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Zu Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache

Die Konstellation von Wahrnehmung und Sprache und ihre kritisch-theoreti-sche Reflexion stehen im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Hierbei vollziehen sich die Überlegungen in drei großen Schritten:

1. Fragen nach Wesen, Beschaffenheit, Stellenwert und Funktion der sinn-lichen Wahrnehmung wie des sprachsinn-lichen Ausdrucks bilden den Aus-gangspunkt der Diskussion, in deren Verlauf sowohl Berührungspunkte als auch Grenzlinien zwischen den menschlichen Vermögen der Wahrneh-mung und des sprachlichen Ausdrucks markiert werden sollen, um die Problematik, die aus den festgestellten Konditionen menschlicher Existenz resultiert, näher zu erörtern. Grundsätzliche Fragen sind hierbei: In wel-chem Zusammenhang steht Sprache zur sinnlichen Wahrnehmung? Wel-ches sind die Kennzeichen sprachlichen Ausdrucks? WelWel-ches sind die Cha-rakteristika der physiognomischen Anschauungsweise, die exemplarisch für die Problematisierung der Umdeutung und Transformierung von visuell Wahrgenommenem in Zeichen und deren sprachliche Umsetzung betrachtet wird? Inwiefern und aus welchen Gründen können Sprachzeichen sich als unzulänglich im Hinblick auf das durch sie Auszudrückende erweisen?

Wie hängen die verschiedenen Wahrnehmungsmodalitäten untereinander und mit der Sprache zusammen? Gibt es eine Hierarchie der Sinne, und kommt sie in der Sprache zum Ausdruck?

2. Anschließend stelle ich einige zentrale philosophisch-theoretische Modelle zur Erkenntnis- und Sprachtheorie aus der Zeit der Spätaufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor.1 Ziel dieses Abschnitts ist es, einen Überblick über die unterschiedlichen Richtungen, die innerhalb der Entwicklung der Wahrnehmungs- und Sprachtheorie eingeschlagen wur-den, und ihre Verknüpfungen untereinander als historischen Kontext der

1 Die Beschränkung auf einige ausgewählte erkenntnistheoretische Betrachtungen ist zwangsläufig subjektiv, kann aber aufgrund der unzähligen Traktate zur Thematik nicht umgangen werden. Auf entsprechende weitere Abhandlungen werde ich bei Gelegenheit verweisen.

62 KONKRETA: THEORETISCHES– ERKENNTNIS UNDSPRACHE

Auffassungen Lichtenbergs herauszuformen: Als ›Meilensteine‹ unter den erkenntnistheoretischen Denkmodellen, auf die hier größtenteils nicht näher eingegangen werden kann, gelten etwa John Locke mit seinem »Es-say Concerning Human Understanding« von 1690 und George Berkeley mit seinem »Essay Towards a New Theory of Vision« von 1709 sowie seinem »Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge« von 1710 als Vertreter des Empirismus. Es folgen Baruch de Spinozas »Ethik«

(publiziert 1677) und Gottfried Wilhelm Leibniz’ »Monadologie« von 1714 als rationalistische Beiträge zur Erkenntnistheorie, während Etienne Bonnot de Condillacs »Traite´ des sensations« von 1754 und David Hartleys

»Theory of the Human Mind« von 1749 und 1776 sensualistische Auffas-sungen enthalten. David Hume begründet mit seinem »Treatise of Human Nature« von 1738 eine skeptizistische Haltung, während Immanuel Kant in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, der »Kritik der reinen Ver-nunft« von 1781 die Synthese der beiden Hauptrichtungen in der Geschichte der Erkenntnistheorie, Rationalismus und Empirismus, anstrebt.

