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Mit einem Überblick über den Stellenwert der sinnlichen Wahrnehmung und ihren Ausdruck durch die Sprachzeichen im Werk Lichtenbergs werden im folgenden Abschnitt die Ausgangspositionen meiner Ausführungen in Form von Thesen und Fragen skizziert. Die Untersuchung der vorgestellten Thesen anhand detaillierter Textanalysen sowohl in sprachlich-stilistischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die verbale Umsetzung einzelner Sinnesmodalitäten unter Berücksichtigung der theoretischen Diskussion um den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Sprache steht im Zentrum des zweiten Hauptteils. Ein Überblick über das ihm zugrundeliegende Textmaterial schließt sich an die Darlegung der Thesen an.

Sprachliche Gestaltung

Sinnliche Wahrnehmungen, insbesondere auch als Betrachtung des eigenen Ichs aus der Außenperspektive, nehmen im Werk Lichtenbergs zentrale Posi-tionen ein – und zwar nicht nur im Hinblick auf seine hauptberufliche Tätig-keit als Experimentalphysiker, die ja auf der Deskription und Interpretation sinnlich wahrgenommener Phänomene basiert, sondern vor allem hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen und sprachästhetischen Anschauungen sowie – als deren Konsequenz – ihrer sprachpraktischen Einlösung in seinen litera-rischen Schriften.

Nicht erst bei näherer analytischer Betrachtung seiner Schriften zeigt sich, daß Lichtenbergs Sprachgebrauch neben Konzision, Präzision und Ökonomie im Ausdruck ein hoher Grad an sinnlicher Anschaulichkeit prägt, die gleich-sam zu einer ›Konkretisierung‹ und Unmittelbarkeit der Sprache beiträgt.

Diese Konkretisierung wird offensichtlich vor allem im häufigen Einsatz stilistischer Mittel wie Metaphorik und innovative Wortkombinationen und -bildungen erreicht. Die für Lichtenberg typische Art der Verknüpfung dieser und weiterer Stilmittel, ihre gleichsam synthetische Verbindung im sprachli-chen Ausdruck verleiht seinen Schriften sowohl einen originell-individuellen – oder besser: individualisierten, weil bewußt herbeigeführten – Charakterzug als auch eine rezeptionsorientierte Diktion.

Die Erkenntnis, daß Lichtenbergs Sprachgestaltung auf die Erzeugung einer sinnlich-konkreten Unmittelbarkeit hin angelegt erscheint, die vor allem durch entsprechende metaphorische Verschlüsselungen, allegorische Veran-schaulichungen abstrakter Sachverhalte sowie durch assoziative Wortverbin-dungen und aus ihnen resultierende neologistische Komposita bewirkt wird, bildet eine der zentralen Ausgangsthesen meiner Arbeit.

33 THESEN UND FRAGEN:SPRACHTHEORETISCHEREFLEXIONEN

Differenz zwischen Ausdruck und Auszudrückendem

Daß Lichtenberg das sprachliche Erscheinungsbild seiner Schriften bewußt gestaltet, legt nicht nur mittelbar die stilistische Virtuosität und Ausgefeiltheit seiner Sprache nahe, sondern zeigt sich vor allem auch in seinen sprachtheo-retischen Reflexionen, die über seine »Sudelbücher« verstreut anzutreffen sind. Im Zentrum dieser Reflexionen steht die Kritik an der prinzipiellen Unzulänglichkeit der Sprachzeichen in ihrer Funktion als Ausdrucksträger gedanklicher Prozesse und sensueller Apperzeptionen. Aus dieser Einsicht resultiert Lichtenbergs Erkenntnis, daß dem sprachlichen Ausdruck als Träger transformierter Sinneswahrnehmungen und Gedanken generell ausschließlich metaphorischer Charakter zugestanden werden dürfte, da das Wesen der Spra-che mit seiner konventionellen ZeiSpra-chenordnung zu verschieden ersSpra-cheint von den Denk- und Wahrnehmungsstrukturen des Individuums, vor allem im Hin-blick auf die Differenz zwischen jeweils subjektiv-individueller Wahrneh-mung und ebensolchem Denken des Einzelnen auf der einen Seite und den generalisierenden, weil auf intersubjektive Kommunikation hin angelegten Sprachzeichen auf der anderen Seite. Insofern erscheint der sprachliche Aus-druck als das Resultat einer Selbstentfremdung: Ihn prägt eine Distanz zum eigenen Ich.

