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Sprachsinnlichkeit. Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache in den Schriften Georg Christoph Lichtenbergs

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Ulrike Freiling SprachSinnlichkeit

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Ulrike Freiling

SprachSinnlichkeit

Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache

in den Schriften Georg Christoph Lichtenbergs

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Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation angenommen.

Tag der Disputation: 15. Mai 2000

Erstgutachter: Prof. Dr. Gerhart Pickerodt Zweitgutachterin: Prof. Dr. Monika Rössing-Hager

Für meine Eltern, Felix und Lina

Alle Rechte vorbehalten

Ulrike Freiling, Marburg/Lahn 2001 Mit den TUSTEP-Satzprogrammen

gesetzt aus der Times Roman von Ulrike Freiling

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Dank

Insbesondere danke ich Herrn Prof. Dr. Pickerodt für sein Vertrauen in meine Fähigkeiten, für die zahlreichen motivierenden wie weiterführenden Gesprä-che und für seine stets konstruktive Kritik.

Frau Prof. Dr. Rössing-Hager danke ich für ihr anhaltendes Interesse an mei-ner Arbeit, für ihre hilfreichen Vorschläge und für ihre Bereitschaft zum Kor-referat.

Für sein stetes Interesse sowie sehr nützliche Hinweise und Materialien sowie für seine Bereitschaft, meine Arbeit in die von ihm herausgegebene Reihe der Lichtenberg-Studien aufzunehmen, bedanke ich mich bei Herrn PD Dr. Ulrich Joost.

Bei Herrn Dr. Michael Trauth bedanke ich mich herzlich für die tatkräftigen und zeitaufwendigen Hilfestellungen, die es mir ermöglichten, meine Disser-tation selbst für die Drucklegung vorzubereiten. Für die Ermutigung zur eigen-ständigen Durchführung des Drucksatzes und für die Vermittlung der hierfür notwendigen Kontakte danke ich Herrn Prof. Dr. Kurt Gärtner.

Großer Dank gebührt meinen Eltern für ihr Vertrauen und für die existentielle Unterstützung, die es mir ermöglichte, meine Studien zügig und konzentriert zu betreiben.

Dipl.-Inform. Felix Gärtner danke ich für unzählige aufbauende Gespräche über den Sinn meiner Arbeit im besonderen und des Lebens im allgemeinen, für seine (fast) grenzenlose Geduld und seine Zuverlässigkeit sowie für die tatkräftige Unterstützung zu allen Zeiten, vor allem aber in den letzten beiden Jahren, nach dem Tod meines Vaters.

Schließlich danke ich Lina, deren beispielhafte Gelassenheit mir geholfen hat, meine Arbeit immer wieder aus heilsamer Distanz zu betrachten.

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»Wir irren allesammt, nur jeder irret anders.«

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Inhalt

Zur Einleitung . . . 17 I ›Präliminaria‹

Methodische, thematische und textliche Grundlagen . . . 21 1. Methodische Aspekte und Ziele der Arbeit . . . 21

Methodische Besonderheiten. (22). – Ziele (24).

2. Sensation, Perzeption, Apperzeption: Zur Terminologie . . . 25 Schwierigkeiten der Begriffsdefinition (25). – Wahrnehmung und Sprache (26). – Erkenntnisprozeß (27). – Sensation, Sensualität, Sen-sitivität: Abgrenzung der Begriffe (30).

3. Sprache und Sinnlichkeit im Werk Lichtenbergs . . . 32 Sprachliche Gestaltung (32). – Differenz zwischen Ausdruck und Aus-zudrückendem (33). – Individualisierung der Sprache als Ausweg: Sprachästhetische Grundanschauungen Lichtenbergs (34). – Themati-sierung und VerbaliThemati-sierung der Sinnlichkeit in den Schriften Lichten-bergs (36). – Formale Anlage und Gestaltung des Werks (37). – Folgen der sprach- und wahrnehmungstheoretischen Gedanken Lichtenbergs (37). – Kriterien der Textauswahl (38). – Werkcharakter (38). – The-mencharakter (39). – Kriterium des Themas: »Quod«? (40). – Kriterium der Form: »Quomodo«? (40). – Kriterium der Repräsen-tativität (40). – Hinweise zur Quellenlage und zu den Editionen (41). – »Sudel-« und Notizbücher Lichtenbergs (42). – Schriften zur Physio-gnomik (42). – Kalender-Aufsätze (46). – Naturwissenschaftlich-mathematische Schriften (47). – Briefe (51).

4. »Fortgang der Wissenschaften«:

Zum Stand der Lichtenberg-Forschung . . . 52 Zu den Anfängen (52). – Zur Sprachtheorie und Sprachkritik bergs (54). – Zur Erkenntnistheorie und Wahrnehmungskritik Lichten-bergs (55). – Zur Physiognomik (56). – Rezeptionsgeschichtliches (57).

II ›Konkreta‹

Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache

in Theorie und Praxis . . . 61 1. Theoretisches: Zu Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache . . . . 61 1.1 Zur Konstellation von Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache:

Sinnliche (Ap-)Perzeption und sprachliche

(Trans-)Formation . . . 62 Physiognomik: Wissenschaft oder Kunst? (62). – Anfänge: Aristoteles (63). – Fortführung: Della Porta und Lebrun (64). – Aufklärung: Zed-ler, Lavater (65). – Kritik: Kant (70). – Ausblick: Humboldt (71). –

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Skepsis und Zweifel: Lichtenbergs »Antiphysiognomik« (72). – Lich-tenberg und Lavater (74). – Physiognomik und Pathognomik (76). – Skepsis und Zweifel als Denkprinzipien (78). – (In-)Kompatibilität der Zeichensysteme von Physiognomik und Sprache (79). – Physio-gnomische und sprachliche Zeichen als Ausdrucksphänomene des Menschen (80). – Semiotische Aspekte (81). – Die Kluft zwischen physiognomischen und sprachlichen Zeichen: Lavater, Lichtenberg und Kant (84). – Apperzeption als Designationsprozeß (87). – Wahr-nehmung, Erkenntnis und Sprache: Worauf verweisen die Zeichen? (88). – Code-Charakter der Sprache (89). – Zeichentheoretische Refle-xionen Lessings (91). – Erkenntnis als prinzipiell unabschließbare Semiose (93). – Erkenntnis und Wahrheit (94).

1.2 Historisches: Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache

in der Zeit der Aufklärung . . . 94 Erkenntnistheorie als Phänomen neuzeitlichen Denkens (95). – ›Kopernikanische Wende‹: Geo- versus Heliozentrismus (95). – Neu-zeitliche Naturforschung: Galileo Galilei und das Experiment (98). – Distanzierung von der Scholastik – neue methodische Wege: Francis Bacon (101). – Empirismus und Rationalismus (107). – Versuch der Synthese von Empirismus und Rationalismus: Immanuel Kants Tran-szendentalismus (108). – Einheit von Sinnlichkeit und Verstand: Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder (113). – Anthro-pologische Wendung der Erkenntnistheorie um 1800: Wilhelm von Humboldt (127).

1.3 Theoretisches und Ästhetisches zu Wahrnehmung,

Erkenntnis und Sprache im Werk Lichtenbergs . . . 135 Differentialität menschlicher Erkenntnis: Subjekt, Objekt und Wahr-heit (135). – Empfindung als Ausgangspunkt, Handlung als Weg (136). – Lichtenberg und Kant (138). – Lichtenberg über die »Dinge außer uns« (145). – Selbst-Erkenntnis als Ausgangspunkt, Zentrum und Ziel (152). – Verbindung von Ideen als Prinzip menschlicher Erkenntnis (153). – Physikalisch-physiologische Basis: Hartleys Vibra-tionstheorie (154). – Methoden der Assoziation: Witz und Scharfsinn (156). – Witz als ›(Er-)Finder‹ (158). – »Gedanken-Experimente« und Paradigmen als Mittel systematisierten Erfindens (163). – Witz und Scharfsinn: Makro- und Mikroskopie (165). – Probleme der Selbst-Ergründung und Gefahren der Erkenntnisprinzipien (168). – Zeichenhaftigkeit der Wahrnehmungen und Lesbarkeit der Welt (172). – Deutungsversuche: Geologie (175). – Ideen-Potentiale: Phantasie und Traum (178). – Traum als Weg zu Selbst-Erkenntnis (181). – (Un-)Begrenztheit der Selbst-Erkenntnis: Lichtenbergs drei-stelliges Zeichen-Modell (184). – Theorie versus »Vorstellungs-Art« (188). – Lichtenbergs Philosophie-Begriff (189). – Eigene Philoso-phie: Erfahrung, Reflexion, Rezeption (190). – »Gedanken-« und

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»Meinungs-System«: Ganzheitlichkeit des Denkens als Qualitätsmerk-mal (195). – Dynamik und Selbst-Reflexion als erkenntnistheoretische Postulate (199). – Mut zur Individualität: Anti-Systematik (200). – Wille, Einsicht, gesunder Menschenverstand und die »Sudelbücher« als hermeneutische Weg-Weiser (203). – Erkenntnis und Sprache: Von den natürlichen zu den willkürlichen Zeichen (206). – Prinzipielle Unzulänglichkeit der Sprachzeichen: Die ›falsche‹ Philosophie der Sprache (207). – Lavaters Sprachkritik: Physiognomischer Ausdruck als irdische Antizipation himmlischer Sprache (212). – Logische (Sprach-)Zeichensysteme: Leibniz’ ›Universalsprache‹ (214). – Lich-tenbergs Alternative zu Leibniz’ Sprachmodell (219). – Böhmes Natursprachenlehre als Gegenpol zu den logischen Formelsprachen (221). – Lichtenberg zwischen Leibniz und Böhme: Wirkliches Ver-stehen durch Rückkehr zur eigenen Anschauung (222). – Anspruch auf Wahrheit der Sprache: Rolle der Metapher (224). – Metapher und (Ent-)Individualisierung der Sprache (226). – Individualisierung und Sensualisierung: Renovation und Innovation der Sprache durch Metaphern (228). – Sprach- und subjektübergreifende Funktion der Metapher (230). – Lichtenbergs Ansichten im Kontext der rhetori-schen Tradition (233). – Minderung der Unzulänglichkeit sprachli-chen Ausdrucks durch Individualisierung des Stils (235). – Ambi-valenter Charakter der Sprachzeichen (238). – Ideen-Assoziation als Verbindung der Zeichensysteme Sprache und Physiognomik (239). – Sprache als ›Spiegel‹: »Physiognomik des Stils« (240). – Stilistische Postulate Lichtenbergs: Ästhetik und Individualität als Qualitätsmerk-male (245). – Aufklärerisches Potential der Forderungen Lichtenbergs (247). – Lichtenbergs Kritik an zeitgenössischer Sprachpraxis: »Vor-schlag zu einem Orbis pictus« (248). – Shakespeares und Wielands Werke als Beispiele eines individualisierten Sprachgebrauchs (252). – Physiognomik des Stils im 19. Jahrhundert: Humboldt, Hegel, Scho-penhauer (255). – Sprache ist mehr als Zeichen: Individualisierter Stil und Anti-Systematik (259).

