenen As-pekten der Education Nouvelle. Cousinet zielt mit diesem Werk auf die Praxis, es ist, wie er feststellt, kein Buch pädagogischer Theorie, denn ein solches Buch müsste seiner Meinung nach von einem Autor allein geschrieben werden, weil es sich auf eine durch-gängige Philosophie stützen müsse. Cousinet verneint damit nicht grundsätzlich päda-gogische Theorie, sondern ist davon überzeugt, dass die Lehrer auf dem Gebiet „der Psychologie des Kindes und der experimentellen Pädagogik“ (de la psychologie de l’enfant et de la pédagogie expérimentale, 1950d, S. VII) gut informiert sein müssen und „außerdem über die großen Probleme der Pädagogik nachgedacht haben sollen und den sozialen und philosophischen Wert der Pädagogik verstanden haben müssen“

(qu’ils doivent encore avoir réfléchi aux grands problèmes de l’éducation et compris la valeur sociale et philosophique de la pédagogie, 1950d, S. VII). Er sieht das Problem darin, dass die Theorie, so wichtig die Auseinandersetzung mit ihr auch ist, keine An-leitung zur Praxis liefert. Lehrer sind vom Beginn ihrer Unterrichtstätigkeit an im Han-deln gefangen und müssen eine persönliche „angewandte Pädagogik“ (pédagogie appli-qué, 1950d, S. VII) aus dem entwickeln, worüber sie vorher nachgedacht haben. Für Cousinet ist es problematisch, dass die Beschäftigung mit Theorie und Praxis selten gleichzeitig stattfindet. Normalerweise folgt im Leben eines Lehrers auf eine relativ kurze theoretische Ausbildungsphase eine längere praktische Arbeitsphase. Die Lehrer hören zwar nicht auf, über ihren Beruf nachzudenken, wenn sie anfangen zu arbeiten, ihr Denken verändert sich nur insofern, als es jetzt von den Anforderungen der Praxis

162 „(...) la véritable tâche des maîtres de notre temps sera d’aider les écoliers à leurs tour à savoir ce qu’ils veulent“, Cousinet 1972, S. 5.

dominiert wird. Das ist aber nicht allein ein Zeitproblem, sondern liegt auch daran, dass die meisten Lehrer die Notwendigkeit zur Auseinandersetzung mit der Theorie nicht mehr einsehen. Deshalb wird ihnen zur Erleichterung ihrer Aufgaben eine große Anzahl leicht anwendbarer „Rezepte“ (recettes, 1950d, S. IX) und Methoden angeboten, die aber dazu verführen, das eigentliche Nachdenken über das schulische Geschehen einzu-schränken.

„Und diese Techniken haben oftmals den weiteren Nachteil, dass sie nicht wissen-schaftlich fundiert sind. Ihre Erfinder behaupten, sie ausprobiert zu haben, aber ihre Erfahrungen sind in den meisten Fällen weder beobachtet noch überprüft worden. Eine Technik auszuprobieren, bedeutet für viele unter ihnen, sie zu benutzen“ (1950d, S. IX, siehe S. 514).

Alle Versuche, den Lehrern die Möglichkeit zu geben, sich aus der Praxis ziehen zu können, um sich wieder der Theorie zuzuwenden, sind fragmentarisch geblieben. „Es bleibt also nichts anderes übrig, als es erneut zu versuchen, im Handeln des Lehrers das Denken und das Tun dergestalt zu vereinen, dass sich das Tun auf das Denken stützen kann und das Denken das Tun leitet.“163 Für Cousinet heißt dies, dass sich der Lehrer zurücknehmen und weniger handeln muss, denn nur so kann er „auf der Ebene des Denkens leben, die der normale Platz für einen Erzieher ist, und nur da handeln, wo sein Tun notwendig ist“164. Dies ist genau die Position der Education Nouvelle nach Dewey, Claparède, Ferrière und vielen anderen. Es geht darum, Schüler als Individuen wahr-zunehmen und nicht als Subjekte, wobei es eine große Bandbreite zwischen Lehrer- und Schüleraktivität gibt. „Dies kann von jenen (Methoden) reichen, in denen die Arbeit des Schülers detailliert vorbereitet ist und vom Lehrer begleitet und korrigiert wird, bis zu jenen, bei denen der Lehrer lediglich Zeuge eines freien Tuns ist (und hilft, wenn er es soll), das sich vor seinen Augen abspielt.“165 Diesen Methoden ist in jedem Fall zu ei-gen, dass sie eine „geistige Befreiung“ (libération spirituelle, 1950d, S. X) des Lehrers bedeuten und ihm die Möglichkeit geben, dem permanenten Aktivsein zu entfliehen.