3. Im Anschluß konzentriert sich die Betrachtung auf Lichtenbergs Äußerun-gen zum Verhältnis zwischen Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache sowie auf den Zusammenhang zwischen seinen erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Überlegungen. Ausgangspunkt der Betrachtungen bil-den hierbei seine Bemerkungen zur Physiognomik und seine Vorstellung von einer »Physiognomik des Stils«. Die Erläuterung der erkenntnistheo-retischen Einsichten Lichtenbergs, insbesondere seiner Desiderate und Postulate an die Sprach- und Wahrnehmungspraxis, gliedert sich thema-tisch in die drei Gebiete Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie, Sprach-kritik und ›Stilphysiognomik‹. Leitfragen sind: Wo und in welcher Form beschäftigt sich Lichtenberg mit erkenntnistheoretischen wie sprachphilo-sophischen Problemen? Welches sind die Gründe und Auslöser für die Beschäftigung mit sprach- und wahrnehmungstheoretischen Fragen? Wel-ches sind seine Postulate und Desiderate? Welche theoretischen Lösungen findet er angesichts der problematischen Transformtion von sinnlichen Erfahrungen in Sprachzeichen? Wie stellt sich Lichtenbergs erkenntnis-theoretisches Denken im Kontext seiner Zeit und seines Werks dar?

1.1 Zur Konstellation von Wahrnehmung und Sprache:

Sinnliche (Ap-)Perzeption und sprachliche (Trans-)Formation Physiognomik: Wissenschaft oder Kunst?

Anhand der Betrachtung von Physiognomik und Sprache als Zeichensystemen wird im folgenden die Deutung visueller Wahrnehmung und ihre Transfor-mation in sprachlichen Ausdruck problematisiert. Aufschlußreich erscheint hierbei bereits die Entwicklung des Physiognomik-Begriffs, da sein Bedeu-tungswandel schon auf die Diskrepanz zwischen sprachlichem Ausdruck und Auszudrückendem hinweist.

63 PHYSIOGNOMIK-BEGRIFF: KANT, ARISTOTELES

»Sie ist die Kunst, aus der sichtbaren Gestalt eines Menschen, folglich aus dem Äußeren das Innere desselben zu beurteilen; es sei seiner Sinnesart oder Denkungsart nach.«1Wenn Immanuel Kant hier die Bezeichnung »Kunst« für seine Definition des Physiognomik-Begriffs – wie sie zu Beginn des entspre-chenden Abschnitts seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« von 1798 steht – wählt, ist dies nicht als willkürlicher Akt des Bezeichnens anzu-sehen. Vielmehr erscheint sie als wohlüberlegte Formulierung, die der vor allem in den siebziger und achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts gängigen und vom ›Physiognomik-Papst‹ Johann Caspar Lavater wie dessen Anhängern proklamierten Auffassung von der Physiognomik als einer »Wissenschaft«

diametral entgegensteht.

Anfänge: Aristoteles

In jenen Jahren eskalierte eine Entwicklung, deren Wurzeln in der griechi-schen Antike zu suchen sind: Die ersten theoretigriechi-schen Reflexionen2über den Zusammenhang von äußerer körperlicher Gestalt und Erscheinung und innerer seelisch-charakterlicher Beschaffenheit finden sich in den pseudo-aristoteli-schen »Physiognomonica«3vom Ende des vierten vorchristlichen Jahrhunderts – dem ersten Text, in dem physiognomische Beobachtungen in wissenschaft-licher und systematischer Weise thematisiert werden.4 Dort bezieht der Ver-fasser den gesamten menschlichen Körper in seine Untersuchungen ein:

»Physiognomik nämlich betreibt man an Körperbewegungen, Körperhaltungen, Hautfarben, an sichtbaren Charakterzügen in den Mienen, an Haaren, an der Glätte der Haut, an der Stimme, am Fleisch, an Teilen (des Körpers) und an der gesamten Körpergestalt.«5

Die Praxis, von einzelnen äußeren Merkmalen auf bestimmte innere Eigen-schaften zu schließen und so die Beziehung zwischen Körper und Seele, die im Physiognomik-Streit des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt, emi-nent zu simplifizieren, wird hier bereits antizipiert. Denn obwohl Aristoteles davon abrät, physiognomische Urteile aus einzelnen Merkmalen abzuleiten, sondern vielmehr nahelegt, sich auf Merkmalsgruppen und -einteilungen

1 Kant/Weischedel XII, 638; Anthropol., II, A. B 270.

2 Erste physiognomische Betrachtungen, jedoch nicht in wissenschaftlich-systemati-scher Form, treten in den Schriften der griechischen Antike zuerst bei Homer auf.