1.4 Resümee: Lichtenbergs erkenntnis- und sprachtheoretische

Gedanken im historischen Kontext . . . 261 Lichtenbergs Reflexionen im historischen Kontext (261). – Fortfüh-rung: Sprache und Erkenntnis in den Reflexionen des 19. Jahrhunderts (270).

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2. Verbalisierung des Sensuellen – Sensualisierung des Verbalen?! Lichtenbergs »Wörter-Welt« . . . 274 2.1 Gattungen? Genres?

»Nur keine Monstra« – Lichtenbergs SchreibFormen

zwischen Konvention und Individualität . . . 274 Prinzipielle Fragen (274). – Formale Werkstruktur (276). – Lichten-bergs »Sudelbücher« als formale und thematische Integrale (278). – Exkurs: Vorschläge zur adäquaten Bestimmung des Aphorismus-Begriffs (279). – Vereinzelung und System: Form- und Methodenauf-fassung Francis Bacons als traditioneller Ausgangspunkt (282). – Funktionalität und Ästhetizität: Form der »Sudelbücher« und (Anti-) Methode Lichtenbergs (284). – Konzentration und Sensation: Lich-tenbergs »Compendium«-Plan (288). – Individueller Freiraum – das Prinzip des Spielens (293). – Mathematik und Empirie: Spiel als wis-senschaftliches Problem (295). – Orientierung an konventionellen Formen: Lichtenbergs lateinische Abhandlungen (297). – Fragmen-tarisches (299). – FragmenFragmen-tarisches Vereinzeltes und systematisiertes ›Ganzes‹ (301). – Produktions- und rezeptionsästhetische Aspekte des Fragmentarischen (303).

2.2 Kon-Figurationen: Sprache und Stil . . . 308 a) Gedankenstruktur . . . 308 Darstellung physikalischer Beobachtungen in wissenschaftlicher Form: »De nova methodo naturam ac motum fluidi electrici investigandi« (309). – Populärwissenschaftliches und Poetisches: »Vermischte Gedan-ken über die ae¨rostatischen Maschinen« (313). – Theoretisch-reflexive Auseinandersetzung in der Streitschrift »Über Physiognomik; wider die Physiognomen« (316). – Literarische Umsetzung unmittelbarer Ein-drücke im ersten »Brief aus England« (320). – Umsetzung der Hogarth-Rezeption Lichtenbergs in seiner Erklärung »Eine gesellschaftliche Mitternachts-Unterhaltung im neuesten Geschmack oder Die Punsch-Gesellschaft« (322). – Zentrale Aspekte der Gedankenstruktur in den Schriften Lichtenbergs: Zusammenfassung (325).

b) Syntax . . . 326 Satire und Parodie: Lichtenbergs »Fragment von Schwänzen« (328). – Formenvielfalt und Komplexität in der »Anti-Physiognomik« (333). – Komplexe Konstruktionen in Lichtenbergs mathematischer Schrift über »einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel zu heben« (341). – Literarische Satire und wissenschaftlicher Stil: Syntax in den »Vermischten Gedan-ken über die ae¨rostatischen Maschinen« (342). – Deskriptives und Erzählendes in den Hogarth-Erklärungen und den »Briefen aus Eng-land« (344). – Zusammenfassung der betrachteten syntaktischen Phä-nomene in den Schriften Lichtenbergs (347).

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c) Wortspiele und andere Stilfiguren . . . 349 Sprachspiel, Wortspiel, Stilfigur: Bestimmung der Begriffe (349). – Lichtenbergs Sprach- und Wortspiele: Semantisches und klangliches Potential der Wörter (353). – Klangliche Sprachspiele und Stilfiguren: Alliteration und Assonanz (357). – Morphologisches: Wiederholung, Variation, Akkumulation (359). – Kontrastierungen: Antithesen und Antonymien (365). – Konzision und Kürze (367). – Position: Paralleli-sierungen, Chiasmen und Parenthesen (368). – Dialog zwischen Ver-fasser und Leser: Persuasion und Appellation (369).

d) Metaphern und andere Tropen . . . 372 Kognition und Ästhetik: Grundlegende Aspekte von Tropen, speziell von Metaphern (373). – Lichtenbergs tropische Ausdrucksweise am Beispiel seiner »Anti-Physiognomik« (379). – Verschlüsselung: Paro-die und Ironie (381). – Dynamisches: Sprünge und Schritte – Phantasie und Vernunft (383). – Bibel und Religion (388). – Feuer, Licht, Tem-peratur (392). – Organisches: Flora und Fauna (394). – Anorganisches: Geographie, Geologie, Meteorologie (398). – Technik, Mathematik, Geometrie (401). – Bildende Kunst und gesellschaftliche Kultur (404). – Ökonomie und Handel (407).

e) Lexik . . . 409 Präzision durch lexikalische Vielfalt (409). – Innovation und Indi-vidualität durch Neologismen und sprachliche Experimente (412). – Präzision durch Adjektive (414). – Kontraste und Antithesen am Bei-spiel der zentralen Begriffe in der »Anti-Physiognomik« (416). – Bereicherung durch fremdsprachliche Wendungen (418). – Verklam-merung durch Wortakkumulation (419).

2.3 Essentielles:

Resümee der sprachanalytischen Betrachtungen . . . 421 3. »Ist denn Vergnügen der Sinne gar nichts?«

Lichtenbergs ›konservierte Sinnlichkeit‹ . . . 427 Leitaspekte (427). – Sinnliche (Ap-)Perzeption und sprachliche Modi-fikation (431).

3.1 »mit eigenen Augen in die Welt hineinsehen«:

Visuelles – Licht, Farbe, Deixis . . . 432 Blindheit als ›Horror Vacui‹: Lichtenbergs Kalender-Aufsatz »Über einige wichtige Pflichten gegen die Augen« (433). – Grenzen mensch-licher Sinneswahrnehmung: Latenz und Sensibilität (438). – Sensibi-lisierung durch ›Brillen‹: Experimentelles und Sprachliches (443). – Bewußte Einbeziehung des Unbewußten: Wissenschaft und Subjekti-vität (453). – Farben und Kolorierung: Chromatik in den Schriften Lichtenbergs (455). – Bildende Kunst und literarischer Text: Lichten-bergs Hogarth-Erklärungen und die Relation der ästhetischen Medien (457). – Visuelle »Hieroglyphe«: Kleidung als ›fixierte Handlung‹ (467).

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3.2 »es schallt in die Ewigkeit«:

Auditives – Schall, Klang, Musik . . . 472 Auditive Aufmerksamkeit und analytisches Hören Lichtenbergs (472). – Physiologische und physikalische Konditionen: Charakteristika audi-tiver Wahrnehmung im Vergleich zum visuellen Sinn (474). – Schwie-rigkeiten des differenzierten Ausdrucks auditiver Wahrnehmungen: Lichtenbergs »Vorschlag den Donner auf Noten zu setzen« (482). – »Bilderschrift für das Ohr«: Schallwörter und Onomatopöien (486). – »Betrug und Verwirrung«: Problematik der Relation von Wortschall und Wortsemantik (488). – Semantische und ästhetische Auswirkun-gen klanglicher ModifizierunAuswirkun-gen sprachlichen Ausdrucks (491). – SprachMusik: Lichtenbergs auditive Metaphorik (495). – Natürlichkeit als (klang-)ästhetisches Ideal (499). – Stilistisches Spiel oder Aus-druck authentischer Empfindung? Lichtenbergs Londoner Drehorgel-Erlebnis (505). – »ich war ganz Musik«: Lichtenberg im Musikleben seiner Zeit (514). – Vertonung des Visuellen: Auditive Imaginationen in den Hogarth-Erklärungen (521). – Lichtenbergs sensationelle Dra-matisierung des sprachlichen Ausdrucks: Auditive Effekte und kine-tische Aktionen (528). – Sensualisierung abstrakter Begriffe am Bei-spiel der Zeit, mit einem Exkurs über Lichtenbergs Auffassung von Funktion und Wirkung der Glocken (532).

3.3 »etwas Blütengeruch. ziemlich viel Wein.«: Olfaktorisches

und Gustatorisches – Funktion und Ästhetik . . . 540 Funktionale Aspekte: Die Nase als physiognomisches Zeichen und als Organ sinnlicher Wahrnehmung (540). – Konstitution, Funktion und praktischer Nutzen der Gerüche in (Natur-)Wissenschaft und Medizin (543). – Historische Impulse der geruchstheoretischen Überlegungen Lichtenbergs: Theophrastus, Morhof, Cardanus (547). – Mentalität und Alkoholkonsum: Satirische Verwendung der Nase als ›Aushänge-schild‹ (552). – Lichtenbergs ›Trink- und Rauschlehre‹: Modifizierung der Sensibilität und des sprachlichen Ausdrucks (555). – GenußSucht: Differenzierung des Alkoholkonsums bei Lichtenberg und Hogarth (563). – »Lesen ist trinken«: Lichtenbergs Beiträge zu einer ›Diätetik für die Gesundheit des Verstandes‹ (565). – Geschmackssache(n): Kuriose Ernährungskonventionen und zeitgenössische Sensationslust (569). – Kulturelle und soziale Aspekte der Ernährung: Englische Konventionen und militärische Ökonomie (572). – Geschmacksver-feinerung und Leckerhaftigkeit als Kennzeichen zivilisierter Gesell-schaft bei Lichtenberg und Forster (576). – »Sauern Kohl« und »Zuk-kerbrot«: Gustatorische Metaphern und Vergleiche in Lichtenbergs Bemerkungen zur Literaturproduktion und -rezeption (584). – »Kur in Phantasien«: Funktion und Wirkung der Imaginationskraft am Beispiel olfaktorischer und gustatorischer Metaphern, Vergleiche und Allego-rien bei Lichtenberg und Hogarth (593).