Sprache stellt demnach ausschließlich eine dem eigentlich Auszudrücken-den angenäherte, aber niemals ihm adäquate Form der Kommunikation dar:

Sprachzeichen können deshalb mit Blick auf die individuell verschiedenen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen lediglich »Differential-Wahrheiten« ver-mitteln. Mit dieser Auffassung, nach der Sprache und Denken auseinanderfallen, distanziert sich Lichtenberg von der streng rationalistischen Aufklärung, die in die Repräsentations- und Kommunikationsfunktion des sprachlichen Zeichens vertraut:1»Er wird zugleich zu einem Vorläufer des kommenden 19. Jahrhun-derts, zu Schopenhauer, Nietzsche und Hofmannsthal, die die ›Krise der Spra-che‹ vollends empfinden und auszudrücken versuchen werden«,2so Schiewe.

1 Dazu Jürgen Schiewe: »Diese wichtige Einsicht, die ihn trennt von den Grund-annahmen der streng rationalistischen Aufklärung, gilt ihm einmal prinzipiell für das Verhältnis zwischen den Begriffen des Denken und den Wörtern der Sprache, es gilt ihm auch für die verschiedenen gesellschaftlich bedingten Sprachformen und Sprachebenen. Lichtenbergs Sprachkritik nimmt ihren Ausgangspunkt im Zweifel an der adäquaten Bezeichnungsfähigkeit von Gedanken und Dingen durch Worte, und sie setzt sich fort in einem Zweifel an einer adäquaten Kommunikation durch Worte, d. h. an einem gegenseitigen sprachlichen Verstehen der Menschen unterein-ander.« (Schiewe 1998, S. 121.).

2 Schiewe 1998, S. 122.

34 PRÄLIMINARIA: SPRACHE UNDSINNLICHKEIT BEILICHTENBERG

Individualisierung der Sprache als Ausweg:

Sprachästhetische Grundanschauungen Lichtenbergs

Trotz seiner Einsicht in die Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks als Medium der Mitteilung individuell-subjektiver Erkenntnisse sucht Lichten-berg nicht außerhalb der Sprache nach Lösungen, sondern sieht die Lösungs-wege der Ausdrucksschwierigkeiten innerhalb der Sprache. Als notwendigste Bedingung für die Herausbildung einer dem Auszudrückenden adäquateren Sprachform erscheint in Lichtenbergs Reflexionen die Adaption der Sprache an das eigene Denken unter Beibehaltung der intersubjektiven Kommunika-tionsfunktion der Sprache: Eine derartige ›Individualisierung des Ausdrucks‹

kann durch eine für das jeweilige Individuum charakteristische Kombination verschiedener stilistischer Mittel erreicht werden. Insbesondere sind hierbei extraordinäre Assoziationsleistungen zu nennen, die sich sprachlich in un-gewöhnlichen Metapherbildungen realisieren. Bildlichkeit im Ausdruck erscheint Lichtenberg hierbei insofern besonders wichtig, als sie dem abstra-hierenden Charakter der Sprachzeichen entgegenzuwirken vermag, indem sie der Sprache ein Moment von Sinnlichkeit verleiht – und diese damit wesens-mäßig an ihren Ursprung in der sensuellen Apperzeption annähert.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Individualisierung der Sprache bildet – neben der Kunstfertigkeit im Umgang mit sprachlichen Ausdrucks-mitteln – die eigene unmittelbare Anschauung, denn:

»Simpel und edel schreiben erfordert vielleicht die größte Spannung der Kräfte, weil in einer allgemeinen Bestrebung unserer Seelenkräfte gefallen zu wollen, sich nichts so leicht einschleicht als das Gesuchte, es wird außerdem eine ganz eigene Art dazu erfordert die Dinge in der Welt zu beobachten, die eher das Werk eines nicht sehr belesenen schönen Geistes als eines Studiums des Altertums ist.«3

