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Theoretische Grundlagen „Soziale Ungleichheit in Mortalität und Morbidität“ – konzeptionelle Vorüberlegungen Günther Steinkamps

2.4 Befunde

2.4.4 Soziale Ungleichheit, psychosoziale Lebenskontexte, subjektive Gesundheit – Gibt es umfassende Befunde? subjektive Gesundheit – Gibt es umfassende Befunde?

2.4.4.1 Theoretische Grundlagen „Soziale Ungleichheit in Mortalität und Morbidität“ – konzeptionelle Vorüberlegungen Günther Steinkamps

Der Soziologe Günter Steinkamp stellte 1993 erstmals ein Mehrebenenmodell vor, das er 1999 weiter ausdifferenzierte und in ein Schaubild umsetzte (Steinkamp, 1993, 1999). Mehrere Kritikpunkte an der sozialepidemiologischen Forschung werden von ihm im Rahmen seiner theoretischen Ausführungen aufgegriffen und in seinen Mo-dellvorstellungen berücksichtigt. Dabei bezieht sich seine Kritik auf die mangelhafte Entgegnung ungleicher Lebensbedingungen durch das in der Soziologie verwendete Schichtkonstrukt. Nach Steinkamp erscheint die Kausalität zwischen sozialer Un-gleichheit und daraus resultierender sozial ungleicher Gesundheit zu weit gefasst. Er nennt dies einen unzulässig weiten Kausalsprung. Seiner Meinung nach existiert zwi-schen der Ebene der sozialen Ungleichheit und der Manifestationsebene von Ge-sundheit und Krankheit eine Ebene der sogenannten sozialen Lebenskontexte. Dies bleibt nach Steinkamp in der bisherigen Forschung zu sozialer Ungleichheit und indi-vidueller Gesundheit unberücksichtigt. Weiterhin verweist er auf die Problematik der Kausalanalyse und ihrer temporären Voraussetzung, nach der die Ursache (soziale Ungleichheit) der Wirkung (individuelle Gesundheit) vorausgehen muss. Die gegen-wärtige Forschung unterschätzt seiner Meinung nach diesen Umstand und wird ihm nicht gerecht (Steinkamp, 1993, S. 111). Einen weiteren Kritikpunkt sieht Steinkamp in dem behavioristischen Menschenbild der Sozialepidemiologie und dem daraus fol-genden Fehlen einer Subjektperspektive.

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In seinem Aufsatz von 1993 gibt Steinkamp einen historischen Überblick über die Entstehungs- und Theoriebildungsprozesse der Soziologie „Sozialer Ungleichheit“.

Dabei stehen im Wesentlichen die Beiträge von Karl Marx und Max Weber im Mittel-punkt der Erörterungen. Theodor Geiger findet innerhalb dieser Analysen insgesamt nur wenig Beachtung (Steinkamp, 1993, S. 112). Für die sozialepidemiologische For-schung von Bedeutung ist sein Hinweis darauf, dass die Messung und Operationali-sierung sozialer Ungleichheit und mit ihr einhergehend die Verwendung von Ungleich-heitsstrukturen – ob Klasse, Schicht oder Milieu – eher von forschungsökonomischen Gedanken getragen ist. Diese Vorgehensweise muss als wenig theoriegeleitet und als methodisch undisziplinierte Erfassung ungleicher Lebensbedingungen bezeichnet werden (Steinkamp, 1993, S. 112). Steinkamp bezweifelt, ob die bisher verwendeten Indikatoren sozialer Ungleichheit (Macht, Prestige und berufliche Stellung) die Er-kenntnisse der soziologischen Theorien adäquat abbilden. Die bisher verwendeten empirischen Konzeptionen von sozialer Ungleichheit (unterschiedliche berufliche Be-lastungen, Gleichstellung von Wissen mit Schulabschluss etc.) sind seiner Auffassung nach unangemessen. Zudem weist Steinkamp darauf hin, dass die in bisherigen Stu-dien verwendete Standarddemografie mangelhaft konzipiert ist, da sie geschlechts-spezifisch ungleich erhoben wird. Sämtliche wesentlichen Haushaltsparameter wer-den über wer-den in der Regel männlichen Haushaltsvorstand abgefragt.