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3.4 »alles ist mehr Gefühl als Reflexion und unbeschreiblich«: Taktiles und Sensitives – Empfindung, Schmerz,

Imagination . . . 600 Einleitendes: Taktile Sensationen in Form von Metaphern und in physiognomischen Darstellungen, Haut als Sinnesorgan und Objekt taktiler Wahrnehmung (600). – Lichtenbergs wissenschaftliche Beschäftigung mit thermischen Phänomenen als Basis sinnlicher Metaphorik (603). – Thermische Metaphern und Vergleiche (605). – »Die Empfindlichkeit fast unerträglich«: Ausdruck und Reflexion von Schmerz-Empfindungen in Lichtenbergs Schriften (611). – Melan-cholie und Tod: Lichtenbergs Umgang mit seelischen Schmerzen (616). – Funktion und Wirkung der Imaginationskraft im Hinblick auf die physische Verfassung (620). – Sensibilisierung emotionalen Poten-tials: Funktion und Wirkung thermischer Metaphorik in den Hogarth-Erklärungen (621). – Fingerzeige und ›Zaunpfähle‹: Versprachlichung des Unaussprechlichen (624).

3.5 »die Kugeln zu beiden Seiten der Nase sind auch Ohren«:

Inter-Sensuelles und Synästhetisches – Kon-Fusionen . . . 630 Fülle der Sensationen und Unvollständigkeit des Ausdrucks: Sprache als Resultat analytischer Reflexion sinnlicher Wahrnehmung (630). – Kaleidoskop der Sensationen: Das Londoner Stadtleben in Lichten-bergs Brief vom 10. Januar 1775 als ein ›Fest der Sinne‹ (633). – Lichtenbergs assoziativer und dissoziativer Umgang mit Sensationen und Vorstellungen als Zusammenspiel von Realität und Imagination, rationalem Denken und sinnlicher Empfindung (640). – »die Ewigkeit wie ein Bücherschrank«: Assoziation als Weg zum innovativen, sinn-lichen und individuellen Ausdruck abstrakter Begriffe und ›dunkler‹ Empfindungen (643). – »Alles sehr natürlich«: Verknüpfung unter-schiedlicher Sinnesmodalitäten in synästhetischen Empfindungen (646). – »Es ist auch nicht zum Sprechen«: Unkonventionelle Wahr-nehmung und die Folgen für den sprachlichen Ausdruck (650). – Analytische Auffassung sinnlicher Wahrnehmung als Grundlage des konventionellen Weltbilds: Relativierung durch andere, neue Wahr-nehmungsweisen (652). – »Zum Menschen rechne ich Kopf Herz Mund und Hände«: Sinnlichkeit und Einheitlichkeit als Ursprung und Ziel menschlicher Erkenntnis und ihr Ausdruck durch die Metapher (656).

4. Lichtenbergs SprachSinn: Resümee . . . 658 Rekapitulation der Ausgangsfragestellungen (658). – Analyse und Zer-splitterung (659). – Syn(äs)thes(i)en: Entgrenzung der Wahrnehmung am Beginn der Moderne (665).

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III ›Ad (In-)Finitum‹

Rezeption, Resümee, Fazit, Ausblick . . . 673

1. »O was wird die Nachwelt sagen«: (un-)absichtliche Wirkungen der Schriften Lichtenbergs . . . 673

Zur Schwierigkeit rezeptionsästhetischer Betrachtungen (673). – Wirkungsästhetische Aspekte der Schriften Lichtenbergs (678). – Disparatheit und Humor (689). – Fragmentarizität und Detailfülle (700). – Folgen für die Rezeption der Schriften Lichtenbergs (705). – Konsequenzen der Lichtenberg-Rezeption: Formen der Umsetzung (709). 2. »Zu was Ende?« Resümee und Fazit . . . 713

Ausgangsfragestellungen (713). – Ansatzpunkt: Physiognomik (714). – Der Mensch als Summe und Synthese: Der historische Weg zum ganz-heitlichen Menschenbild und die Folgen für die Sprachauffassung (715). – Spielerischer Umgang mit Sprache und Gedanken als Chance (717). 3. »Zu was kann dieses der Anfang sein? Ausblick . . . 723

Anhang: Literaturverzeichnis . . . 727

A Bibliographien und Forschungsberichte . . . 727

B Quellen . . . 728

C Forschungsliteratur . . . 744

D Sammelbände und Reihen . . . 783

E Handbücher, Wörterbücher, Lexika . . . 784

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Anmerkungen zur Zitierweise

mit einem Überblick

über die am häufigsten verwendeten Siglen

Die in den Fußnoten nachgewiesenen Zitat-Quellen werden in der Regel durch Siglen abgekürzt, die im Literaturverzeichnis im Anhang der Arbeit aufge-schlüsselt sind.

Eine Ausnahme bilden die Zitate aus den »Sudelbüchern« Lichtenbergs, deren Quellen durch die in der Lichtenberg-Forschung übliche Siglierung nachgewiesen werden: Das Sigel setzt sich hier jeweils aus der »Sudelbuch«-Bezeichnung (A, B, C, etc.) sowie der arabischen Nummer des jeweiligen Eintrags in der Promiesschen Ausgabe der Schriften und Briefe Lichtenbergs zusammen. Die tiefgestellten römischen Ziffern beziehen sich auf den Band der Promies-Ausgabe, der das Zitat enthält. Die Promies-Ausgabe (SB) bildet im allgemeinen die Grundlage für die Zitate aus den Schriften Lichtenbergs. Die Briefe Lichtenbergs zitiere ich nach der Ausgabe des Briefwechsels durch Ulrich Joost und Albrecht Schöne (Bw), während die naturwissenschaftlichen und mathematischen Schriften sowie auch einige Artikel Lichtenbergs aus dem »Göttinger Taschen Calender« (GTC), die nicht in SB abgedruckt sind, entweder nach der ersten Ausgabe der »Vermischten Schriften« (VS bzw. PhM) oder nach ihrer neuesten kommentierten Edition wiedergegeben werden. So etwa versammelt Wolfgang Promies die Kalender-Fassungen der Hogarth-Erklärungen Lichtenbergs in seiner 1992 erschienenen Buchausgabe (LH) erstmals vollständig. Sollte eine Schrift seit ihrer Erstpublikation noch nicht wieder gedruckt worden sein, zitiere ich sie nach ihrem ursprünglichen Erscheinungsort.

A-L »Sudelbücher« Lichtenbergs, zitiert nach SB.

BL Bibliotheca Lichtenbergiana. Katalog der Bibliothek Georg Chri-stoph Lichtenbergs. Hrsg. von Hans Ludwig Gumbert. Wiesba-den 1982. (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen. 19.). Bw Lichtenberg, Georg Christoph: Briefwechsel. Hrsg. von Ulrich

Joost und Albrecht Schöne. München 1983–1992.

GMWL Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur. Hrsg. von Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster. Göttingen 1780–1785.

GTC Göttinger Taschen Calender. Taschenbuch zum Nutzen und Ver-gnügen von Georg Christoph Lichtenberg. 1776–1799.

LH Lichtenbergs Hogarths. Die Kalender-Erklärungen von Georg Christoph Lichtenberg mit den Nachstichen von Ernst Ludwig Riepenhausen zu den Kupferstich-Tafeln von William Hogarth. Hrsg. von Wolfgang Promies. München, Wien 1999.

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Schriften nach dessen Tode gesammelt und herausgegeben von Ludwig Christian Lichtenberg und Friedrich Kries. Göttingen 1803–1806. [Reprint als VS 6–9: Bern 1972.].

SB Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. 4 Textbde. Hrsg. von Wolfgang Promies. Nördlingen 31994. [Reprint der

Hanser-Ausgabe, München 1967–1992.].

SB, Komm. Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. 2 Kommen-tarbde. Hrsg. von Wolfgang Promies. Nördlingen31994. [Reprint

der Hanser-Ausgabe, München 1967–1992.].

VS Georg Christoph Lichtenberg’s vermischte Schriften nach dessen Tode gesammelt und herausgegeben von Ludwig Christian Lich-tenberg und Friedrich Kries. Göttingen 1800–1802. [Reprint: Bern 1972.].

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Zur Einleitung

»Nein, die Welt ändert sich nicht, und dies ist ein sehr aktueller Schriftsteller; er ist niemals etwas andres gewesen.«1

So charakterisiert Kurt Tucholsky Georg Christoph Lichtenberg und wirft damit zugleich die Frage nach dem Grund für diese Aktualität und Popularität auf, die gegenwärtig, über zweihundert Jahre nach Lichtenbergs Tod, deutlich zutage tritt: Lichtenbergs »Sudelbücher« erscheinen in unzähligen Auswahl-bänden, als illustrierte Kalender, in hörbarer Form auf Tonträgern und gar als Bühnenspektakel. Die wissenschaftliche Erschließung seiner Schriften wird zunehmend vollständiger – inzwischen sind sogar die seit ihrer Erstpublika-tion nicht wieder edierten lateinischen Abhandlungen in übersetzter und kom-mentierter Form zugänglich. Keine Frage: Lichtenbergs Werk, allen voran die »Sudelbücher«, erlebt derzeit eine Hochkonjunktur – und das obwohl (oder gerade weil?!) es weder vollständig erhalten noch systematisch geordnet vor-liegt, sondern einen demonstrativ fragmentarischen und zersplitterten Charak-terzug trägt und darüber hinaus gespickt ist mit Widersprüchlichkeiten und Paradoxien. Worin liegt der Grund für die Faszination, die von Lichtenbergs Werk ausgeht, gerade auch für die Gegenwart, in der man sich allerdings nach wie vor hauptsächlich, aber immerhin, mit der Lektüre der ›kleinen Sachen‹, den sogenannten ›Aphorismen‹, begnügt?