Vgl. Degkwitz 1988, S. 7. Grundgedanken zur Physiognomik finden sich »bereits in Mythen der alten babylonisch-assyrischen, ägyptischen, indischen und chinesischen Kulturkreise« (Frey 1991, S. 7). Vgl. hierzu auch Thomann 1992, S. 210 f.

3 Als gesichert gilt gegenwärtig die Annahme, daß die »Physiognomonica« nicht von Aristoteles selbst, sondern von heute nicht näher bekannten Schülern des Aristo-teles verfaßt wurden: »Dafür sprechen die Anlage des Textes und seine große Nähe zu Aristoteles’ Biologie . . .« (Degkwitz 1988, S. 3).

4 Vgl. Degkwitz 1988, S. 1. Vgl. auch HWPh VII, Sp. 955.

5 Aristoteles, § 7 (806a 26–34).

64 KONKRETA: THEORETISCHES– ERKENNTNIS UNDSPRACHE

sowie die Rangordnung der Zeichen zu stützen, wirken seine physiognomi-schen Lehrsätze oftmals so grob-pauschalisierend wie analytisch-elementar:6

»Weiches Haar aber bezeichnet Feigheit, hartes (Haar) dagegen Tapferkeit. [. . .]

Denn sehr feige sind Hirsch, Hase und Schaf und diese Lebewesen haben sehr weiches Haar; sehr tapfer sind Löwe und Wildschwein und diese Lebewesen haben hartes Haar.«7

Auch pathognomische Beobachtungen, die sich im Gegensatz zu den sich auf die festen, stehenden Körpermerkmale (beispielsweise die Schädelform) beziehenden physiognomischen Betrachtungen auf Gestik und Ausdruck rich-ten, werden in die Theorie eingebracht, da auch sie habituell und damit phy-siognomisch werden können.8

Die Konstatierung der engen Beziehung zwischen Körper und Seele, die von der wechselseitigen Affektion beider ›Partner‹ geprägt ist, bildet die essentielle Erkenntnis der Darlegungen Aristoteles’.9Sie ist darüber hinaus als fundamental für die nachfolgende Entwicklung und Eskalation der physio-gnomischen Lehre im 18. Jahrhundert anzusehen.10

Fortführung: Della Porta und Lebrun

Physiognomische Betrachtungen blieben das gesamte Mittelalter hindurch präsent.11Einen Meilenstein der neuzeitlichen Physiognomik stellt Giovanni Battista Della Portas Werk »Della Fisionomia del L›Huomo« von 162712dar, in dem aus Vergleichen von menschlichen und tierischen Physiognomien cha-rakterologische Schlußfolgerungen gezogen und typologische Zuordnungen

6 Vgl. HWPh VII, Sp. 956.

7 Aristoteles, § 9 (806b 3–31).

8 Vgl. HWPh VII, Sp. 956. Auch dies wird im 18. Jahrhundert einer der Streitpunkte sein. Wichtig ist zudem, daß schon bei Aristoteles die sogenannte »Lehre von der Affinität der Affekte« formuliert wird. »Affinität der Affekte« meint hierbei die Auffassung, daß von bereits diagnostizierten charakterlichen Eigenschaften auf weitere geschlossen werden darf: »Wer zornig und neidisch sei, der sei auch leicht rachsüchtig und boshaft.« (HWPh VII, Sp. 956).