Dieser »Sudelbuch«-Eintrag enthält die wichtigsten Konstituenten der Sprach-und Wahrnehmungsauffassung Lichtenbergs in konzentrierter Form, Sprach-und zwar insofern, als hier

a) der ästhetische Anspruch an den Sprachstil, »simpel und edel« zu sein;

b) die sinnliche Anschauung unter Betonung ihres individuellen, »eigenen«

Charakters als Voraussetzung und Grundlage für die Einlösung dieses Stil-Postulats;

c) der Vorrang der sinnlichen Wahrnehmung und anschaulichen Erfahrung vor der gleichsam ›abstrakten‹, da vorrangig intellektuellen Wissensaneig-nung durch Lektüre, impliziert in der Gegenüberstellung des »nicht sehr belesenen schönen Geistes« und des »Studiums des Altertums«,

artikuliert werden.

Auf engstem Raum sind die essentiellen sprachtheoretischen Erkenntnisse Lichtenbergs in der für ihn charakteristischen Dichte und Präzision

konzen-3 Aus: BI20. Hervorhebung von mir, U. F.

35 THESEN UNDFRAGEN: SPRACHÄSTHETISCHEGEDANKEN

triert, als wichtigste Begriffe erscheinen Sprachstil, (sinnliche) Anschauung und Individualisierung. Dabei hängt von der jeweils »ganz eigenen Art« der Beobachtung die Beschaffenheit der Sprache und ihres Stils ab. Sprache und Erkenntnisweise sind demzufolge durch den Anspruch auf und das Postulat nach Individualisierung miteinander verbunden.

Der zitierte »Sudelbuch«-Eintrag nimmt hinsichtlich der Sprach- und Wahrnehmungsästhetik eine gleichsam ambivalente Stellung ein: Zum einen trägt er von seinem semantischen Gehalt her gesehen ›meta-sprachliche‹ Züge, indem er eine Reflexion über Sprachstil und Anschauung enthält. Zum ande-ren kann der Eintrag insofern als Einlösung des in der Reflexion geäußerten Postulats angesehen werden, als er selbst ein Beispiel für die sprachliche Praxis und damit angewandte Sprachtheorie Lichtenbergs darstellt.

Die Beziehung von Sprache und Sinnlichkeit4 erweist sich nach diesem kursorischen Überblick zunächst als eine interdependente, insofern, als – die sensuelle Apperzeption als Basis sprachlicher Begrifflichkeiten in

indi-vidualisierter Form die (ideale) Grundlage für die Herausbildung des ästhe-tischen Stil- und Sprachideals Lichtenbergs bildet;

– die Sprache als Trägerin in Zeichen transformierter sinnlicher Wahrneh-mung und zugleich als Objekt sinnlicher (Ap-)Perzeption aufgefaßt werden kann, indem ihr bestimmte Stilmittel einen gewissen Grad an Sinnlichkeit verleihen und sie sich dadurch wesensmäßig den sensuellen Eindrücken als ihrem Ursprung annähert;

– die Individualität, ›Eigenheit‹, das Konstituens sinnlicher Anschauung bil-det5und Individualisierung für den sprachlichen Ausdruck postuliert wird.

Wenn in den vorangegangenen Ausführungen wie selbstverständlich von Lich-tenbergs Erkenntnis- und Sprachtheorie die Rede war, so impliziert dies bereits die Existenz einer derartigen ›Ästhetik‹ oder ›Theorie‹ innerhalb des Werks Lichtenbergs. Da aufgrund der spezifischen Beschaffenheit des Lich-tenbergischen Werks eine solche Theorie in einer geschlossenen systemati-schen Form nicht vorliegt, verlangt die These von der Existenz theoretischer Reflexionen zunächst nach Beantwortung der Frage, wo die Theorie innerhalb des Werks artikuliert wird. Erst in einem zweiten Schritt folgt die Differen-zierung der theoretischen Anschauungen Lichtenbergs. Hierbei muß vor allem

4 Nach Lichtenbergs Definition im weitesten Sinne als »Vermögen, sinnliche Ein-drücke zu empfangen« (aus: KII64) verstanden.