Daher ist es Anliegen des Buches, ein „pädagogischer Praxisführer“ (guide de pédago-gie pratique, 1950d, S. X) zu sein, der verschiedene Probleme der Arbeit in Schulen und Ferienlagern unter den Gesichtspunkten der Education Nouvelle beleuchtet.

Cousinets Beitrag über „die Klasse“ gerät zur Generalabrechnung mit den traditionellen Verfahrensweisen der Schule. Der Tradition zufolge ist es Aufgabe des Lehrers, „Unter-richt zu machen“ (faire la classe, 1950d, S. 1), und dabei ist die Vermittlung von Wissen das Wichtigste. Der Lehrer kennt verschiedene Arten von Wissen, die in zwei große Kategorien unterteilt werden können. Zum einen „das Wissen wie man handelt“ (le

163 „Il ne reste donc plus qu’à essayer à nouveau d’associer dans l’activité du maître la pensée et l’action de façon à ce que l’action s’appuie sur la pensée, et que la pensée conduise à l’action“, Cousinet 1950d, S. IX.

164 „(...) il vive sur le plan de la pensée, ce qui est la place normale d’un éducateur et n’agisse que là où et quand son action est nécessaire“, Cousinet 1950d, S. IX.

165 „Elle peut aller depuis celles dans lesquelles le travail de l’élève est préparé en détail, suivi et corrigé par le maître, jusqu’à celles où le maître n’est que le témoin (et l’aide quand il le faut) d’une libre activité qui se déroule sous ses yeux“, Cousinet 1950d, S. X.

vant agir, 1950d, S. 1) und zum anderen „das Wissen darum, wie man denkt“ (le savoir penser, 1950d, S. 1), das Cousinet hier mehr interessiert. Dieses Wissen besteht aus den Instrumenten Lesen, Schreiben und Rechnen sowie den Kenntnissen, Fakten und Zielen, aus denen sich die verschiedenen Schulfächer zusammensetzen. Um das Wissen zu vermitteln, präsentiert er es den Kindern in Fragmenten. Zur Überprüfung des gelernten Wissens stehen ihm verschiedene Verfahren zur Verfügung, wie das Aufsagen also die Reproduktion des Stoffes durch die Schüler, wobei es immer darum geht, das Original möglichst genau zu kopieren. Dazu kommt noch die „schriftliche Arbeit“ (interrogation, 1950d, S. 2).

Der Unterricht ruht also auf den drei Pfeilern „Lektion, Wiederholung und Übung“ (la leçon, la recitation, l’exercise, 1950d, S. 3). In Wirklichkeit ist das Ganze allerdings wesentlich fragiler, denn letztlich basiert das System auf „dem guten Willen der Kin-der“ (la bonne volonté des enfants, 1950d, S. 3). Der ist aber nur über die Autorität des Lehrers zu erreichen, die er entweder natürlich besitzt oder über Disziplin zu erreichen sucht. Um sicherzustellen, dass die Schüler auch wirklich arbeiten, bewertet und benotet der Lehrer. Cousinet fragt sich, warum diese pädagogische Konstruktion nicht immer so gut funktioniert, wie eigentlich zu vermuten steht, und nicht die Ergebnisse liefert, die sie verspricht. Er sucht die Antwort in der Konstruktion selbst.