Als ich, am Ende meines Studiums angelangt, über ein Thema für meine Magisterarbeit nachdachte, lag mir vor allem daran, ein Thema zu finden, das möglichst nicht nur meine drei geisteswissenschaftlichen Studienfächer, son-dern auch die Naturwissenschaften vereinte und darüber hinaus unerschöpf-liche Quelle interessanter Überraschungen sein sollte.

Zu Lichtenberg hatte ich während meiner Studienzeit zwei Hinweise erhal-ten: Auf seine »Ausführlichen Erklärungen der Hogarthischen Kupferstiche« wurde ich durch ein kunstgeschichtliches Seminar über Bildfolgen und die Möglichkeiten ihrer Beschreibung aufmerksam – und war bei ihrer Lektüre fasziniert und überwältigt zugleich von der detallierten Genauigkeit und Schärfe der Beobachtungen sowie von der Komplexität und Klarheit des sprachlichen Ausdrucks. Durch Lichtenbergs Führung eröffnete sich in jedem Kupferstichblatt ein Kosmos von Deutungsmöglichkeiten, durch die sich Per-sonen zu charakteristischen Persönlichkeiten, lebloses Inventar zu bedeutsa-men Zeichen, erstarrte Bilder zu multisensorisch erfahrbaren Szenen entwik-kelten und sich die Leerstellen zwischen den einzelnen Darstellungen einer Bildfolge mit Handlung füllten. In einer germanistischen Vorlesungsstunde über die Satire des 18. Jahrhunderts fiel schließlich eine Bemerkung über die (anti-)physiognomischen Schriften Lichtenbergs als germanistisch noch zu

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EINLEITUNG

erschöpfendes Forschungsfeld. Vor allem die Tatsache, daß es sich bei Lich-tenberg um einen hauptberuflichen Physiker handelte, dessen Werk vor allem Literaturwissenschaftler (und eben nicht Naturwissenschaftler) interessiert, machte stutzig und neugierig. Zusammen mit der Vielseitigkeit Lichtenbergs, in einer beeindruckenden Ausstellung anläßlich seines zweihundertfünfzigsten Geburtstages anschaulich erlebt, stand schließlich außer Zweifel, daß Lichten-bergs Werk die geschilderten Ansprüche nur zu gut erfüllen würde.

Ungewöhnlicherweise standen also nicht die »Sudelbücher« am Anfang meiner Bekanntschaft mit Lichtenbergs Schriften, sondern die »Hogarth-Erklärungen« und die physiognomischen Streitschriften. Die elementaren Erfahrungen von der Vereinigung disparater Interessensgebiete in einem Werk, das so vielfältig wie zersplittert und unsystematisch erscheint, von der (selbst-)identifikatorischen Wirkung vieler »Sudelbuch«-Einträge, die sich durch sinnliche Unmittelbarkeit, Kreativität und innovative Unkonventionali-tät ihrer sprachlichen Gestaltung und die Schärfe der Beobachtungen auszeich-nen, von dem Mut zu neuen, ungewöhnlichen Betrachtungsweisen, vor allem auch des eigenen Selbst, und den erstaunlichen Verbindungen zwischen unähnlich geglaubten Dingen, diese Erfahrungen führten zur Frage nach den Ursachen und den Gründen für eine derartige Wirkungsweise und für das Erscheinungsbild eines Werks, dessen augenscheinliche Unabgeschlossenheit und Disparatheit der konventionellen autonomieästhetischen Vorstellung vom in sich geschlossenen und stimmigen Gesamt(kunst)werk entgegensteht und zugleich nahelegt, sie zu revidieren.

Diese Fragestellung leitete zum zentralen Problem der (adäquaten) Umset-zung sensueller Apperzeption als empirischer Basis der Gedanken und Vor-stellungen in sprachlichen Ausdruck, die als ›Ur-Problematik‹ die naturwis-senschaftliche und schriftstellerische Arbeit Lichtenbergs verbindet. Antwor-ten auf diese Ausgangsfragestellungen suchte und fand ich in der Betrachtung der Lichtenbergischen Schriften im Hinblick auf ihre sprachlich-stilistische Gestaltung sowie deren theoretische Hintergründe.

Ein zentrales Ziel meiner folgenden Ausführungen ist es, den

Zusammen-hang zwischen den (sprach- und erkenntnis-)theoretischen Auffassungen Lich-tenbergs und der sprachlichen Erscheinung, genauer: der stilistischen Gestal-tung, seiner Schriften nicht nur in thesenhafter Form zu konstatieren, sondern

darüber hinaus die gewonnenen Erkenntnisse aufgrund empirischer

Unter-suchungen mit konkreten Textbeispielen zu belegen. Darüber hinaus dienen die

analytischen Textbetrachtungen sowohl, um die literarische Qualität seiner Schriften zu differenzieren, als auch, um das sogenannte ›Lichtenbergische‹ der Ausdrucks- und Darstellungsweise anhand konkreter stilistischer Beson-derheiten zu verdeutlichen und schließlich Unterschiede und Gemeinsamkeiten von naturwissenschaftlichen und literarischen Schriften herauszustellen: Wieviel ›Lichtenbergisches‹ enthalten die naturwissenschaftlichen Schriften im Ver-gleich zu den literarischen Schriften, etwa den satirischen Schriften und den »Sudelbüchern«? Vor allem aber gilt es zu ergründen, inwiefern Lichtenberg

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EINLEITUNG

durch stilistische Gestaltung die besondere Wirkungsweise seiner Sprache erreicht, deren unmittelbare Sinnlichkeit als Schlüssel zu seiner Popularität und Aktualität erscheint, und inwiefern die sprachliche Gestaltungsweise die Authentizität und existentielle Fundamentalität der geschilderten Gedanken und Erfahrungen wie deren Außergewöhnlichkeit vermittelt und in dieser Hin-sicht beispielhaft den (sprach-)produktiven Umgang mit dem Problem vorbil-det, Gedanken und Vorstellungen in sprachliche Zeichen umzusetzen.

Mit der Differenzierung seiner Position in der Geschichte hängt die Rele-vanz zusammen, die Lichtenbergs Werk für die modernen Leser besitzt. Die Frage, welchen Sinn die Beschäftigung mit Lichtenbergs Werk, insbesondere von der Problematik des Verhältnisses von Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache aus gesehen, für die gegenwärtige Gesellschaft vermittelt, und in welcher Weise, mit welchen Zielen seine Gedanken das Selbstverständnis des modernen Individuums beeinflussen können, suche ich am Schluß meiner Ausführungen zu beantworten.

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I

›Präliminaria‹

Methodische, thematische

und textliche Grundlagen

1. Methodische Aspekte und Ziele der Arbeit

»So bald man die Frage genau bestimmt hat die man untersuchen will so teilt man sie in so viele Abteilungen ab, als hinlänglich ist alle Schritte dabei genau zu unter-scheiden. Alsdann kann man jede Abteilung wieder als eine ganz eigene Materie behandeln und Unter-Abteilungen machen, so wird der Ver[n]unft die Untersuchung der Frage am leichtesten gemacht, dieses künstliche Verfahren hebt ja die Sprünge des Genies nicht auf.«1

Lichtenberg artikuliert in dieser »Sudelbuch«-Bemerkung eines seiner metho-dischen Grundprinzipien, das mit seinen wahrnehmungs- und erkenntnistheo-retischen Auffassungen eng zusammenhängt. So bildet die Frage und ihr gleichsam analytisches ›Aufspalten‹ in »Unter-Abteilungen« die initiative Basis des Erkenntnisfortschritts, vor allem auch, weil sie für Lichtenberg das Instrument ist, um mit Gedanken zu experimentieren. »Die Kunst alle Dinge recht tief unten anzufangen, und eine Frage in tausend untergeordnete zu zerfällen«,2 avanciert insofern zu eben jener Methode gedanklichen

Experi-mentierens, die er in seinen »Sudelbüchern« wiederholt als ›bequemen‹ Weg zu innovativen Erkenntnissen empfiehlt: »Ein bequemes Mittel mit Gedanken zu experimentieren ist, über einzelne Dinge Fragen aufzusetzen: z. B. Fragen über Trinkgläser, ihre Verbesserung, Nutzung zu andern Dingen etc. und so über die größten Kleinigkeiten.«3

In der von Lichtenberg favorisierten Frage-Form lautet der Ausgangspunkt meiner Ausführungen zum Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrneh-mung und Empfindung, intellektueller Erkenntnis und sprachlicher Aus-drucksform in den Schriften Lichtenbergs: Wie erscheint die sinnliche Wahr-nehmung in den (erkenntnis- und sprach-)theoretischen und ästhetischen Überlegungen Lichtenbergs? Und wie zeigt sie sich darüber hinaus in der sprachlichen Gestalt seiner Schriften? Welche Wahrnehmungsweise prokla-miert Lichtenberg, und inwiefern vermittelt die formale und sprachliche Gestaltung seiner Schriften bestimmte Arten der Wahrnehmung und Rezep-tion? Der Versuch, im Rahmen dieser Dissertation Antworten auf diese Frage-stellungen zu finden, verläuft in drei Hauptschritten.

1 Aus: JII1889.

2 KAII307.

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PRÄLIMINARIA: METHODISCHES UNDZIELSETZUNGEN

Der erste Hauptteil besitzt insofern grundlegende Funktion, als er einer ersten Orientierung im Hinblick auf die Thematik dient: An die Vorstellung der Leitfragestellungen, der methodischen Vorgehensweise und Zielsetzungen schließen sich einige kursorische Bemerkungen über die Differenzierung der zentralsten wahrnehmungstheoretischen Termini an. Es folgen generelle Anmerkungen zur Bedeutung der Sinnlichkeit bei Lichtenberg sowie die kurze Vorstellung des Textmaterials, das der Untersuchung zugrundeliegt. Der abschließende Blick auf den Stand der Lichtenberg-Forschung verdeutlicht den gegenwärtigen Stellenwert der gewählten Thematik.