5 Diese Auffassung von der je individuellen Ausprägung der sinnlichen Wahrneh-mung entspricht den aktuellen Erkenntnissen in der wahrnehWahrneh-mungspsychologischen Gehirnforschung: »Das Gehirn bildet die Außenwelt nicht einfach ab, wie das ein Photoapparat oder ein Tondbandgerät tut. Es interpretiert die Signale von außen und setzt daraus eine ganz persönliche Welt zusammen. Aus den Signalen der Außen-welt wird also eine InnenAußen-welt geschaffen, und sehr oft haben beide Dinge nur wenig miteinander zu tun.« (Zeitmagazin, Nr. 22 vom 24. Mai 1996, S. 44). Über-deutlich wird diese Inkongruenz von äußeren Eindrücken und inneren Vorstellun-gen im Zusammenhang mit synästhetischen WahrnehmunVorstellun-gen.

36 PRÄLIMINARIA: SPRACHE UNDSINNLICHKEIT BEILICHTENBERG

die Konstellation von Sprachkritik, sogenannter »Physiognomik des Stils« und Wahrnehmungsästhetik näher untersucht werden. Während die enge Verfloch-tenheit dieser drei Denkrichtungen außer Frage steht, kommt es besonders auf die genaue Charakterisierung jeder der drei Vorstellungen und die Bestim-mung der Berührungspunkte untereinander an, so daß sich am Ende der Betrachtungen im Verein mit den Ergebnissen der Textanalysen als konse-quente Realisierung theoretischer Anschauungen das »Gedanken-System«

Lichtenbergischer Ästhetik ergibt.

Thematisierung und Verbalisierung der Sinnlichkeit in den Schriften Lichtenbergs

Die Auffassung, daß Sprach- und Wahrnehmungstheorie eng miteinander ver-woben sind, läßt die Annahme zu, daß die sprachliche Gestaltung der Schrif-ten LichSchrif-tenbergs als spezifisch modifizierte, weil transformierte Form einer bewußt reflektierten Wahrnehmung angesehen werden darf. Diese These wirft die Frage danach auf, wie sich die Apperzeptionsform in der Sprachform spiegelt. Hierbei kann der Vergleich der analytischen Betrachtung seiner Sprachpraxis – vor allem im Hinblick auf die Thematisierung der verschie-denen Sinnesmodalitäten – mit seinen theoretischen Postulaten klärend wirken.

Als Leitfragen der Textanalysen sind vor allem Fragen nach einer möglichen Hierarchie der Sinnesmodalitäten – Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacks-und Tastsinn – sowie, damit einhergehend, nach dem Primat sinnlicher Anschauung im Kontrast zum abstrakten Denken in Lichtenbergs Werk von Bedeutung: Wenn es denn einen solchen Primat der Sinnlichkeit gäbe, woran manifestierte sich dieser Eindruck in formal-stilistischer und inhaltlich-thema-tischer Hinsicht? Und: Ist das Ziel dieser Anreicherung der Sprache mit sinn-licher Anschaulichkeit eine Überwindung der selbstentfremdenden, generalisie-renden und abstrahiegeneralisie-renden Wirkung der Sprache?

Neben dem Einblick in die Wahrnehmungs- und Sprachpraxis Lichtenbergs führen diese Betrachtungen schließlich zur Problematik des historischen Ortes, der Epochenzugehörigkeit Lichtenbergs. Damit hängt die Frage nach der Kon-formität zur augenbetonten Anschauungstheorie und –praxis der Aufklärung zusammen, die sich vor allem in dem Aufschwung physiognomischer Metho-den der Betrachtung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zeigt, der mit Johann Caspar Lavaters »Physiognomik«-Bänden einen Höhepunkt erreicht.

Lichtenbergs Ablehnung physiognomischer Erkenntnismethoden und damit seine Negierung einer Reduktion der Wahrnehmung auf visuelle Eindrücke würde demnach eine Einschränkung dieses Primats des Gesichtssinns bedeu-ten und weicht insofern von aufklärerischer Anschauungspraxis ab. Zugleich wäre damit die in der Forschung häufig anzutreffende Charakterisierung Lich-tenbergs als ›Augenmensch‹ zumindest zu relativieren.6

6 Vgl. etwa Langen 1934, S. 11.

37 THESEN UNDFRAGEN: FORMALEGESTALTUNG

Formale Anlage und Gestaltung des Werks

Die Betrachtung des Werks vom formalen Gesichtspunkt aus bezieht sich nicht nur auf die Frage nach der Gattungskonformität der Schriften Lichten-bergs. Vielmehr dient darüber hinaus die von den Sinnesmodalitäten aus-gehende Untersuchung der Bestätigung oder Korrektur dort erhaltener Er-gebnisse. Die hier vorweg angenommene Nonkonformität der Schriften im Hinblick auf konventionelle literarische Textgattungen erscheint im Zusam-menhang mit seinem sprachtheoretischen Postulat von der Individualisierung sprachlicher Äußerung wiederum als deren praktische Umsetzung.