Die Lektion ist das essentielle Element des traditionellen Unterrichts. Hier soll der Leh-rer seinen Schülern sein Wissen in einer Weise präsentieren, in der alle es verstehen können, weshalb von Lehrern eine intensive Vorbereitung ihres Unterrichts gefordert wird. „Man könnte sagen, dass jeder Aspekt des Wissens vorbereitet und arrangiert sein muss, dass alles bereit sein muss, um dem Konsumenten geliefert zu werden.“166 Viele Lehrer haben diese Ratschläge befolgt und können ihre Vorbereitungsunterlagen vor-zeigen, die aus ausgearbeiteten Stunden bestehen, in denen „alles vorgeplant ist“ (où tout est prévu, 1950d, S. 6). Sie sind dabei von der Sorge getrieben, die Einzelstunden miteinander zu verbinden, um so eine Kette zueinander gehörender Elemente zu schaf-fen. Cousinet versucht, diese stille Übereinkunft näher zu beleuchten. Zunächst stellt er fest, dass die Idee des Wissenstransfers daran gebunden ist, dass der Lehrer als Einziger im Besitz des Wissens ist, was aber spätestens seit der Erfindung des Buchdrucks nicht mehr stimmt. In einer Fußnote merkt er an, dass schon der Gebrauch des Wortes Transfer eher bequem als exakt ist, denn „es ist sicher, dass die Weitergabe des Wissens einen Widerspruch enthält, denn das Wissen ist nur Wissen, wenn es weitergegeben worden ist.“167 Man kann höchstens sagen, dass der Lehrer Fakten weitergibt, die die Schüler so noch nicht kennen. Wenn er nicht mehr der einzige ist, der das Wissen be-sitzt, kann auch nicht geschlossen werden, dass es seine Aufgabe ist, es weiterzugeben.

166 „On pourrait dire que chaque partie du savoir doit être préparée, arrangée, prête en somme à être livrée au consommateur“, Cousinet 1950d, S. 5.

167 „Il est certain que la transmission du savoir implique une contradiction, puisque le savoir n’est savoir que quand il est transmis“, Cousinet 1950d, S. 6.

„Wenn aber die Situation so ist, dann nur, weil der Lehrer will, dass sie so ist. Es liegt lediglich eine konventionell organisierte Pädagogik vor, die sie sich auf Gewohnheitsrecht, Brauch oder Tradition beruft und nicht auf Tatsachen, und die verändert werden könnte. Der Lehrer will tatsächlich sein Wissen vermitteln, und daher ist eine wesentliche Bedingung der Vermittlung die Unkenntnis der Kinder.

Die Kinder müssen unwissend sein. Denn wenn die Kinder Wissen besäßen, müsste ihnen nichts mehr vermittelt werden“ (1950d, S. 7, siehe S. 515).

Cousinet zweifelt daran, dass dafür pädagogische Gründe vorliegen, denn

„die Wahrheit ist, dass der Lehrer den Unterricht mit dem Mittel der Lektionen gestaltet, weil es schon immer so war, weil die Haltung des Wissenden gegenüber dem Unwissenden eine angenehme Haltung ist, weil es schmeichelhaft für das Selbstwertgefühl ist, einem Bedürftigen einen Schatz zu geben, und schließlich hat der Lehrer über lange Zeit ignoriert, dass man den Unterricht auch anders ma-chen könnte“ (1950d, S. 8, siehe S. 515).

Nicht nur das Prinzip der Lektion, sondern auch ihre Praxis sind anzweifelbar, denn nur der Lehrer kennt wirklich ihren Inhalt und ihre Abfolge, und beide sind oft willkürlich festgelegt. Der Zusammenhang zwischen zwei Lektionen besteht nur für den Lehrer, nicht aber für die Kinder (vgl. 1950d, S. 10). Diese Form der Bildung ist mitnichten auf die Zukunft der Kinder ausgerichtet, sondern immer nur auf die Vergangenheit, weil sie lernen, vom Lehrer Vorgetragenes zu wiederholen, anstatt selbst erworbenes Wissen im nächsten Lernschritt anzuwenden.

Die klassische Stunde ist also nicht mehr zu rechtfertigen, weil sich Schüler an anderer Stelle als nur beim Lehrer durch eine aktive Suche informieren können. Ebenso ist das Aufsagen anzuzweifeln, weil es nur der Speicherung und der Vorbereitung auf die nächste Lektion dient. Auch die schriftliche Arbeit, die der Abprüfung des Wissens dient ist nur nach hinten gewandt und dient damit lediglich der Speicherung und Be-wahrung. Diese schriftlichen Arbeiten können nur den Sinn haben, dem Lehrer zu zei-gen, was ein Kind nicht verstanden hat, um mit ihm zusammen herauszufinden, wo das Problem liegt (vgl. 1950d, S. 11). Die Praxis sieht oft anders aus, weil der Lehrer keine Zeit hat, sich um die sogenannten schlechten Schüler zu kümmern.