9 Vgl. HWPh VII, Sp. 956.

10 So Frey: »Und so gab Aristoteles’ Traktat gewissermaßen das Startsignal zu einem jahrhundertelagen Streifzug entlang des menschlichen Körpers. Philosophen, Kir-chenlehrer, Maler, Dichter, Mediziner und viele andere, die sich der Faszination des menschlichen Erscheinungsbildes und seiner charakterologischen Suggestivkraft nicht erwehren konnten, lieferten in einem nicht enden wollenden Strom von Publi-kationen immer wieder neue Beiträge zur physiognomischen Charakterologie, die sämtlich den aristotelischen Prinzipien folgten. Durch die Erfindung des Buch-drucks und vor allem durch die Technik der Kupferstiche gewann die Breitenwir-kung dieser Traktate seit dem 16. Jahrhundert noch zusätzlich an Momentum.«

(Frey 1991, S. 10.).

11 Vgl. dazu Eco41995, S. 75.

12 Vgl. Della Porta 1627. Bereits 1586 erschien eine Abhandlung »De humana phy-siognomonia« von Della Porta mit ähnlichem Inhalt.

65 PHYSIOGNOMIK-BEGRIFF: DELLAPORTA, LEBRUN

wie Löwe = Gerechtigkeit und Katze = Kleinmut betrieben werden. In der Nachfolge Della Portas schließlich sind die Physiognomisten, wie Eco tref-fend formuliert, ›nicht mehr zu halten‹13und überbieten sich gegenseitig mit ihren physiognomischen Traktaten. So diffenziert beispielsweise Charles Lebrun in seiner »Confe´rence sur l’expression ge´ne´rale et particulie`re«14von 1702 Della Portas Lehre, indem er die ganzheitliche Betrachtung des Men-schen zugunsten der geometriMen-schen Anlage des Kopfprofils aufgibt. Lebruns Einteilung in ›Fuchs-‹, ›Affen-‹ oder ›Papageien-‹Menschen, die aus der indi-vidualisierenden, idealtypischen Überhöhung bestimmter Merkmalsgruppen resultiert, mutet dabei geradezu grotesk an.15

Hier wird die Entwicklung der Physiognomik weg von der Betrachtung des Körpers hin zur vorrangigen Stellung der Gesichtszüge bei der Erforschung des Äußeren in seiner Abhängigkeitsbeziehung zum Inneren schrittweise voll-zogen, bis sie dann im 18. Jahrhundert mit der ausschließlichen Betrachtung des Gesichtsprofils in Form von Silhouetten ihren Höhepunkt erreicht.

Begründet liegt diese Entwicklung bereits in den antiken Traktaten. Denn schon damals bildeten Betrachtungen über die Teile des Gesichts den ausführ-lichsten und quantitativ umfangreichsten Textteil und waren somit Schwer-punkte physiognomischer Darstellungen, die gelegentlich auch allein aus Betrachtungen des Gesichts bestanden. Wenn zudem das Gesicht und vor allem die Augen stets als ausschlaggebende physiognomische Indizien bezeichnet wurden, liegt die Gepflogenheit nicht mehr fern, sich bei physio-gnomischen Argumentationen auf das Gesicht als ausschließliches Betrach-tungsobjekt zu beschränken.16

Aufklärung: Zedler, Lavater

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wird der Begriff der Physiognomie dop-pelsinnig verwendet: einerseits ungefähr in seiner heutigen Bedeutung, also als äußeres Erscheinungsbild, vor allem des Menschen, andererseits als Syn-onym für den damals noch nicht existierenden Physiognomik-Begriff.17 In

13 Vgl. Eco41995, S. 75.

14 Vgl. Lebrun 1702.

15 Vgl. HWPh VII, Sp. 957.

16 Vgl. Thomann 1992, S. 209. Diese Prominenz der Gesichtszüge hat sich bis heute in den Definitionen von Physiognomie und Physiognomik erhalten.