Steinkamp betont des Weiteren die Einschränkung der Sozialstrukturanalyse hinsicht-lich ihrer Ausrichtung. Generell wird davon ausgegangen, dass es sich bei den gefun-denen Schichttypologisierungen um klar voneinander abgrenzbare Konglomerate sozialer Ungleichheit handelt. Mit einer differenzierteren sozialepidemiologischen Sichtweise wird jedoch deutlich, dass eine Erweiterung der horizontalen Perspektive, also einer Sichtweise in Erweiterung zur vertikalen Perspektive eines Oben und Unten klassischer Klassen- und Schichtungssoziologie, notwendig ist. Unter Verweis auf frühere Äußerungen Geigers, der schon früh erkannte, dass eine Grobgliederung der Gesellschaft zur Einebnung qualitativer Unterschiede innerhalb von Statuslagen führt, ist der Standpunkt indiziert, dass moderne Gesellschaften eher mehrdimensional er-scheinen – mit vertikalen und horizontalen Ankerpunkten. Die alten Grenzen und Be-stimmungslinien der auf sozialer Ungleichheit beruhenden Sozialstruktur verschwim-men nach Steinkamp immer mehr. Gravierendes Merkmal dieser Entwicklung schei-nen die Trichterwände aus politisch-administrativ und sozio-kulturell geprägten Un-gleichheiten zu sein, die in ihrem Fluss die Lebenslagen von immer mehr Menschen beeinflussen. Situative Merkmale wie Alter, Geschlecht, Generation, Region und eth-nische Zugehörigkeit werden mit subjektiv geprägten Aspekten wie sozialen Netzwerken und Freizeitbedingungen verwoben und von Arbeitsplatzbedingungen und

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risiken, Wohlfahrtsteilhabe und sozialer Absicherung kanalisiert. Der Schluss aus die-sen neuen Erkenntnisdie-sen moderner Sozialstrukturanalyse ist die Vorstellung eines neuen Gefüges moderner Gesellschaften, das in seiner Statik nicht mehr auf den klassischen Merkmalen beruht, sondern ein Quer zu den alten Schichtgrenzen liegen-des Soziallagenmodell denkbar macht. Insgesamt erscheint es nach seinem Ver-ständnis ratsam, „(...), ein Ordnungsmodell sozialer Ungleichheit auch in die sozial-epidemiologische Forschung einzubringen, das von den Vorstellungen deutlich hierar-chisch geordneter Sozialschichten abrückt und gruppenspezifische Bündelungen typi-scher Konstellationen ungleicher Lebensbedingungen in den Mittelpunkt der Analyse rückt“ (Steinkamp, 1993, S. 114).

Zusammenfassend lässt sich das Plädoyer Steinkamps für neue Ungleichheitsanalyse wie folgt beschreiben: “Mit der Konzentration auf ‚alte’ Ungleichheiten und deren Re-duktion auf die ‚meritokratische Triade von Bildung, Beruf und Einkommen’ werden all die Ungleichheiten ausgeklammert, die nicht auf Leistungsqualifikation zurückzuführen sind“ (Steinkamp, 1993, S. 113). Ein mögliches Dilemma bei strenger Beachtung von neuer Ungleichheit wäre die Atomisierung der Gesellschaft – absolute Individualisie-rung wäre die Folge. Als Ausweg führt Steinkamp die „(...) gruppenspezifische Bünde-lung typischer, also schicksalsbestimmender Dimensionen ungleicher Lebensbedin-gungen bei gleichzeitiger, sie variierender horizontaler Disparitäten“ an (Steinkamp, 1993, S. 114).