Offiziell dienen Übungen dazu, den Schüler aktiv werden zu lassen. Üblicherweise er-füllen die Übungen in der Schule aber nicht die drei Bedingungen des Lernens, denen zufolge ein Interesse gegeben sein und der Schüler mehr oder weniger die Technik und das Ziel kennen muss (vgl. 1950d, S. 12). Cousinet prangert an, dass diese sogenannten Übungen meistens nur mechanisch ausgeführt werden, ohne dass die Schüler das ei-gentliche Problem dahinter verstehen (vgl. 1950d, S. 13). „Da diese Übungen nur nä-herungsweise auch solche sind, stellen sie keine echten Aktivitäten dar, Aktivitäten, in denen sich das Kind und der Jugendliche zur Gänze engagieren und dabei all ihre Kräfte einsetzen, um ein präzises Ziel zu erreichen, das sie auch erreichen können.“168 Zu oft

168 „De sorte que ces exercices ne le sont qu’en apparence, ils ne constituent pas de vraies activités, ces activités dans les quelles l’enfant et l’adolescent s’engagent à fond, utilisant toutes leurs énergies pour atteindre un but précis et où ils peuvent parvenir“, Cousinet 1950d, S. 13.

sind die Übungen reine Wiederholungen des vom Lehrer Gesagten und beinhalten ein Wissen, das die Schüler sofort vergessen, weil es nicht mehr gebraucht wird.

Die Disziplin in der Klasse und die Konkurrenz zwischen den Schülern runden die Liste schulischer Maßnahmen ab, mit denen Kinder zum Lernen gebracht werden sollen, was aber nicht wirklich möglich ist. „Man kann keinen Schüler zum Arbeiten bringen, wenn er nicht arbeiten will“169, man erreicht höchstens, dass er so tut als ob er arbeitet. Für Cousinet ist es eine unbewiesene Behauptung, dass Konkurrenz ein natürlicher Instinkt des Menschen, vor allem aber des Kindes ist, und das Gegenteil scheint wahr zu sein.

Das Kind scheint seine Grenzen sehr schnell zu kennen und „sich sowohl als das zu akzeptieren, was es ist, als auch als das, was es zu werden in der Lage ist“ (s’accepte à la fois dans ce qu’il est et dans ce qu’il est capable de devenir, 1950d, S. 14). Wenn die Konkurrenz natürlich wäre, müsste nicht so viel unternommen werden, sie zu schaffen.

Als Beispiel führt Cousinet die Situation des sportlichen Vergleichs an. Ein Kind sieht ein anderes beim Hochsprung die Höhe von 70 cm überwinden und will es schaffen, höher zu springen. Hier sind die drei Bedingungen des Lernens gegeben, denn es ist ein Interesse vorhanden, und das Kind kennt die Technik und das Ziel. In einer Klasse sind diese Dinge nicht gegeben, denn ein Kind sieht nie genau, was ein anderes eigentlich macht, sondern wird lediglich über seinen Platz in der Rangfolge informiert. Das Lau-fen und Springen kann ein Kind sehen, was das andere dagegen in Geschichte gemacht hat, kann es nicht sehen. Es kann also weder imitieren, noch überholen.

„Alles reduziert sich für es auf einen (fast immer künstlich durch die Forderungen des Lehrers oder die Vorwürfe der Eltern hervorgerufenen) vagen Wunsch, auf gut Glück zu arbeiten oder zu versuchen, sich mehr anzustrengen (was immer das bedeuten mag) und mehr Zeit dem Lernen zu opfern“ (1950d, S. 15, siehe S. 515).

Glücklicherweise ist die Konkurrenz mehr oder weniger eine Illusion, denn unter mora-lischen Gesichtspunkten ist ihre Förderung höchst anzweifelbar.