17 Die im 18. Jahrhundert erfolgte Differenzierung des Physiognomie-Begriffs durch die Einführung des Physiognomik-Begriffs im Deutschen konstatiert auch Tho-mann: »Wenn man von der Physiognomie eines Menschen spricht, meint man des-sen Gesicht in seiner besonderen Beschaffenheit, meist auch in der Eigenschaft als Ausdrucksträger des Wesens der betreffenden Persönlichkeit. [. . .] Im Unterschied zu »Physiognomie« bedeutet »Physiognomik« das Verfahren, aus der Physiogno-mie Schlüsse auf das Wesen einer Person zu ziehen, und jede Lehre oder Wissen-schaft, deren Ziel es ist, die Fähigkeit zu einem solchen Verfahren auszubilden.

Diese Differenzierung kennt das Englische nicht; »physiognomy« kann

Physio-66 KONKRETA: THEORETISCHES– ERKENNTNIS UNDSPRACHE

seinem »Universal-Lexikon« von 1741 unterscheidet Johann Heinrich Zedler bereits zwischen den beiden Begriffen »Physiognomica« und »Physiogno-mie«. Allerdings erscheinen die Definitionen der beiden Lexeme vom heuti-gen Sprachgebrauch aus – nach dem man, allein dem Wortklang nach, »Phy-siognomica« mit »Physiognomik« in der Bedeutung gleichsetzen würde – überraschend: Während nämlich »Physiognomica« als »diejenigen Kennzei-chen, welche sich in dem Gesichte sehen lassen, und daraus man eines und das andere wahrscheinlich beurteilen kan«18, definiert werden, gilt »Physiogno-mie« als »die Kunst, welche aus der äusserlichen Beschaffenheit der Glied-maßen oder den Lineamenten des Leibes eines Menschen dessen Natur und Gemüths-Disposition zu erkennen giebt«19.

Interessant erscheint hier, daß die »Physiognomica« als äußere Kennzei-chen nur auf das Gesicht bezogen werden, während der Physiognomie-Begriff den gesamten ›Leib‹ des Menschen umspannt. Im weiteren Verlauf der Phy-siognomie-Definition nimmt Zedler jedoch eine Einteilung nach zwei Anschauungsweisen vor: In einer weiteren Auffassung erstrecke sich Physio-gnomie nämlich »auf alle Glieder des Leibes«20, während sie »im engern Verstand [. . .] sonderlich auf das äusserliche Ansehen des Gesichts«21beziehe.

Zudem führt Zedler ein vom Substantiv Physiognomie deriviertes Verb auf-führt, das im heutigen Wortgebrauch nicht mehr üblich ist und folgenderma-ßen definiert wird:

»Physiognomizare, heißt so viel als aus der Gegeneinanderhaltung der Theile des menschlichen Cörpers und aus andern Zeichen, die man an dem Cörper antrifft des Mensch Gemüths-Art zu erforschen. Es ist dieses ein Kunstwort, welches Aristoteles in die Physiognomie eingeführet, und von andern Schriftstellern ist beybehalten wor-den.«22

In seiner eingedeutschten Form wird es in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts häufig auch im übertragenen Sinne verwendet, so auch bei Lichten-berg, etwa in seiner (anti-)physiognomischen Streitschrift: »der Bauer hat seine Tage, die die Witterung des ganzen Jahrs bestimmen, gemeiniglich Fest-tage, weil er da müßig genug ist zu physiognomisieren.«23

gnomie und Physiognomik bedeuten, das Wort »physiognomics« hat sich nicht recht durchsetzen können. Auch im Deutschen hatte früher »Physiognomie« diesen Doppelsinn, denn »Physiognomik« wurde erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-hunderts eingeführt, ja die ursprüngliche Bedeutung von »Physiognomie« ist das, was wir heute mit Physiognomik bezeichnen.« (Thomann 1992, S. 209). Hier wird zugleich deutlich, daß sich die oben erwähnte Prominenz der Gesichtszüge bis heute in den Definitionen von Physiognomie und Physiognomik erhalten hat.

Vgl. dazu beispielsweise Duden V (21994). S. 2548.