Folgen der sprach- und wahrnehmungstheoretischen Gedanken Lichtenbergs

Daß Lichtenberg sich in der Sprachgestaltung seiner Schriften nicht nur von seinem Postulat des individualisierten Ausdrucks leiten läßt, sondern sich auch an den potentiellen Rezipienten seiner Schriften orientiert, ist die zentrale These, die dem dritten Hauptteil zugrundeliegt und die in den ihm voraus-gehenden literarisch-linguistischen Textanalysen untersucht werden soll. Hier-bei ist eine meiner Thesen, daß die Rezeption Lichtenbergischer Texte bestimmte Wahrnehmungsweisen vermittelt, nicht nur explizit in pädagogisch anmutenden Ratschlägen, sondern auch implizit in der besonderen Form der Texte und Art der Verbalisierung bestimmter Wahrnehmungsweisen wie etwa der assoziativen Verbindung von Wörtern und Begriffen, von verschiedenen Wahrnehmungen, als deren Folge jene ›witzige Wirkung‹ vieler Lichtenber-gischer Aussagen angesehen werden kann, die zu dem ›Markenzeichen‹ Lich-tenbergs avanciert ist: Denn LichLich-tenbergs ›Witz‹ realisiert sich sprachlich vor allem in ungewöhnlichen Kombinationen von Wörtern, Begriffen in Form von assoziativen Stilmitteln wie Metapher und Vergleich. Daß dieser ›Sprachwitz‹

auf eine besondere Art mit der sinnlichen Anschauung korrespondiert, bildet eine Annahme, die bereits die Betrachtung von Lichtenbergs wahrnehmungs-theoretischen Reflexionen belegt.

Welchen Einfluß Lichtenbergs Gedanken zu Sprache und sinnlicher Wahr-nehmung sowie ihre sprachpraktische Einlösung auf WahrWahr-nehmung, Denken, Sprache und Handeln der schreibenden und forschenden ›Nachwelt‹ hatten und haben, und inwiefern sie für die heutige Gesellschaft relevant sind, sind Fragen, deren Beantwortung am Ende einer rezeptionsbezogenen Unter-suchung im Mittelpunkt steht, in der zugleich Modernität und letztendlich auch Aktualität Lichtenbergischer Anschauungen im Hinblick auf Wahrneh-mung und Sprache herausgestellt werden.

38 PRÄLIMINARIA: SPRACHE UNDSINNLICHKEIT BEILICHTENBERG

Kriterien der Textauswahl

Aus den vorangegangenen Erläuterungen zu Thematik und Aufbau der Arbeit lassen sich zwei hauptsächliche Blickwinkel herausfiltern, unter denen Lich-tenbergs Schriften im zweiten und dritten Hauptteil betrachtet werden.

Damit ist zum einen der Blick auf den thematischen Gegenstand des Textes oder um Lichtenbergs eigene Worte zu benutzen: das Quid7gemeint. Er richtet sich auf den semantischen Gehalt der Sprache, der aus den erkenntnistheore-tischen und sprachästheerkenntnistheore-tischen Anschauungen Lichtenbergs besteht. Zum anderen steht die Frage nach der Art und Weise, dem »Quomodo« des Aus-drucks, also die Sprachgestaltung im Mittelpunkt, zum Beispiel dann, wenn die Verwirklichung der theoretischen Auffassungen Lichtenbergs in seiner eigenen Sprachpraxis ergründet werden soll.