Auf diese prinzipiellen Bemerkungen folgt der Kernteil meiner Arbeit, der sich aus zwei großen Abschnitten mit unterschiedlichen thematischen Schwer-punkten zusammensetzt: Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen zunächst Reflexionen über wahrnehmungs- und sprachtheoretische und -ästhetische Aspekte. Konkrete analytische Betrachtungen der Schriften Lichtenberg schließen sich an: Während in einem ersten Schritt der Blick auf die formalen und stilistischen Besonderheiten der Texte gerichtet wird, steht in einem zwei-ten Schritt vor allem die Betrachtung der sensuellen Apperzeptionen in ihrer verbalisierten Form im Vordergrund der Betrachtung.

Der dritte Hauptteil enthält neben einem Blick auf die Wirkungen, die die Rezeption Lichtenbergischer Schriften seit Beginn des 19. Jahrhunderts evo-ziert, einen resümierenden Rückblick und das Fazit, das aus den Konsequen-zen der vorangegangenen Betrachtungen gezogen werden kann.

Methodische Besonderheiten

Schwierigkeiten im Hinblick auf das methodische Vorgehen werden vor allem in den beiden textanalytischen Teilen der Arbeit evident. Thematisch vollzieht sich die Betrachtung innerhalb dieser beiden zentralen Bereiche in drei großen Schritten.

Den Anfang bildet ein Abschnitt mit Ausführungen zu sprach- und erkenntnistheoretischen Aspekten, der sich in drei Unterabteilungen gliedert: Nachdem allgemeine Charakteristika der Konstellation von Wahrnehmung und Sprache thematisiert worden sind, rückt mit der Darstellung historischer Auseinandersetzungen mit jener Konstellation die Zeit der Aufklärung, vor die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in den Mittelpunkt. Hier werden einige für die Erkenntnis- und Sprachtheorie dieser Zeit repräsentative Traktate einbezogen – wie etwa Johann Gottfried Herders »Abhandlung über den Ursprung der Sprache« von 1770 und Imma-nuel Kants »Kritiken« aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Ein Aus-blick in die Wahrnehmungs- und Sprachauffassung des frühen 19. Jahrhun-derts beschließt den historischen Teil. Anschließend folgt die Betrachtung der erkenntnistheoretischen und sprachkritischen Anschauungen Lichtenbergs .

Der Untersuchung meiner These, daß sich Lichtenbergs erkenntnistheore-tische und sprachästheerkenntnistheore-tische Postulate in der sprachlichen Gestaltung seiner Schriften auf charakteristische Weise niederschlagen und seine Schriften somit

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VERLAUF DER AUSFÜHRUNGEN

als eine – mehr oder weniger konsequente – Realisierung seiner theoretischen Ansichten erscheinen, dienen textanalytische Betrachtungen. Auf die Ausfüh-rungen zur formalen Gestalt der Schriften Lichtenbergs unter Berücksichti-gung von Kriterien wie Gattungs- und Genrekonformität oder Verwendung bestimmter rhetorischer Stilmittel anhand exemplarischer Textanalysen folgt die Betrachtung der Schriften unter dem Gesichtspunkt der verschiedenen Modalitäten und Funktionen sinnlicher Wahrnehmung, um etwa die Frage nach der Existenz einer Hierarchie der Wahrnehmungsweisen und ihrer Funk-tion in den Schriften Lichtenbergs beantworten zu können.

Eine erste Schwierigkeit ergibt sich aus der außergewöhnlichen Beschaf-fenheit des zu betrachtenden Gegenstandes: Sie beruht auf dem Umstand, daß sich Lichtenbergs Werk – formal wie thematisch – durch eine ungewöhnliche Vielfalt und augenscheinliche Inhomogenität sowie Disparität der einzelnen Teile auszeichnet. So liegen etwa Lichtenbergs ästhetische Anschauungen

nicht in der summarisch-geschlossenen Form einer systematisch geordneten

kompakten ›ästhetischen Abhandlung‹ vor, noch sind sie vereint in einem »Sudelbuch« anzutreffen. Vielmehr erscheinen sie über seine gesamten Schrif-ten verstreut, nämlich als erkenntnis- und sprachtheoretische Reflexionen in pointierten »Sudelbuch«-Einträgen, in mehr oder weniger abgeschlossenen Schriften und Essays sowie als implizite, weil in sprachliche Praxis umge-setzte, theoretische Postulate in seinen Briefen und Fragmenten. Lichtenbergs Werk zwingt seine Rezipienten, sich seine Auffassung zur Erkenntnis- und Sprachtheorie mosaikartig aus vielen kleinen Einzelteilen zusammenzusetzen, von denen darüber hinaus sich einige, ob ihrer Widersprüchlichkeit, gar gegen eine Einfügung in ein homogenes Gesamtbild zu sträuben scheinen. Lichten-bergs Werk führt seine Rezipienten insofern zu einer unorthodoxen, ja ›unme-thodischen‹ Rezeptionsweise, nämlich »querfeldein [zu, U. F.] marschieren, und über die Gräben zu setzen. Diese Methode, die man wohl die unmetho-dische nennen könnte, ist überhaupt nebenher sehr zu empfehlen.«4 Damit

haftet jeder Annäherung an Lichtenbergs Werk ein subjektives und individu-elles Moment an, sehen sich doch seine Rezipienten gezwungen, eigene Wege der Betrachtung zu finden.

Die ›unmethodische Methode‹, die Lichtenberg empfiehlt, korrespondiert mit der Rezeptionsweise seines Werks. Zudem kann sie nicht nur als Abkehr von traditionellen Methoden, sondern zugleich als Aufforderung zur Entwick-lung individueller Zugänge zu seinem Werk angesehen werden. Der un- oder anti-systematische Charakter des Lichtenbergischen Werks,5wie ihn vor allem

die »Sudelbücher« veranschaulichen, verhindert das Einschlagen der »Heer-straße«6 und provoziert vielmehr die Suche nach einem Weg, der sowohl

4 Aus: KII384.

5 Zum Begriff des Anti-Systematischen bei Lichtenberg vgl. Patzig 1992, bes. S. 24. 6 Aus: KII384.

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24

BESONDERHEITEN IM METHODISCHENVORGEHEN

geeignet ist, die Besonderheiten des Lichtenbergischen Werks zu erfassen als auch als wissenschaftliche Herangehensweise den auf ihm gewonnenen Erkenntnissen intersubjektiven Wert zu verleihen. Dieser Umgang entspricht genau der Betrachtungsweise, die Lichtenberg als den ›Königsweg‹ zum Erkenntnisgewinn und damit zum persönlichen und wissenschaftlichen Fort-schritt proklamiert: »Etwas über die ungebahnten Wege in den Wissenschaften zu schreiben, man muß sie notwendig einschlagen, wenn etwas gewonnen werden soll.«7

Ziele

Die Ziele meiner Arbeit lassen sich am übersichtlichsten in vier Kategorien geordnet darstellen:

a) Neben der Einordnung Lichtenbergs in den historischen Kontext vom wahr-nehmungs- und sprachästhetischen Standpunkt aus sollen meine Unter-suchungen Aufschluß über Lichtenbergs Wahrnehmungsästhetik in Kor-relation zu seiner Sprachtheorie geben sowie die Zusammenhänge zwischen theoretischen Postulaten und deren praktischer Anwendung in der Sprache erhellen. Zudem soll mit der Verbindung von Natur- und Geisteswissen-schaften das ›interdisziplinäre Potential‹ Lichtenbergs im Hinblick auf seine Auswirkung auf Denken und Sprache hin betrachtet werden.

b) Ein weiteres Ziel bildet die Beantwortung der Frage, welchen Beitrag Lich-tenberg angesichts der Entwicklung erkenntnistheoretischer Erklärungs-modelle und sprachkritischer Auffassungen geleistet hat, und wie sich Lichtenbergs Auffassungen im Hinblick auf zeitgenössische, insbeson-dere aufklärerische und rationalistische, Anschauungen verhalten.

c) Lichtenbergs Werk als Beispiel für interdisziplinäres Denken und dessen Auswirkungen auf seine Wahrnehmung und Sprache gibt Anlaß zur Frage nach der Lokalisierung seines Werks in der Wissenschaft: Inwiefern kann Lichtenbergs Werk als ein in universeller Hinsicht lohnendes ›Forschungs-objekt‹ angesehen werden?

d) Einen letzten Punkt bildet die Relevanz der Erkenntnisse Lichtenbergs für das moderne Individuum. Besonderes Gewicht liegt hierbei auf der Heraus-arbeitung des konkreten Werts, den die Auseinandersetzung mit Lichten-bergs Schriften für das Lichtenberg-lesende Individuum besitzt: Inwiefern wirkt die aktive Rezeption seines Werks auf das individuelle Selbstver-ständnis, Denken, Wahrnehmen und das sprachliche Ausdrucksvermögen?

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PROBLEME DERBEGRIFFSDEFINITION

2. Sensation, Perzeption, Apperzeption:

Zur Terminologie

Schwierigkeiten der Begriffsdefinition

»Wer sich also heute anschickt, die Begriffsgeschichte von »Sinnlichkeit« aufzu-zeichnen, steht vor nichts Geringerem als der gesamten Geschichte der Philosophie. Die Bedeutung von »Sinnlichkeit« auch nur für einen begrenzten Zeitraum vollstän-dig erläutern zu wollen, wäre ein heroisches Unterfangen.«1

So warnt Waltraud Naumann-Beyer in ihrem Aufsatz über den Begriff der Sinnlichkeit. Da sich Ähnliches auch von der Begriffsgeschichte der anderen zentralen wahrnehmungstheoretischen Termini konstatieren ließe, zielt dieser Abschnitt nicht darauf ab, eine umfassende und detaillierte Übersicht über die einzelnen Bedeutungsvarianten und Etymologien der Wahrnehmungstermi-nologie zu bieten. Vielmehr kennzeichnet diese Ausführungen, die anhand der Begrifflichkeiten lediglich eine erste Orientierung im Hinblick auf die Kon-stellation von Wahrnehmung, Erkenntnis und Sprache bieten wollen, ein gene-ralisierendes Moment.