18 Zedler XXVII (1741), Sp. 2239.

19 Zedler XXVII (1741), Sp. 2239.

20 Zedler XXVII (1741), Sp. 2239.

21 Zedler XXVII (1741), Sp. 2239.

22 Zedler XXVII (1741), Sp. 2241.

23 SB III, S. 283. »Physiognomisieren« meint hierbei soviel wie »prophezeihen«. Dies

67 PHYSIOGNOMIK-BEGRIFF: ZEDLER, LAVATER

Ein reges, zunehmend engagierteres Interesse an der Physiognomik bestimmt die Diskussion unter den Gelehrten vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.24An ihr beteiligen sich nun in steigendem Maße auch nicht-akademisch Gebildete, indem sie sich enthuasiastisch physiognomischen Beobachtungen hingeben.25 Für diese gesteigerte Intensität der Auseinander-setzung mit physiognomischen Phänomenen sprechen verschiedene Indizien:

Zu ihnen zählt beispielsweise die zunehmende Quantität der Begriffe im Wortfeld um die Physiognomik, wie in Zedlers »Universal-Lexicon« zu erken-nen: Allein für Physiognomie gibt es zwei Synonyme in Form von »Physio-gnomosia« und »Physiognomia«. Forderungen nach um- und zusammenfas-senden Sammlungen menschlicher Physiognomien werden laut. So postuliert Johann Gottfried Herder in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts:

»Indes da in den neuesten Zeiten der edle Bemerkungsgeist für unser Geschlecht wirklich schon erwacht ist und man von einigen, wie wohl nur von wenigen Natio-nen Abbildungen hat [. . .]: So wäre es ein schönes Geschenk, wenn Jemand, der es kann, die hie und da zerstreueten treuen Gemälde der Verschiedenheit unseres Geschlechts sammlete und damit den Grund zu einer sprechenden Naturlehre und Physiognomik der Menschheit legte. Philosophischer könnte die Kunst schwerlich angewandt werden und eine anthropologische Charte der Erde [. . .], auf der nichts angedeutet werden müßte, als was Diversität der Menschheit ist, diese aber auch in allen Erscheinungen und Rücksichten; eine solche würde das philanthropische Werk krönen.«26

entspricht Lichtenbergs Auffassung von der Physiognomie als Abart der Prophetie.

Vgl. GII95. In einer übertragenen Bedeutung benutzt Lichtenberg den Begriff auch in FI837, »wobei »physiognomisieren« [dort, U. F.] soviel bedeutet wie: die Stellen herausziehen, in denen physiognomische Wörter und Redensarten verwendet wer-den.« ( Jung 1967, S. 18).

24 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang Käusers Beobachtung, »daß die Phasen physiognomischer Hochkonjunktur mit den Epochenschwellen und Sattel-zeiten des späten 18. und des frühen 20. Jahrhunderts zusammenfallen« (Käuser 1989, S. 21), denn die »Konjunkturen physiognomischer Theorien hängen ganz offenbar aufs engste mit der Erfindung und Ausbreitung neuer visueller Medien und Kunsttechniken zusammen« (Käuser 1989, S. 21). So bildeten der Holzschnitt im 16. Jahrhundert, die Silhouette im 18. Jahrhundert und die Photographie im 19.

Jahrhundert als neue Techniken der Bildwiedergabe die mediale Basis für die Wie-derbelebungen der Physiognomik.« (Vgl. Käuser 1989, S. 21). Als aussagekräftigen Beleg für »diese Konkordanz von Medieninnovation und Theorieinnovation« (Käu-ser 1989, S. 22) nennt er Bela Bala´zs Filmtheorie »Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films« von 1924, die nichts anderes sei »als eine Anwendung physio-gnomischer Theorie auf den Film« (ebd.).

25 Allerdings muß hier relativierend angemerkt werden, daß schon seit »altersher [. . .]

kritische Denker die Gültigkeit physiognomischer Aussagen mindestens ebenso beharrlich bestritten [hatten, U. F.], wie ihre Adepten daran festhielten« (Frey 1991, S. 11). So konstatierte Zedler schon 1741: »Von dem Werth dieser Kunst sind die Gedancken der Gelehrten unterschiedlich, indem einige viel andere wenig darauf halten.« (Zedler XXVII (1741), Sp. 2240).