Der zentrale Fokus Steinkamps Überlegungen betrifft den Tatbestand eines sozialen Gradienten. Umfassende Literaturstudien lieferten Belege dafür, dass ein Zusammen-hang zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit, chronischer Krankheit und Lebenser-wartung besteht. Obwohl der Nachweis eines Raum-Zeit-stabilen, inversen Schicht-gradienten als gesichert gelten kann, scheinen die Ursachen hierfür ungeklärt. Für Steinkamp ist der Auswahlprozess für mögliche Erklärungsansätze eingegrenzt. Er sieht die Kovariation zwischen sozialer Schicht und Krankheit resp. Gesundheit ent-weder als

- sozialen Verursachungsprozess, - sozialen Selektionsprozess oder - Kombination von beidem

an. Steinkamp präferiert den Erklärungsansatz der Verursachungshypothese und erörtert dabei in seinen Beiträgen die wesentlichen Variablengruppen sozialepidemio-logischer Forschung, auf welchen Ebenen der sozialen Realität diese anzusiedeln sind und welchen Beitrag sie für die Aufhellung des „unzulässigen Kausalsprungs“ von

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der Makro-Ebene sozialer Ungleichheit hin zu individueller Gesundheit/Krankheit leis-ten können. Ziel ist es, hierbei ein Modell zu entwickeln, in dem „die jeweils höhere Ebene relevante Bedingungen für die [folgenden] Ebenen vorgibt“ (Steinkamp, 1993).

Steinkamp wählt die Form eines Mehrebenenmodells aufgrund ihrer „Form multivaria-ter Betrachtungsweise sozialer Phänomene“ als Verbindungsmöglichkeit zwischen der Sozialstruktur einerseits und auf individueller Ebene manifest gewordener Folgen bzw.

Beeinträchtigungen andererseits. Erst in dem von ihm 1999 erschienen Aufsatz bietet er eine grafische Visualisierung dieser Vorstellung (vgl. Abbildung 5) (vgl. Steinkamp, 1999, S. 130).

Makroebene

Lage im System sozialer Ungleichheit

Mesoebene

• materielle und

• soziale Produktions- (z.B.

Arbeits-) und Repoduktions-bedingungen ( z.B. Partner bzw. Familie, Freizeit)

Mikroebene

Persönlichkeit Organismus „outcome“ Variablen

Soziale Schicht Indikatoren:

• Beruf

• Einkommen

• Schulbildung

Gruppenspezifischer gesundheitsbezogener Lebensstil

Belastungen

• kritische Lebensereignisse

• Dauerbelastungen

• kleinere Alltagsbelastungn

soziale Ressourcen

• emotionale Unterstützung

• instrumentelle Unterstützung

Systemische Ressourcen

• Zugang zum und

• Versorgung durch das Gesundheitssystem

Personale Ressourcen

• Kognitionen

• Kontrollüberzeugungen

• Risikowahrnehmung

Bewältigungsprozeß

Wahrnehmung

Bedeutungseinschätzung

— irrelevant

— positiv

— belastend

Bewältigungshandeln

— erfolgreich

— erfolglos

Negative Emotionen Angst, Wut, Haß etc.

sozoemotionaler Distress (chronisch)

Gesundheitsschädigendes Verhalten

Genetische Dispsitionen

Pathogene physio-logische Prozesse Blutdruck ↑ LDL ↑ Triglyceride ↑ Blutzucker ↑ Körpergewicht ↑ Zentralnervöse Proz.

immunologische Proz.

endokrine Proz.

• giftige Substanzen

• infektiöse Mikroorganismen

• Lebenserwartung

• Körperliche Krankheiten

• Psychische Störungen kurzfristig langfristig

Abbildung 5 Mehrebenen-Modell über den Zusammenhang von sozialer Schicht, Krankheit und Lebenser-wartung (ohne Rückwirkungsschleifen) – nach Steinkamp 1999

Demnach gestaltet Steinkamp ein Modell, das aus drei Ebenen und mehreren Teil-ebenen besteht. In seinem Beitrag von 1993 beschreibt Steinkamp diese Ebenen noch hierarchisch, in dem er ihnen eine vertikale Ordnung unterstellt (Steinkamp, 1993, S. 111). Auf der sogenannten Makro-Ebene werden die Bedingungen und Strukturen sozialer Ungleichheit repräsentiert. Diesem Bereich folgt die Meso-Ebene der sogenannten sozialen Kontexte, in denen sich nach Steinkamp die „strukturell vermittelten ungleichen Belastungen und Ressourcen ihre Wirkung entfalten“. Auf der

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sogenannte Mikro-Ebene werden die Belastungen und Ressourcen thematisiert. Im Folgenden werden die einzelnen Modellebenen genauer beschrieben.