Eines der prominenten Merkmale der Erforschung menschlicher Wahrneh-mung und Erkenntnis bildet ihre Allgegenwärtigkeit in der Wissenschaft und zwar gleichermaßen in geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Philosophie und Sprach- bzw. Literaturwissenschaft sowie in Naturwissenschaften wie Physik und natürlich in Medizin und Psychologie: Die Beobachtung, Analyse und Auswertung von Phänomenen der sinnlichen Erfahrung besitzt allerorten eine Schlüsselposition im Hinblick auf den Gewinn neuer Erkenntnisse und somit auch angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts überhaupt. Auf dieser grenz- und disziplinenübergreifenden Eigenschaft der Thematik beruht der Umstand, daß sich auf den unterschiedlichen Gebieten – teilweise untereinander korrespondierende, aber dennoch voneinander abweichende – jeweils eigene terminologische Systeme, den jeweiligen Untersuchungsschwerpunkten ent-sprechend akzentuierte und mit verschiedenen methodischen Herangehens-weisen verbundene ›theoretische Modelle‹ herausgebildet haben. So befaßt sich etwa ein Physiker in der Hauptsache mit den von ihm während seiner Versuche wahrgenommenen Phänomenen, um sie schließlich zu Hypothesen zusammenzufassen und durch Reflexion der Eindrücke in ihrer Gesamtheit eine Gesetzmäßigkeit herauszufiltern, um somit ausgehend von der Basis der subjektiven Sinneseindrücke objektive Erkenntnisse zu formulieren. Dagegen interessiert die Philosophie vor allem die theoretische Seite der Wahrneh-mung, indem sie bestrebt ist, Fragen nach dem Wahrheitsgehalt des Wahr-genommenen, der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt zu beantworten

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26

PRÄLIMINARIA: TERMINOLOGIE

sowie die Zusammenhänge von Wahrnehmung und Denken zu erhellen. Indes-sen steht in der Sprach- und LiteraturwisIndes-senschaft die Betrachtung des hältnisses von Sprache und Wahrnehmung, vor allem hinsichtlich der Ver-arbeitung sinnlicher Wahrnehmung im literarischen Ausdruck, im Mittelpunkt.

Wahrnehmung und Sprache

Ein zentrales Anliegen meiner Arbeit bildet die Herausarbeitung des Zusam-menhangs von Lichtenbergs sprachtheoretischen wie -kritischen Postulaten und seiner sprachlichen Praxis, wie sie in seinen Schriften gleichsam ›kon-serviert‹ vorliegt. Daß der sinnlichen Wahrnehmung der Umwelt wie des eigenen Selbst bei Verbalisierungsvorgängen – im allgemeinen wie bei Lich-tenberg im besonderen – eine initiierende Funktion zugesprochen werden muß, stellt hierbei eine These dar, die in den folgenden Ausführungen näher betrachtet wird. Ihr zufolge erscheinen sprachliche Äußerungen als Resultat einer Kette komplexer Wahrnehmungs- und Transformationsprozesse: Der Perzeption – als Aufnahme sinnlicher Eindrücke überhaupt – folgt die Apper-zeption als ›höhere Stufe‹ der Wahrnehmung, an die sich Reflexion und Erkenntnis anschließen. Die Transformation der apperzipierten Eindrücke in sprachliche Zeichen, die bereits in der gedanklichen Reflexion stattfindet, bil-det so gesehen eine Art ›transformierte Wahrnehmung‹, deren Produkt sinnlich wahrnehmbar ist – etwa visuell in schriftlicher oder auditiv in gesprochener Form.2 Darüber hinaus erscheint die Sprache auch als intellektuell

anspre-chende Bedeutungsträgerin, indem der semantische Gehalt sprachlicher Zei-chen als eine abstrahierte, weil durch die Transformation in die intersubjektiv

gültigen Sprachzeichen generalisierte, Wahrnehmung aufgefaßt werden kann.3

Am Beginn eines jeden Prozesses sinnlicher Wahrnehmung als »Form der ideellen Widerspiegelung der objektiven Realität vermittels des Zentralner-vensystems der Tiere und Menschen«4 stehen die äußeren Sinneseindrücke,

deren Reize von den Sensillen, Sinneszellen der Sinnesorgane, empfangen werden: »Die Wahrnehmung ist das sinnliche ganzheitliche Abbild der Gegen-stände mit ihren Eigenschaften und Beziehungen, die unmittelbar auf die Sin-nesorgane einwirken.«5 Sensuelle Wahrnehmungen erfolgen über die fünf

Sinne,6 »die körperlichen Organe der Wahrnehmung«7: visuell über den

2 Ja sogar taktil in Form der sogenannnten Braille-Schrift. 3 Vgl. Schmitz-Emans 1992, S. 78.

4 Klaus/Buhr121976, S. 1275.

5 Klaus/Buhr121976, S. 1275.

6 »Da der Ausdruck der ›5 S.[inne, U. F.]‹ in vielen modernen Sprachen vorkommt, suggeriert er die Existenz eines ahistorischen semantischen Universals, das sowohl das Konzept ›Sinnesorgan‹ als auch deren Fünfzahl zum Inhalt hat [. . .]. In Wirk-lichkeit ist der Begriff einer abzählbaren, festgelegten Anzahl von S.[inne, U. F.]n als körperlichen Organen mit einer an sie gebundenen mentalen Funktion (Empfin-dung oder Wahrnehmung) ein Ergebnis früher philosophischer Reflexion, das sich

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27

PROZESS DER SINNLICHENWAHRNEHMUNG UNDERKENNTNIS

Gesichtssinn, auditiv über den Gehörssinn, taktil über den Tastsinn, olfakto-risch über den Geruchssinn sowie gustatoolfakto-risch über den Geschmackssinn.8

Dabei können die unterschiedlichen Modalitäten der Sinneswahrnehmungen sowohl einzeln als auch in verschiedenen Kombinationen parallel ablaufen.9

Erkenntnisprozeß

Sensuelle Wahrnehmungsvorgänge verlaufen größtenteils im latenten Bewußt-seinsbereich oder gar vollkommen unbewußt, beispielsweise beim flüchtigen ›Registrieren‹ von Hintergrundgeräuschen, können aber dennoch Handlungen auslösen – und zwar instinktiv oder reflexiv motivierte Reaktionen. Eine der-artige sinnliche Wahrnehmung »ohne bewußtes Erfassen u. Identifizieren«10

kann in Anbetracht des wahrnehmenden Subjekts als eine passive Form der Wahrnehmung charakterisiert werden. Sie wird seit Leibniz entsprechend der Defintion in seiner »Monadologie« von 1714 unter dem Begriff der

Perzep-tion11subsumiert:

erst durch Kombination mehrerer gedanklicher Voraussetzungen ergibt. Solche Voraussetzungen sind: Herausgliederung einer mentalen ›Innenwelt‹ aus dem ursprünglich als psychologische Einheit aufgefaßten Individuum; Unterscheidung von ›Erkennen‹ und ›Handeln‹; innerhalb der kognitiven Funktionen Unterscheidung sensorischer und intellektueller Erkenntnis und Herstellung einer funktionellen Bezie-hung zwischen beiden; und Zuordnung qualitativ unterschiedlicher Sinnesbezirke zu bereits bekannten und sprachlich benannten Körperteilen, die dann als ›Werk-zeuge‹ oder eben ›Organe‹ der entsprechenden Sinnesbereiche aufgefaßt werden. Der gedankliche Prozeß an dessen Ende das Konzept der 5 S.[inne, U. F.] steht, läßt sich in Indien und China ebenso nachweisen wie am frühen philosophischen Den-ken der Griechen.« (HWPh IX, Sp. 825.).

7 Grimm 10, 1 (1905), Sp. 1138.

8 »Die vollständige Fünferliste (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) findet sich (ohne Angabe der Zahl) erstmals bei Demokrit, und zwar sowohl nominal als auch verbal.« (HWPh IX, Sp. 827.). Dort heißt es: »11. Von der Erkenntnis aber gibt es zwei Formen, die echte und die dunkle (unechte); und zur dunklen gehören folgende allesamt: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast, [. . .].« (Vgl. Vor-sokratiker. Bd. 2. S. 140 f.).

9 Eine besondere Art der Wahrnehmung stellt die Synästhesie dar, die vorliegt, wenn ein Sinneseindruck eine oder mehrere Sensationen anderer Sinnesmodalitäten aus-löst, wenn etwa bei einem bestimmten auditiven Eindruck zugleich eine visuelle Vorstellung provoziert wird, aber auch, wenn zu abstrakten Größen visuelle, audi-tive oder andere Sensationen empfunden werden. Zu den fünf offensichtlichen Sin-nesmodalitäten tritt ein »innerer Sinn«, der sogenannte »Sensus communis«, der als ›Gemeinsinn‹ oder ›gesunder Menschenverstand‹ übersetzt werden kann. Ob und inwiefern die Einbildungs- oder Imaginationskraft des perzipierenden Subjekt sowie die Fähigkeit der synästhetischen Wahrnehmung als eigenständige Sinnes-modalitäten aufgefaßt werden können, wird sich im Verlauf der Betrachtung zeigen. 10 Duden V, S. 2525.

11 NB: Bei der Lektüre englischsprachiger Literatur zur Wahrnehmung ist zu beach-ten, daß der englische Begriff der »perception« bedeutungsmäßig dem deutschen Begriff der »Apperzeption zuzuordnen ist und sich also auf das bewußte

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Wahrneh-28

PRÄLIMINARIA: TERMINOLOGIE

«§ 14. L’e´tat passager qui enveloppe et represente une multitude dans l’unite´, ou dans la substance simple, n’est autre chose que ce qu’on appelle la Perception, qu’on doit distinguer de l’apperception ou de la conscience [. . .]. Et c’est en quoi les Cartesiens ont fort manque´, aı¨ant compte´ pour rien les perceptions dont on ne s’ap-perc¸oit pas.«12

men bezieht. Dagegen ist der deutsche Ausdruck »Perzeption« mit dem englischen »sensation« zu übersetzen, der jedoch auch »(Sinnes-)Empfindung [. . .], Gefühl [. . .], Eindruck [. . .], Aufsehen [. . .], Sensation [. . .]« (Langenscheidts Taschen-lexikon der englischen und deutschen Sprache. Berlin, München [u. a.] 61981.