Für die Darstellung der ästhetischen Ansichten Lichtenbergs zu Sprache und Wahrnehmung sind demzufolge die Schriften besonders relevant, in denen Lichtenberg explizit zu diesem Thema Stellung nimmt, während für die Betrachtung der sinnlichen Wahrnehmungsweise Lichtenbergs und ihrer Transformation in Sprachzeichen vor allem Texte mit einem hohen Gehalt an sinnlicher Faßbarkeit oder einem zugrundeliegenden sinnlichen Eindruck auf-gesucht werden müssen.

Für die Betrachtung des ›Wie‹, also der sprachlich-stilistischen Ausdrucks-formen Lichtenbergs, sind vor allem stilistisch auffällige Beispieltexte heran-zuziehen, die die Realisierung seiner theoretischen Stilpostulate erkennen las-sen oder aber in charakteristischer Weise von ihnen abweichen.

Bei dieser ›Systematisierung‹ der Kriterien treten jedoch Probleme auf, die für die Arbeit mit dem Werk Lichtenbergs sowie für die gewählte Thematik vom Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Sprache bezeichnend sind.

Beide Faktoren, Werkphysiognomie und Themencharakter, beeinflussen die methodische Vorgehensweise auch bei der Auswahl des Textmaterials in meh-rerer Hinsicht.

Werkcharakter

Lichtenbergs Werk zeichnet sich sowohl hinsichtlich der behandelten Themen als auch im Hinblick auf die gewählten Ausdrucksformen durch eine Hetero-genität und Pluralität aus. Durch diese gleichsam ›bunte Physiognomie‹ schei-nen sie sich geradezu gegen eine Trennung in rein ästhetische und theoretische Schriften und rein literarisch-belletristische Texte zu sträuben. Dazu trägt etwa die Verstreutheit der sprach- und wahrnehmungs-theoretischen Bemerkungen bei, wie sie in den »Sudelbüchern« mit ihren fragmentarisch anmutenden Ein-trägen besonders augenfällig hervortritt. Splitter theoretischer Betrachtungen in Form meta-textueller Kommentare finden sich allerorten im Werk

Lichten-7 Vgl. Joost 1990, S. 13. Genauere Quelle nicht auszumachen.

39 KRITERIEN DER TEXTAUSWAHL: WERKCHARAKTER

bergs.8 Der fragmentarische Charakter vieler Schriften Lichtenbergs verleiht dem Gesamtwerk nicht nur einen Zug von ›Offenheit‹ und Unvollendetheit, sondern auch ein ›anti-systematisches‹ Moment. Jeder Systematisierung, sei es die Zuordnung der Schriften zu literarischen Gattungen, sei es die methodi-sche Systematisierung ihrer Behandlung, haftet daher ein Moment des Forcier-ten an. Insgesamt scheint sich ein derartig zu charakterisierendes Werk zwar allen üblichen literaturwissenschaftlichen Methoden der Zuordnung entziehen zu wollen. Es entsteht aber dadurch eine Situation, die eine ständige Reflexion bereits bei der Auswahl der zu betrachtenden Texte und der methodischen Vorgehensweise nicht nur nahelegt, sondern als zwingend notwendig erschei-nen läßt, da eine Beschränkung auf eierschei-nen thematisch eindeutig ausgerichteten Werkteil nicht möglich ist.

Themencharakter

Die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Wahrnehmung, wie sie explizit in den theoretischen Reflexionen sowie implizit im Sprach-gebrauch Lichtenbergs artikuliert wird, deutet bereits auf den ambivalenten Charakter sprachlicher Äußerungen hin: Wahrnehmung ist im Nachhinein nur als in Zeichen transformierter Aggregatzustand und damit ausschließlich in modifizierter Form erfaßbar.

Von daher gesehen erscheinen Lichtenbergs Schriften als Trägerinnen seiner in die visuellen Zeichen der Sprache transformierten Wahrnehmung. Hierbei rückt einerseits die Frage nach dem »Quid«, also nach dem, was Lichtenberg von seinen Wahrnehmungen für verbalisierungs- und damit überlieferungswert gefunden hat, sowie andererseits die Frage nach seinen erkenntnistheoreti-schen Reflexionen und deren Postulaten ins Zentrum der Betrachtung. Außer-dem wird mit der Frage nach Außer-dem ›Quomodo‹ die Ausformung und das ›phä-nomenale‹ Erscheinungsbild jener transformierten Wahrnehmung in Form der Abfolge visueller (Sprach-)Zeichen die Sprache selbst zum Objekt der Wahr-nehmung.