Nachdem die wesentlichen theoretischen Grundlagen der Makro-Ebene sozialer Un-gleichheit bereits unter Kapitel 2.1 beschrieben wurden, folgt nun eine Erläuterung der Meso-Ebene.

Meso-Ebene

Auf der Meso-Ebene siedelt Steinkamp die in der Forschung bisher vernachlässigten Einflussfaktoren bzw. Vermittlungsprozesse an. Hierunter subsumiert er Partnerbezie-hungen, Familien, Peer-Groups, berufliche Arbeitsverhältnisse, „(...) in denen sich das alltägliche Leben von Menschen abspielt und über die strukturell vermittelte ungleiche Vorgabe erst ihre Wirkung entfalten“ (Steinkamp, 1993, S. 115). Näher beschrieben wird die Ebene der sozialen Kontexte in dem Belastungs- und Ressourcenkonzept.

Die Systematisierung von Belastungen erfolgt durch die Unterscheidung von - kritischen Lebensereignissen,

- Dauerbelastungen und - kleineren Arbeitsbelastungen.

Dabei bildet die Lebensereignisforschung einen wichtigen Baustein in der Sozialepi-demiologie. Vor allem bei der Entstehung und Chronifizierung von psychischen Stö-rungen spielt die Erforschung von Lebensereignissen eine Rolle. Noch ungeklärt scheint die Frage, inwiefern kritische Lebensereignisse wie Verwitwung oder Arbeits-losigkeit „chronische Dauerbelastungen und Irritationen des Alltagslebens“ erst her-vorrufen (Steinkamp, 1993, S. 116). Berichtet wird ein Einfluss von kritischen Lebens-ereignissen auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Störungen (Depressivität, akute Schizophrenie, Neurosen), aber auch für somatische und psychosomatische Krankheiten. Als Reaktion auf diese nur mangelhafte Varianzaufklärung richtet sich der Fokus zunehmend auf den Bereich der alltäglichen Belastungen in Partnerbezie-hungen, der Familie, der Berufsarbeit etc. (Steinkamp, 1993, S. 115). Alltägliche Be-lastungen können hierbei unterteilt werden in

- Dauerbelastungen (chronic strains, persistent life strains, role strains) und - kleinere Alltagsbelastungen (daily hassles, minor life events).

Aufgrund von bisherigen Forschungsergebnissen kann festgehalten werden, dass alltägliche Belastungen mehr oder zumindest gleich viel Varianz aufklären als kritische Lebensereignisse (Steinkamp, 1993, S. 115).

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In Belastungsstudien wird Stress als Individualvariable behandelt – als Unterstellung einer zufallsgesteuerten, individuellen Verteilung von Belastungen. Durch empirische Untersuchungen konnte aber aufgezeigt werden, dass diese chronischen Belastungen von sozialstrukturellen Faktoren wie soziale Schicht, Geschlecht und Alter abhängen.