S. 480) meinen kann. So definiert Pastore: »Definition of Perception [. . .] The definition by Sully in 1884, which he repeated in other works before and afterward, seemed acceptable and was widely cited. In his view the mind is »passive« in sensation but »active« in perception: Perception is a complex mental act or process, involving presentative and representative elements. More particularly, perception is that process by which the mind, after discriminating and identifying a sense-im-pression (simple or complex), supplements it by an accompaniment or escort of revived sensations, the whole aggregate of actual and revived sensations being solidified or ›integrated‹ into the form of a percept, that is, an apparently immediate apprehension or cognition of an object now present in a particular locality or region of space.« (Pastore 1971, S. 186. Er zitiert nach Sully, J.: Outlines of psychology. New York 1884. S. 152.).

Gerade wegen dieser Bedeutungsverschiebungen der Termini, die nicht nur inter-sprachlich, sondern auch innerhalb derselben Sprache auftreten und dadurch zu Mißverständnissen in der Diskussion um die Wahrnehmung führen können, besteht die Notwendigkeit, die Terminologie definitorisch und differenzierend zumindest für die vorliegende Untersuchung festzulegen. Daß die Termini und ihre Bedeutun-gen austauschbar und alles andere als definitiv festgelegt sind, steht dabei außer Frage.

12 Leibniz/Köhler 1996, S. 16. Übersetzung nach Köhler: »Der veränderliche Zustand / welcher eine Vielheit in dem einen oder in dem einfachen in sich fasset und vorstellet / ist nichts anderes als dasjenige / welches man die Empfindung oder Perception nennet / die man von der Apperception oder von dem Bewußt sein wohl unterscheiden muß [. . .]. Und hierinnen haben die Cartesianer sehr verfehlet / wann sie die Perceptiones oder Empfindungen / derer man sich nicht bewußt ist und welche man nicht wahrnimmet / vor nichts gehalten haben.« (Leibniz/Köhler 1996, S. 17.).

Zur umfassenden Bedeutung der Leibnizschen Begriffe der Perzeption und Apper-zeption gibt Horn allerdings zu bedenken: »Man sollte sich hüten [. . .], PerApper-zeption sofort mit Vorstellung gleichzusetzen [. . .]. Wir erfahren zunächst nur, daß Perzep-tion das ist, was eine Vielheit (multitude) in einer Einheit einschließt oder umfaßt (enveloppe) und daß dies ein »vorübergehender Zustand« (l’e´tat passager) sei. [. . .] Da Perzeption im Leibnizschen Sinne hier [. . .] zunächst noch nichts mit Vorstel-lung oder Bewußtsein zu tun hat, müssen wir uns mit dem begnügen, was hier gesagt wird. Es kann also mit der Perzeption beispielsweise auch der biologische Bauplan einer Pflanze, ihre Zeitgestalt [. . .] gemeint sein. [. . .] Apperzeption wird mit dem Bewußtsein gleichgesetzt. Die »Perzeptionen, auf die man gewöhnlich nicht achtet,« sind also diejenigen, die man nicht apperzipiert, deren man sich nicht bewußt ist. Daß aber der Mensch nur relativ selten bei Bewußtsein ist, wissen wir nicht nur aus der analytischen Psychologie. Der Schlaf, in dem man auch nur auf einige wenige Perzeptionen achtet, die die Traumbilder sind, wäre demnach der Naturzustand des Menschen, aber als Zustand durchaus vorübergehend. So werden

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29

ERKENNTNIS: PERZEPTION UNDAPPERZEPTION

Eine »bewußte Wahrnehmung, Aneignung von Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalten«,13 also »aktive Aufnahme von [sinnlich] Gegebenem ins

Bewußtsein«14findet demzufolge nur statt, wenn die perzipierten Reize vom

Subjekt in bestimmter Weise bearbeitet werden, etwa durch das gezielte Aus-richten der Aufmerksamkeit auf einzelne Sensationen. Es findet hierbei eine Art ›Filtrierung‹ oder Auswahl der aufgenommenen Sensationen statt, die zu einer Bewußtwerdung dieser besonderen Empfindungen führt. Jene gleichsam gesteigerte Form der Perzeption bezeichnet nach Leibniz der Terminus der

Apperzeption, der im Gegensatz zur Perzeption im Sinne von »reine[m, U.F]

sinnliche[m, U. F.] Wahrnehmen ohne Reflexion als erste Stufe der Erkennt-nis«15 das »durch Reflexion des unterscheidenden Verstandes bewirkte [. . .]

Erfassen und Einordnen in einen Bewußtseinszusammenhang«16meint.

Während der größte Teil der Perzeption weitestgehend im Unbewußten abläuft und als ausschließliche Leistung der Sinne anzusehen ist, stellt die Apperzeption eine Kombination der Leistungen der Sensillen, des Sensori-ums17und des Intellekts dar. Mit den Empfindungen als Ergebnis unbewußter

Perzeption korrespondiert die aus der Apperzeption resultierende Erkenntnis als die »durch geistige Verarbeitung von Eindrücken u. Erfahrungen gewon-nene Einsicht«18, deren Folge bewußt verlaufende Handlungen sein können:

Eine besondere Ausformung der Transformation von Erkenntnisprozessen bil-det die Sprache oder die Sprechhandlung. Charakteristisch für die apperzep-tive Verarbeitung sensueller Eindrücke ist die Einordnung des Wahrgenom-menen in einen Bewußtseinszusammenhang – wobei Korrespondenzen und Verbindungen zwischen gegenwärtigen und früheren sensuellen Erfahrungen beispielsweise in Form von Assoziationen oder Kausalverknüpfungen her-gestellt werden.

Der Auffassung, daß Apperzeption gleichsam das ›bewußte Substrat‹ fil-trierter Perzeption darstellt, entspricht August Langens Definition der beiden Wahrnehmungsqualitäten. In der Einleitung zu seinem Werk über die »An-schauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts« definiert er das »psychologische Bild des Wahrnehmungsvorganges«19: »Während die

Per-zeption das weitere Gesichtsfeld, einen verhältnismäßig großen Kreis umspannt, wird nur ein kleiner Ausschnitt zu deutlicher Apperzeption, auf ihn konzentriert sich die Aufmerksamkeit.«20Perzeption und Apperzeption

unter-also gewöhnlich die Perzeptionen der Natur ebenso wie des Menschen wenig beachtet [. . .].« (Leibniz/Horn 1962, S. 45. Zitate im Zitat stammen aus Horns Übersetzung des Leibnizschen Textes.).

13 Duden I, S. 238. 14 Duden I, S. 238. 15 Duden V, S. 2525. 16 Duden I, S. 238.

17 Als Ort im Gehirn, wo Sinnesreize bewußt werden. Vgl. Duden VI, S. 3081. 18 Duden I, S. 958.

19 Langen 1934, S. 7. 20 Langen 1934, S. 7 f.

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30

PRÄLIMINARIA: TERMINOLOGIE

scheiden sich demzufolge nicht nur in der Quantität des Wahrgenommenen, sondern: Indem der Apperzeption eine größere Deutlichkeit und Schärfe zu-gesprochen wird, verweist Langen zugleich auf den qualitativen Unterschied

von Perzeption zu Apperzeption. Diese Auffassung spitzt Langen zu, indem er

den »Apperzeptionspunkt«21als »den kleinen Ausschnitt der schärfsten und

deutlichsten Wahrnehmung«22benennt.23

Die hier grob skizzierte Konstellation von aktiv-bewußter und passiv-unbewußter Aufnahme sensueller Reize als der beiden unterschiedlichen Qua-litäten von Wahrnehmung veranschaulicht eine vereinfachende schematische Darstellung.24

Nach diesem Modell ist Sprache einerseits als doppelt abstrahierte Wahr-nehmung aufzufassen, wenn die Erkenntnis die erste Stufe und deren Trans-formation in Sprachzeichen die zweite Stufe der Abstraktion oder Generali-sierung des Wahrgenommenen bildet. Andererseits kann die Sprache jedoch – trotz aller Abstraktion – zum (Ap-)Perzeptionsobjekt avancieren, indem sie unter bestimmten Voraussetzung sinnlich wahrnehmbar wird und Sensationen evoziert.

Sensation, Sensualität, Sensitivität: Abgrenzung der Begriffe

Die Sensation stellt demzufolge das Ergebnis der Perzeption überhaupt dar und ist also relativ klar definiert als Empfindung oder Eindruck. Hingegen muß der Begriff des Empfindungsvermögens gegenüber Ausdrücken wie Empfindlichkeit oder Empfindsamkeit differenziert werden.

Während Sensualität die Fähigkeit oder das Vermögen bezeichnet, über-haupt sinnlich wahrzunehmen, benennt Sensibilität, also Empfindlichkeit, sowie Sensitivität oder Empfindsamkeit als deren Progression jeweils gestei-gerte Formen der sinnlichen Empfindungsfähigkeit. Das Verhältnis von Sen-sualität, Sensibilität und Sensitivität ließe sich demnach mit der hierarchisch angeordneten Konstellation von Positiv, Komparativ und Elativ25

parallelisie-ren. Von diesen drei Begriffen, die das Vermögen zur sinnlichen Wahrneh-mung bezeichnen, ist der Ausdruck »Sinnlichkeit« insofern abzugrenzen, als er

nicht eine Fähigkeit, sondern einen Zustand und zwar zum einen »das den

21 Langen 1934, S. 8. 22 Langen 1934, S. 8.

23 Dies entspricht der von ihm im Laufe seiner Ausführungen vielfach und plausibel belegten These vom aufklärerisch-rationalistischen »Prinzip der Rahmenschau«, für die er häufig Zitate Lichtenbergs heranzieht. Vgl. Langen 1934.

24 Vgl. Schema 1, S. 31. Die zwangsläufig linearisierte Darstellung darf nicht über Tatsache hinwegtäuschen, daß Wahrnehmungsprozesse im allgemeinen nicht linear und zudem nicht entweder bewußt oder unbewußt ablaufen, sondern immer als Kombination von bewußter und unbewußter Verarbeitung äußerer Reize stattfinden, wobei das unbewußt Wahrgenommene überwiegt.

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SENSATION, SENSUALITÄT, SENSITIVITÄT

Sinnen [. . .] zugewandte Sein«26, zum anderen ein »sinnliches Verlangen«27,

ein Bedürfnis nach sensuell Wahrnehmbarem, bezeichnet.