Diese themenbedingte Doppeldeutigkeit der Schriften Lichtenbergs – als Dokumente und als Objekte sinnlicher Wahrnehmung – bedeutet für die Text-auswahl, daß die Schriften und Textstellen, die im theoretischen Teil der Betrachtung herangezogen werden, zugleich auch Untersuchungsobjekte des sprachanalytischen Teils bilden und umgekehrt. Daher werden einige Texte mehrmals, aber aus unterschiedlichen Perspektiven ausgewertet. Aus diesem

8 Sie tragen zur Verklammerung der einzelnen Werkteile bei und sind somit als Belege für die in ihnen begründete Homogenität des Lichtenbergischen Werks anzusehen, denn, so auch Sautermeister: »Zwischen Lichtenbergs Aphorismen und Essays gibt es vielfältige erkenntniskritische und ästhetische Bezüge, welche die häufig verkannte Einheit seines Werks bezeugen.« (Sautermeister 1993, S. 14.).

Vgl. dazu auch Stingelin 1996, S. 14.

40 PRÄLIMINARIA: SPRACHE UNDSINNLICHKEIT BEILICHTENBERG

werk- und themenbezogenen Besonderheiten ergeben sich für die Auswahl der Schriften folgende Kriterien:

Kriterium des Themas – »Quid«?

Dafür sind zunächst alle Schriften heranzuziehen, in denen eine explizite Aus-einandersetzung mit erkenntnis- und sprachtheoretischen Problemen stattfin-det. Ein weiteres thematisches Kriterium bildet die Verbalisierung sinnlicher Apperzeptionen. Daher werden alle Textstellen näher betrachtet, in denen vor-rangig die sprachliche Umsetzung sinnlich wahrgenommener Phänomene – im Gegensatz zu Texten mit intellektuell-abstrakter Thematik – den thematischen Schwerpunkt bildet. Zu ihnen gehören vor allem Schriften, die weniger Meta-Reflexionen über Sprache und Wahrnehmung enthalten, sondern vielmehr selbst als Beispiele für Lichtenbergs praktische Umsetzung seiner theoreti-schen Ansprüche aufgefaßt werden können, in denen er also eigene Wahrneh-mungen, ausgewählt und in Zeichen transformiert, für die »Nachwelt« kon-serviert hat.

Kriterium der Form – »Quomodo«?

Der formale Aspekt bezieht sich auf die Anordnung der Sprachzeichen, also auf die verschiedenen Modifikationsmöglichkeiten der Sprachzeichen, die sich anhand von stilistischen oder gattungsmäßigen Kategorien näher bestimmen läßt. Die hierzu ausgewählten Textbeispiele sollen vor allem die Frage nach der formal-stilistisch-rhetorischen Umsetzung von Wahrnehmung im Ver-gleich mit den theoretischen Auffassungen Lichtenbergs klären.

Kriterium der Repräsentativität

Die Auswahl repräsentativer Schriften Lichtenbergs, sei es in thematischer, sei es in formaler Hinsicht, fällt aufgrund des beschriebenen heterogenen Charak-ters seines Werks schwer. Bei der Frage nach den Gattungen empfiehlt sich beispielsweise das Kriterium der Repräsentativität nicht, da schon einzelne Texte keinen konventionellen Gattungen zugeordnet werden können und es aufgrund dieser Außergewöhnlichkeit und Formenvielfalt fast keine gattungs-mäßigen ›Stellvertreter‹ einer Werkgruppe geben kann. Deshalb ist das Kri-terium der Repräsentativität nur im Hinblick auf die thematische Zusammen-gehörigkeit einzelner Texte relevant, etwa bei der Betrachtung naturwissen-schaftlicher Versuchsbeschreibungen, für die eine Beschreibung stellvertre-tend für andere, ähnliche Texte herangezogen werden wird. Indessen fällt vom stilistischen Schwerpunkt eine Auswahl repräsentativer Schriften und Text-stellen leichter, etwa wenn exemplarisch Lichtenbergs parodistische Stilmerk-male aufgezeigt werden sollen.