Kritische Lebensereignisse wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit und Tod, aber auch chronische Rollenbelastungen in beruflicher Arbeit, in Partner- und Familienbe-ziehungen nehmen in modernen Gesellschaften von oberen zu unteren Soziallagen zu. Insgesamt muss hier ein wesentlicher Bereich in der Mediation zwischen Makro- und individueller Mikro-Ebene gesehen werden, der von der Belastungsforschung vernachlässigt wurde. Steinkamp unterstreicht in seinem Aufsatz den sozialepidemio-logischen Forschungsbedarf hinsichtlich der Frage „nach der Wirkungsweise unter-schiedlicher sozialer Lagen auf Belastungsart, -quantum und -intensität“ (Steinkamp, 1993, S. 116). Steinkamp sieht in diesem Zusammenhang das Belastungskonzept als ein korrigierendes Gegengewicht zu allen Formen des biomedizinischen und psycho-logischen Reduktionismus. Dieser Reduktionismus trifft jedoch auch dann auf das Belastungskonzept zu, wenn die Pufferfunktion von Bewältigungsressourcen ausge-blendet wird. Schließlich muss die Reaktion auf Belastungen nach wie vor als sehr individuell angesehen werden. So kann nach dem Verständnis des Autors die Reakti-on auf Arbeitslosigkeit „vReakti-on einer Erleichterung über die Entlastung vReakti-on physischen und psychischen Zwängen der bisherigen Tätigkeit (...), bis hin zu physischen und psychischen Verelendungserscheinungen (...)“ reichen. Hier schließt sich die Frage nach „den Belastungen moderierenden oder kompensierenden Bedingungen“ an (Steinkamp, 1993, S. 116). Durch die integrative Verknüpfung mit dem Ressourcen-konzept wurde das BelastungsRessourcen-konzeptes erweitert.

Unter Ressourcen werden Leistungen sozialer Unterstützung (soziales Netzwerk) wie auch personale Ressourcen in ihrem ganz speziellen lebensgeschichtlichen Kontext subsumiert.

Erwähnenswert nach Steinkamp ist die Metaanalyse von Schwarzer u. Leppin, die in der Reihenfolge ihrer Bedeutung intime Lebenspartner, Familie, Freunde und Arbeits-kollegen als wirksamste Quellen sozialen Rückhaltes bei Depression identifizierten (Schwarzer & Leppin, 1988). Die Autoren fanden allerdings keinen Zusammenhang zwischen körperlicher Gesundheit und sozialem Rückhalt. Getrennt nach einzelnen Einflussfaktoren zeigte sich ein Einfluss durch Familienmitglieder, nicht jedoch durch den Lebenspartner. Dieser Einfluss ist zudem für Frauen bedeutsamer als für Männer.

Wird dieses Ergebnis auf den Umstand der sozialen Ungleichheit bezogen, so ergibt

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sich auch hier eine ungleiche Verteilung sozialer Unterstützung und Netzwerke zu Ungunsten der unteren sozialen Schichten (Steinkamp, 1993, S. 117).

Die bei Steinkamp zusammengestellte Literatur, die einen Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Status und sozialer Unterstützung belegt, stammt insgesamt aus dem angelsächsichen Raum und eine Adaptation auf deutsche Verhältnisse steht noch aus. Weiterhin bleibt ungeklärt, was die Ursachen für eine sozial ungleich verteil-te soziale Unverteil-terstützung sind.

Die Mikro-Ebene

Im Mittelpunkt der Mikro-Ebene steht die Klärung der Frage, „welche personalen Res-sourcen mobilisiert werden können und welche intrapsychischen und intraphysischen Prozesse bei der Konfrontation mit situativen Belastungen ausgelöst werden.“

(Steinkamp, 1993, S. 117). Je nach Forschungstradition werden unterschiedliche Komponenten des Stressgeschehens betont. Auf der einen Seite definieren Cannon oder Selye Stress als unspezifische Anpassungsreaktion des Organismus auf Anfor-derungen durch die Umwelt. Im sog. kognitiv-transaktionalen Ansatz (Lazarus et. al.

1966) steht im Vordergrund, „dass die Entstehung gesundheitlicher Störungen von der subjektiven Bedeutungseinschätzung und Verarbeitung objektiver situativer Rahmen-bedingungen abhängt“ (Steinkamp, 1993, S. 117). Stress wird nach diesen Autoren als dynamisches Beziehungsgeschehen zwischen Person und Umwelt definiert. Die Person bewertet Geschehnisse der Umwelt im Hinblick auf ihr Wohlergehen. Psychi-scher Stress und damit gesundheitliche Beeinträchtigung tritt dann ein, wenn die Per-son ein Unverhältnis zwischen Anforderungen durch die Umwelt und der ihr zur Ver-fügung stehenden Bewältigungsressourcen wahrnimmt.