26 Herder VI, 250; Ideen, II, 6, VII.

68 KONKRETA: THEORETISCHES– ERKENNTNIS UNDSPRACHE

Johann Georg Sulzer macht in seiner »Allgemeinen Theorie« einen konkreten Vorschlag zu einer adäquaten Beschreibung der menschlichen »Gebehrden«

durch die bildende Kunst:

»So wie man auch in der reichsten Sprache die verschiedenen Gesichtsbildungen der Menschen nur sehr unvollkommen beschreiben kann, so findet man auch die größten Schwierigkeiten, die Gebehrden bestimmt zu beschreiben. [. . .] Doch sollte man die Hoffnung, den Ausdruk der Sprache in diesem Stük zu einer mehrern Vollständigkeit und zu genauerer Bestimmung zu bringen nicht verloren geben. [. . .] Die zeichnen-den Künste könnten darin zeichnen-den rezeichnen-denzeichnen-den einen wichtigen Dienst leisten. Es ist zu wünschen, daß ein guter Zeichner eine Sammlung nachdrüklicher und redender Gebehrden anfangen möchte. [. . .] Wenn alsdenn ein Mann von Genie eine solche Sammlung vor sich nähme, Beschreibungen und Anmerkungen dazu machte, so würde nach und nach der Theil der Kunst, der itzt so wenig bearbeitet ist, zu grosser Vollkommenheit kommen können.«27

Einen Schritt in die Richtung einer umfassenden Physiognomien-Sammlung wagt der Schweizer Theologe Johann Caspar Lavater 1775 mit der Heraus-gabe des ersten Bandes seiner berühmt-berüchtigten »Physiognomischen Frag-mente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe«, dem bis 1778 vier weitere Bände im Prachtausgaben-Format folgten. Lavaters »Frag-mente«, die als Hauptwerk der Physiognomik-Lehre im 18. Jahrhundert gel-ten, lösten eine gewaltige Welle enthusiastischer Beschäftigung mit Physio-gnomik aus. Jeder, ob physiognomisch ›vorgebildet‹ oder nicht, versuchte nun, angeleitet durch Lavaters Vorbild, selbst sein Glück als Physiognomist.28 Der Grund für diese Popularität ist in Lavaters Werk selbst zu finden: Die

»Physiognomischen Fragmente« setzen sich aus einem theoretischen Teil, der genaue Darlegungen von Lavaters Physiognomik-Auffassung, von der Wis-senschaftlichkeit der Physiognomik und von den Voraussetzungen enthält, die notwendig waren, um als Physiognomist zu gelten, sowie aus einem prakti-schen Teil zusammen, in dem anhand von Silhouetten exemplarische physio-gnomisch-theoretische Argumentationen vorgeführt werden und pädagogische Übungen den lernbegierigen Rezipienten zu eigenen physiognomischen Betrachtungen anleiten und ermuntern sollen.29

27 Sulzer II (21792), S. 315. Hier klingt ein Aspekt der sprachlichen Fixierung phy-siognomischer Beobachtungen an, der Lichtenberg sein Leben lang beschäftigte:

die Unzulänglichkeit der Sprache bei der Beschreibung von Sinneseindrücken im allgemeinen und physiognomischer Phänomene im besonderen.

28 So erläutert Frey anschaulich: »Die Begeisterung, die das Buch auslöste, war unge-heuerlich. Physiognomische Erörterungen beherrschten sofort die Gespräche in allen Lagern, und buchstäblich jede deutsche »Wochenschrift – von den gelehrten Anzeigen in Frankfurt und Göttingen und von Wieland Teutschem Merkur bis zu dem kleinsten Lokalblättchen« nahm sich des Themas an.« (Frey 1991, S. 21.).