Cousinet unterstellt, dass diese Organisationsformen auf fiktiven Annahmen und tra-ditionell Überkommenem basieren (vgl. 1950d, S. 16). Der Lehrer gibt nicht sein Wis-sen weiter, sondern ein WisWis-sen, das er oftmals aus Quellen hat, aus denen auch die Schüler schöpfen können. Die logische Verbindung zwischen zwei Unterrichtsstunden ist meistens eine rein konventionelle Verbindung. Es ist zwar sein Auftrag, sein Wissen an alle Kinder weiterzugeben und dies auch zu überprüfen, in Wirklichkeit erreicht er aber nur wenige Schüler. Er soll eigentlich nur das wiederholen, was schlecht ange-nommen wurde, in Wirklichkeit wiederholt er alles. Er hat die Aufgabe, alle Kinder zum Arbeiten zu bringen und erreicht in Wirklichkeit nur, dass es ihm vorgemacht wird.

„So unterrichtet der Lehrer keine reale, sondern eine fiktive Klasse. Und um diese Fiktion aufrechtzuerhalten, verbrauchen die Lehrer so viel von ihrer Kraft, dass sie ihr Berufsleben ausgelaugt und entmutigt beenden. Das einzige Mittel zur Abhilfe besteht darin, dass zwar Unterricht gehalten wird, dass er aber von jenen gestaltet wird, für die er gemacht wird, das heißt nicht vom Lehrer, sondern von den Schülern“ (1950d, S. 16, siehe S. 515).

169 „On ne fait pas travailler un élève, s’il ne veut pas travailler“, Cousinet 1950d, S. 13.

Dies ist das eigentliche Ziel der aktiven Methoden, damit das Wissen zu einem Gut für alle und nicht nur für wenige (die sogenannten guten Schüler) wird. „Das Wissen ist heute ein gemeinsames Gut, das allen Schülern in dem Maße zugänglich ist, indem sie in der Lage sind zu berühren, zu betrachten, zu beobachten, zu vergleichen, zu ver-stehen, zu lesen, sich auszudrücken.“170 Weil es dabei darum geht, das Wissen zu suchen und nicht zu empfangen, führt dies zu einer veränderten Aufgabenstellung des Lehrers.

Seine Aufgabe besteht nicht mehr darin, die Kinder mit Arbeit zu versorgen, sondern sie bei ihrer Arbeit zu begleiten (vgl. 1950d, S. 17).

„Es sind die Schüler, die den Unterricht entweder individuell oder – was noch wertvoller ist – in Gruppen vorbereiten und durchführen. Es dreht sich um sie, um ihre Erziehung; es ist an ihnen, diese Erziehung zu bewerkstelligen, zweifellos unter Mithilfe des Lehrers. Aber eine Hilfe ist qualitäts- und quantitätsmäßig nur proportional zur Aktivität sinnvoll, die sie einfordert“ (1950d, S. 17, siehe S. 515).

Die materiellen und geistigen Objekte müssen der geistigen Entwicklung des Kindes entsprechen. Die Dinge müssen also vor den Worten, die direkte Beobachtung vor der Lektüre und die gesprochene Sprache vor der geschriebenen erscheinen. Es bedeutet weitergehend, dass der Lehrer kein Geheimnis aus dem Wissen machen darf, sondern die Schüler zu Schuljahresbeginn darüber informieren muss, welche Arbeiten in etwa im Laufe des Jahres in jedem Fach anstehen. Dies darf keine reine Auflistung sein, son-dern muss eine Beschreibung der zu studierenden Fächer sein. Wenn dieser allgemeine Plan bekannt ist, muss der Lehrer mit den Schülern besprechen, wie er im Laufe des Jahres in einzelne, aufeinanderfolgende Arbeiten umgesetzt werden kann. Dann ist die Arbeit vorbereitet, und die Schüler haben das Gefühl, dass sie auf sie wartet. Aufgabe des Lehrers ist es lediglich, die ersten Materialien zur Verfügung zu stellen, die Haupt-arbeit liegt bei den Schülern. Der Lehrer steht mit seinem Wissen nur dann zur Ver-fügung, wenn er wirklich gebraucht wird. „Der Unterricht beginnt mit der Präsentation der Arbeiten, an denen die Schüler gerade arbeiten, sie bringen sie in die Klasse, zeigen sie dem Lehrer und haben dabei die Elemente vereinigt, mit denen eine Stunde gegeben werden könnte, wenn es noch Stunden gäbe.“171 Die Rolle des Lehrers beschränkt sich dabei darauf, Schülerdiskussionen zu leiten, wenn sie nötig sind, die Antworten der Kinder zu sammeln und dafür zu sorgen, dass sie präziser werden, wo sie unpräzise sind. Durch die gegenseitige Kritik kommen die Schüler zu einer gemeinsamen Arbeit.