Sinneseindrücke

Sinnesorgane/Sensillen

‘Black Box’: Wahrnehmung, PERZEPTION, Gehirn/ZNS Sensation, Empfindung APPERZEPTION Erkenntnis potentielle Re-Aktion: (Sprech-)Handlung Gefühl/Instinkt Empfindung/Gemütsverfassung potentielle Re-Aktion: Instinkt- oder Reflexhandlung

Sinnesreize

Weiterleitung durch Sinnes- und Nervenzellen

Sensorium

Bewußtwerdung

Leistung der Sinne und des Intellekts Reflexion/Denken Einordnung in Bewußtseinszusammenhang Überprüfung Transformation weitgehende Unbewußtheit Schema 1 26 Duden VII, S. 3112.

27 Duden VII, S. 3112. Ich verwende den Begriff der Sinnlichkeit hier hauptsächlich ohne die im Duden aufgeführte erotische Konnotation, nämlich als Bezeichnung für das Verlangen nach sensueller Wahrnehmung, nach konkreten sinnlichen Erlebnissen.

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PRÄLIMINARIA: TERMINOLOGIE

3. Sprache und Sinnlichkeit im Werk Lichtenbergs

Mit einem Überblick über den Stellenwert der sinnlichen Wahrnehmung und ihren Ausdruck durch die Sprachzeichen im Werk Lichtenbergs werden im folgenden Abschnitt die Ausgangspositionen meiner Ausführungen in Form von Thesen und Fragen skizziert. Die Untersuchung der vorgestellten Thesen anhand detaillierter Textanalysen sowohl in sprachlich-stilistischer Hinsicht als auch im Hinblick auf die verbale Umsetzung einzelner Sinnesmodalitäten unter Berücksichtigung der theoretischen Diskussion um den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Sprache steht im Zentrum des zweiten Hauptteils. Ein Überblick über das ihm zugrundeliegende Textmaterial schließt sich an die Darlegung der Thesen an.

Sprachliche Gestaltung

Sinnliche Wahrnehmungen, insbesondere auch als Betrachtung des eigenen Ichs aus der Außenperspektive, nehmen im Werk Lichtenbergs zentrale Posi-tionen ein – und zwar nicht nur im Hinblick auf seine hauptberufliche Tätig-keit als Experimentalphysiker, die ja auf der Deskription und Interpretation sinnlich wahrgenommener Phänomene basiert, sondern vor allem hinsichtlich seiner erkenntnistheoretischen und sprachästhetischen Anschauungen sowie – als deren Konsequenz – ihrer sprachpraktischen Einlösung in seinen litera-rischen Schriften.

Nicht erst bei näherer analytischer Betrachtung seiner Schriften zeigt sich, daß Lichtenbergs Sprachgebrauch neben Konzision, Präzision und Ökonomie im Ausdruck ein hoher Grad an sinnlicher Anschaulichkeit prägt, die gleich-sam zu einer ›Konkretisierung‹ und Unmittelbarkeit der Sprache beiträgt. Diese Konkretisierung wird offensichtlich vor allem im häufigen Einsatz stilistischer Mittel wie Metaphorik und innovative Wortkombinationen und -bildungen erreicht. Die für Lichtenberg typische Art der Verknüpfung dieser und weiterer Stilmittel, ihre gleichsam synthetische Verbindung im sprachli-chen Ausdruck verleiht seinen Schriften sowohl einen originell-individuellen – oder besser: individualisierten, weil bewußt herbeigeführten – Charakterzug als auch eine rezeptionsorientierte Diktion.

Die Erkenntnis, daß Lichtenbergs Sprachgestaltung auf die Erzeugung einer sinnlich-konkreten Unmittelbarkeit hin angelegt erscheint, die vor allem durch entsprechende metaphorische Verschlüsselungen, allegorische Veran-schaulichungen abstrakter Sachverhalte sowie durch assoziative Wortverbin-dungen und aus ihnen resultierende neologistische Komposita bewirkt wird, bildet eine der zentralen Ausgangsthesen meiner Arbeit.

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THESEN UND FRAGEN:SPRACHTHEORETISCHEREFLEXIONEN

Differenz zwischen Ausdruck und Auszudrückendem

Daß Lichtenberg das sprachliche Erscheinungsbild seiner Schriften bewußt gestaltet, legt nicht nur mittelbar die stilistische Virtuosität und Ausgefeiltheit seiner Sprache nahe, sondern zeigt sich vor allem auch in seinen sprachtheo-retischen Reflexionen, die über seine »Sudelbücher« verstreut anzutreffen sind. Im Zentrum dieser Reflexionen steht die Kritik an der prinzipiellen

Unzulänglichkeit der Sprachzeichen in ihrer Funktion als Ausdrucksträger

gedanklicher Prozesse und sensueller Apperzeptionen. Aus dieser Einsicht resultiert Lichtenbergs Erkenntnis, daß dem sprachlichen Ausdruck als Träger transformierter Sinneswahrnehmungen und Gedanken generell ausschließlich metaphorischer Charakter zugestanden werden dürfte, da das Wesen der Spra-che mit seiner konventionellen ZeiSpra-chenordnung zu verschieden ersSpra-cheint von den Denk- und Wahrnehmungsstrukturen des Individuums, vor allem im Hin-blick auf die Differenz zwischen jeweils subjektiv-individueller Wahrneh-mung und ebensolchem Denken des Einzelnen auf der einen Seite und den generalisierenden, weil auf intersubjektive Kommunikation hin angelegten Sprachzeichen auf der anderen Seite. Insofern erscheint der sprachliche Aus-druck als das Resultat einer Selbstentfremdung: Ihn prägt eine Distanz zum eigenen Ich.

Sprache stellt demnach ausschließlich eine dem eigentlich Auszudrücken-den angenäherte, aber niemals ihm adäquate Form der Kommunikation dar: Sprachzeichen können deshalb mit Blick auf die individuell verschiedenen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen lediglich »Differential-Wahrheiten« ver-mitteln. Mit dieser Auffassung, nach der Sprache und Denken auseinanderfallen, distanziert sich Lichtenberg von der streng rationalistischen Aufklärung, die in die Repräsentations- und Kommunikationsfunktion des sprachlichen Zeichens vertraut:1»Er wird zugleich zu einem Vorläufer des kommenden 19.

Jahrhun-derts, zu Schopenhauer, Nietzsche und Hofmannsthal, die die ›Krise der Spra-che‹ vollends empfinden und auszudrücken versuchen werden«,2so Schiewe.

1 Dazu Jürgen Schiewe: »Diese wichtige Einsicht, die ihn trennt von den Grund-annahmen der streng rationalistischen Aufklärung, gilt ihm einmal prinzipiell für das Verhältnis zwischen den Begriffen des Denken und den Wörtern der Sprache, es gilt ihm auch für die verschiedenen gesellschaftlich bedingten Sprachformen und Sprachebenen. Lichtenbergs Sprachkritik nimmt ihren Ausgangspunkt im Zweifel an der adäquaten Bezeichnungsfähigkeit von Gedanken und Dingen durch Worte, und sie setzt sich fort in einem Zweifel an einer adäquaten Kommunikation durch Worte, d. h. an einem gegenseitigen sprachlichen Verstehen der Menschen unterein-ander.« (Schiewe 1998, S. 121.).

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PRÄLIMINARIA: SPRACHE UNDSINNLICHKEIT BEILICHTENBERG Individualisierung der Sprache als Ausweg:

Sprachästhetische Grundanschauungen Lichtenbergs

Trotz seiner Einsicht in die Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks als Medium der Mitteilung individuell-subjektiver Erkenntnisse sucht Lichten-berg nicht außerhalb der Sprache nach Lösungen, sondern sieht die Lösungs-wege der Ausdrucksschwierigkeiten innerhalb der Sprache. Als notwendigste Bedingung für die Herausbildung einer dem Auszudrückenden adäquateren Sprachform erscheint in Lichtenbergs Reflexionen die Adaption der Sprache an das eigene Denken unter Beibehaltung der intersubjektiven Kommunika-tionsfunktion der Sprache: Eine derartige ›Individualisierung des Ausdrucks‹ kann durch eine für das jeweilige Individuum charakteristische Kombination verschiedener stilistischer Mittel erreicht werden. Insbesondere sind hierbei extraordinäre Assoziationsleistungen zu nennen, die sich sprachlich in un-gewöhnlichen Metapherbildungen realisieren. Bildlichkeit im Ausdruck erscheint Lichtenberg hierbei insofern besonders wichtig, als sie dem abstra-hierenden Charakter der Sprachzeichen entgegenzuwirken vermag, indem sie der Sprache ein Moment von Sinnlichkeit verleiht – und diese damit wesens-mäßig an ihren Ursprung in der sensuellen Apperzeption annähert.

Eine grundlegende Voraussetzung für die Individualisierung der Sprache bildet – neben der Kunstfertigkeit im Umgang mit sprachlichen Ausdrucks-mitteln – die eigene unmittelbare Anschauung, denn:

»Simpel und edel schreiben erfordert vielleicht die größte Spannung der Kräfte, weil in einer allgemeinen Bestrebung unserer Seelenkräfte gefallen zu wollen, sich nichts so leicht einschleicht als das Gesuchte, es wird außerdem eine ganz eigene Art dazu

erfordert die Dinge in der Welt zu beobachten, die eher das Werk eines nicht sehr

belesenen schönen Geistes als eines Studiums des Altertums ist.«3

Dieser »Sudelbuch«-Eintrag enthält die wichtigsten Konstituenten der

Sprach-und Wahrnehmungsauffassung Lichtenbergs in konzentrierter Form, Sprach-und zwar

insofern, als hier

a) der ästhetische Anspruch an den Sprachstil, »simpel und edel« zu sein; b) die sinnliche Anschauung unter Betonung ihres individuellen, »eigenen«

Charakters als Voraussetzung und Grundlage für die Einlösung dieses Stil-Postulats;

c) der Vorrang der sinnlichen Wahrnehmung und anschaulichen Erfahrung vor der gleichsam ›abstrakten‹, da vorrangig intellektuellen Wissensaneig-nung durch Lektüre, impliziert in der Gegenüberstellung des »nicht sehr belesenen schönen Geistes« und des »Studiums des Altertums«,

artikuliert werden.

Auf engstem Raum sind die essentiellen sprachtheoretischen Erkenntnisse Lichtenbergs in der für ihn charakteristischen Dichte und Präzision

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