29 Über die Wirkung dieser pädagogischen Übungen schreibt Frey: »Die in den Frag-menten zum Selbststudium der »Wissenschaft der Wissenschaften« empfohlenen

»Uebungen zur Prüfung des physiognomischen Genies« trieben zudem in den Salons der guten Gesellschaft derartige Blüten, daß sich bald schon ganz Deutsch-land geradezu in ein physiognomisierendes Tollhaus zu verwandeln schien.« (Frey 1991, S. 21.).

69 PHYSIOGNOMIK-BEGRIFF: ZEDLER, LAVATER

Mit der Physiognomik-Definition im ersten Band seiner »Fragmente« voll-zieht Lavater die uns heute geläufige Trennung der Physiognomik von der Physiognomie: Lavater selbst definiert die Physiognomik als »die Fertigkeit durch das Aeußerliche eines Menschen sein Innres zu erkennen«30. Damit hebt er sie erstmals vom »Physiognomie«-Begriff ab, der bis dahin beide Bedeu-tungen in sich vereint hatte.31Dagegen stellt die Physiognomie im Zuge dieser Neudefinierung nurmehr das wissenschaftliche Untersuchungsobjekt der Phy-siognomik dar:

»In so fern ich von der Physiognomik als einer Wissenschaft rede – begreif‹ ich unter Physiognomie alle unmittelbaren Aeußerungen des Menschen. Alle Züge, Umrisse, alle passive und active Bewegungen, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Körpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er seine Person zeigt – ist der Gegenstand der Physiogno-mik.«32

Ähnlich wie Zedler unterscheidet auch Lavater eine engere und eine weitere Auffassung der beiden Begriffe:

»Im weitesten Verstand ist mir menschliche Physiognomie – das Aeußere, die Ober-fläche des Menschen in Ruhe oder Bewegung [. . .]. Physiognomik, das Wissen, die Kenntnisse des Verhältnisses des Aeußern mit dem Innern; der sichtbaren Oberfläche mit dem unsichtbaren Innhalt; dessen was sichtbar und wahrnehmlich belebt wird, mit dem was unsichtbar und unwahrnehmlich belebt; der sichtbaren Wirkung zu der unsichtbaren Kraft. Im engern Verstand ist Physiognomie die Gesichtsbildung, und Physiognomik Kenntniß der Gesichtszüge und ihrer Bedeutung.«33

Schließlich fächert er die Physiognomik in verschiedene, je nach Art und Schwerpunkt der Betrachtung unterschiedlich benannte Teilgebiete auf, wie zum Beispiel »Fundamental-«, »anatomische«, »Temperament-«, »medicini-sche«, »moralische« und »intellectuelle« Physiognomik.34Offiziell eingeführt wird hier die Bezeichnung »Physiognomist« für denjenigen, der Physiogno-mik nach bestimmten Richtlinien betreibt und dessen Voraussetzungen und Aufgaben in einem besonderen Kapitel der »Fragmente« besprochen werden.35 Lavaters Neudefinierung der Begriffe schlägt sich bald in den zeitgenössi-schen Wörterbüchern nieder. So trägt Johann Christian Adelung in seiner zweiten Ausgabe des »Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeut-schen Mundart« von 1793 unter dem Lemma »Physiognomie« ein:

»Die Physiognomie, [. . .] aus dem Griechischen, die Gesichtsbildung, die Gesichts-züge, besonders so fern sich daraus auf die moralische Beschaffenheit schließen läßt.

Daher die Physiognomik, die Lehre von den Gesichtszügen, als Erkenntnisquellen des moralischen Charakters, die Gesichtsdeutung; der Physiognomist, der dieser Lehre kundig zu seyn glaubt.«36

30 Lavater, Ausw. 1984, S. 21. Hervorhebung von mir, U. F.

31 Vgl. Louis 1992, S. 114.

32 Lavater, Ausw. 1984, S. 21 f.

33 Lavater, Ausw. 1984, S. 22.

34 Vgl. Lavater, Ausw. 1984, S. 22 f.

35 Vgl. Lavater, Ausw. 1984, S. 107 ff.