Ab einem bestimmtem Alter hilft der Lehrer den Schülern, nur noch das wirklich Wichtige einer Arbeit zu konservieren (1950d, S. 19), damit sie lernen, die Antwort auf eine Frage klar zusammenzufassen und einen präzisen Bericht zu geben.

170 „Le savoir est aujourd’hui un bien commun, accessible à tous les enfants, au fur et à mesure qu’ils sont capables de toucher, de regarder, d’observer, de comparer, de comprendre, de lire, de s’exprimer“, Cousinet 1950d, S. 16.

171 „La classe commence par la présentation que font les élèves de leur travail, ils l’apportent en classe, le présentent au maître, ont réuni les éléments à l’aide desquels pourrait être faite une leçon, s’il y avait encore des leçons“, Cousinet 1950d, S. 18.

Im Grunde macht der Lehrer nichts anderes, als Kindern bei ihrer Arbeit zu helfen, wenn es nötig ist. Dabei kann es kein komplettes Wissen geben, und Cousinet hält diese Bezeichnung für gefährlich. „Ein komplettes Wissen ist eine Bezeichnung, die keinerlei Sinn macht, weder wissenschaftlich, noch pädagogisch.“172 Der Lehrer kann den Kin-dern nur das zur Verfügung stellen, was nötig ist, um „das Unerklärliche zu erhellen oder das Widersprüchliche in Einklang zu bringen“ (pour éclairer de l’inexplicable ou concilier des contradictoires, 1950d, S. 19), und er kann auftauchende Fragen be-antworten. Die Kinder arbeiten und lernen damit genauso, wie sie es vor der Schule getan haben.

Ein letztes Problem besteht in der Kontrolle. Cousinet führt an, dass die reinen Abspei-cher- und Gedächtnisübungen kein wirkliches Wissen produzieren. Außerhalb der Schule beurteilt jeder ein Wissen danach, welchen Gebrauch man davon machen kann (vgl. 1950d, S. 21). Deshalb ist alles Handeln des Schülers auf die Zukunft ausgerichtet und nicht auf die Vergangenheit und auch die Kontrolle des Lehrers muss sich auf die Zukunft ausrichten. Es steht dabei außer Frage, dass der Lehrer über den aktuellen Leistungs- und Entwicklungsstand des Kindes informiert sein muss, schon allein, um Eltern beraten zu können. Diese Kenntnis erlangt er aber eher, wenn er Kinder be-obachtet und aufschreibt, was sie tun. Sehr schnell erkennt er so, ob ein Kind gute oder eher mäßige Beiträge zur Arbeit liefert und ob ihre Qualität von den Fächern abhängt und warum dies alles so ist. Wenn ein Lehrer will, kann er seinen Kindern am Ende oder im Laufe des Jahres Prüfungen geben, die ihnen die echte Möglichkeit bieten, neue Probleme zu lösen und sich zu prüfen. Dabei kann geklärt werden, warum die Kinder diese Probleme gegebenenfalls nicht lösen konnten, was insgesamt zu einer genaueren Kenntnis des Kindes führt, als das Noten leisten können.

1969 veröffentlicht Cousinet einen Artikel zur Praxis der Notengebung. Die scheinbaren

‚Vorteile’ sieht er darin, dass der Schüler auf bequeme Art seinen Wert feststellen, sich einschätzen und selbst besser kennen lernen kann, weil er in jenem Fach ganz gut ist, in diesem etwas schlechter. Mäßige Noten gelten als Ansporn ‚sich anzustrengen’, um bessere zu erhalten (vgl. 1969a, S. 5), und die Befürworter sehen im Wettstreit um die besten Noten einen weiteren Vorteil (vgl. 1969a, S. 6). Cousinet zweifelt die Aussage-kraft von Noten bezüglich der Selbstkenntnis an. Ein Schüler, der regelmäßig schlechte Noten in den „Naturwissenschaften“ (sciences) erhält, bekommt dadurch höchstens ein Bewusstsein davon, dass er ein schlechter Naturwissenschaftler ist. Eine Note macht nur dann Sinn, wenn anschließend versucht wird, mit Hilfe des Lehrers oder Schul-psychologen herauszufinden, warum diese mäßige Note zustande gekommen ist (vgl.

1969a, S. 7). Eine Note kann für sich allein so wenig eine Kenntnis über sich selbst vermitteln, wie

172 „Un savoir complet est une expression qui n’a point de sens, ni scientifique, ni pédagogique.“, Cousinet 1950d, S. 19.

„die Erkenntnis eines Individuums, dass es Bohnen schlecht verträgt, es also per-manent eine schlechte Note im Bohnenvertragen bekommt, ihm nicht die ge-ringste echte Erkenntnis bringt, was es als verdauendes Wesen ist. (…) Mit der Ziffernnote stellt der Schüler etwas über sich fest, nimmt sich an, weil er gar nicht die Möglichkeit hat, es anders zu machen, aber man kann nicht ernsthaft sagen, dass er sich wirklich kennt“ (1969a, S. 7, siehe S. 504).

3.2.2) Wissen und Allgemeinbildung

Die Arbeit in der Schule dreht sich um das Problem des Wissens und der Allgemein-bildung und Cousinet setzt sich intensiv mit dieser Problematik auseinander. Schon 1925 wendet er sich gegen die Auffassung, dass die eigentliche Aufgabe jeder Pädago-gik die Transmission des Wissens durch den speziell ausgebildeten Lehrer und seine Methoden ist. Die traditionelle Pädagogik behauptet, in der Lage zu sein aus dem gro-ßen Schatz der Kenntnisse die wichtigsten auszuwählen und Kindern so zu präsentieren, dass sie sie einfach in ihr Gedächtnis übernehmen können. Nur so ist dem zufolge die Weitergabe der Kultur an die nachfolgende Generation und damit deren Fortbestand gewährleistet (1925b, S. 77).

Cousinet zweifelt diese Grundannahmen über das Lernen an und hält die Vorstellung einer solchen Weitergabe der Kultur für eine Illusion. Er stimmt den Verfechtern der traditionellen Pädagogik zu, dass es Aufgabe der Pädagogen ist, Kinder mit den kul-turellen Schätzen der zivilisierten Menschheit vertraut zu machen, merkt dazu aber an:

„Die Zivilisation beinhaltet: 1. einen Komplex aus Kenntnissen und Techniken, die das bilden, was im eigentlichen Sinn die Zivilisation ist; 2. die geistige Aktivität, die eben-falls nötig war, um sie zu verbessern und um andere zu erfinden.“173 Die Aufgabe der Pädagogik muss es also sein, sowohl Kenntnisse zu präsentieren als auch die „Aktivität des Geistes“ (activité d’esprit, 1925b, S. 78) zuzulassen. Die traditionelle Pädagogik behauptet zwar, dass diese geistige Aktivität durch ihre Vermittlungstätigkeit erreicht wird, die seit 40 Jahren gemachten Beobachtungen zeigen aber, dass dem nicht so ist (vgl. 1925b, S. 78). Von der zu vermittelnden Zivilisation können die Kinder nur profi-tieren, wenn man sie zuerst ihre geistigen Fähigkeiten wirklich entwickeln lässt.

„Diese Zivilisation, die sie den Kindern weitergeben wollen, können sie nur emp-fangen, sie können nur davon profitieren, wenn man sie vorher das Instrument be-herrschen lernen lässt, mit dessen Hilfe sie aus ihr Nutzen ziehen können: und zwar die natürliche geistige Tätigkeit, die Neugierde, den Wunsch zu lernen, die Fähigkeit zu arbeiten“ (1925b, S. 78, siehe S. 492).

Das sind die Qualifikationen, die die Zivilisation am Leben erhielten.

1932 entwickelt Cousinet den Begriff der „kindlichen Kultur“ (culture enfantine, 1932a, S. 106) sowie seine Vorstellung vom „gebildeten Kind“ (l’enfant cultivé, 1932a, S.

173 „(…) la civilisation comprend: 1. un ensemble de connaissances et de techniques qui constituent ce qu’on appelle la civilisation proprement dite; l’activité spirituelle qui a été nécessaire encore pour les améliorer et en inventer d’autres“, Cousinet 1925b, S. 78.