Für die Gesundheit entscheidend ist, mit welchen Bewältigungsstrategien Stress ent-gegnet wird. Insbesondere die personalen Ressourcen bilden dabei den Mittelpunkt des sogenannten Coping-Prozesses. Diese werden lebenslang geformt und sind da-bei implementiert in eine genetisch determinierte psychische Konstitution (Steinkamp, 1993, S. 117). Von folgenden personalen Eigenschaften wird ein Effekt auf die Stress-bewältigung vermutet:

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- externale vs internale (gesundheitsbezogene) Kontrollüberzeugung, - gelernte Hilflosigkeit,

- Sense of Mastery,

- Fatalismus vs. Instrumentalismus und - Demoralisierung

(Steinkamp, 1993, S. 118).

Im Mittelpunkt dieser Konzepte steht die Fähigkeit einer Person, relevante Bedingun-gen und Tätigkeiten entsprechend eiBedingun-gener Ziele, Bedürfnisse und Interessen kontrol-lieren und beeinflussen zu können. Quantität und Qualität personaler Ressourcen, die bei Belastungen und Krisen als Coping-Ressourcen zur Verfügung stehen, hängen von den vergangenen und aktuellen sozialen Beziehungen ab – geprägt von Entwick-lungsimpulsen oder Deprivationserfahrungen (Steinkamp, 1993, S. 118). Steinkamp vermutet eine schichtspezifische Ausprägung personaler Ressourcen, aus der sich folgern lässt, dass nicht nur die Belastungen, sondern auch die Ressourcen für ihre Bewältigung sozial ungleich verteilt sind – Menschen unterer sozialer Schichten sind somit doppelt benachteiligt (Steinkamp, 1993, S. 118). Wie die genauen Wirkprozesse verlaufen, bleibt allerdings noch unklar. Grundsätzlich geht es aber um die Nach-zeichnung dieser Prozesse.

In Abweichung zu Steinkamp soll darauf hingewiesen werden, dass in der heutigen Zeit Erkrankungsverläufe in Folge des demografischen Wandels mehr und mehr alte Menschen betreffen. Das Krankheitsspektrum ist gegenwärtig geprägt von chronisch verlaufenden Erkrankungen insbesondere des Herz-Kreislauf-Systems, bösartigen Neubildungen, Erkrankungen des Skelett- und Muskelapparates und chronisch verlau-fender innerer Erkrankungen wie Diabetes u. a. Diese Erkrankungen können bislang mit den Mitteln der kurativen Medizin weder verhindert noch geheilt werden – eher scheint es so, dass auf Grund der schwierigen und sich an vielen Stellen widerspre-chenden Konstitution des Gesundheitssystems dieser Missstand sich noch verschär-fen wird. Der Initialpunkt dieser chronischen Erkrankungen liegt temporär meist lange Zeit vor ihrer Manifestation: in den Lebens-, Arbeits- und Umweltverhältnissen. Das Risiko zu erkranken, vorzeitig an dieser Erkrankung zu sterben, mögliche Belastungen zu erleben und diese auch adäquat bewältigen zu können – sowohl in Qualität wie auch in Quantität – sind nachweislich sozial ungleich verteilt. Neben dieser Zugehö-rigkeit und dem damit verbundenen Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko ergibt sich für die Geschlechtsvariable der stabilste Zusammenhang (Steinkamp, 1999, S. 102).

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Aus diesem gegebenen Anlass sieht Steinkamp die Forderung nach einer grundle-genden Umorientierung des Gesundheitssystems zu einem nach Scheff zu benen-nenden „Sozialsystem Modell“, „das die politischen, ökonomischen, ökologischen, kulturellen und sozialen Bedingungen von Krankheit und Gesundheit in den Mittel-punkt rückt“ (Steinkamp, 1999, S. 102). Dieses basiert auf der Überlegung, dass Ver-änderungen im Gesundheitszustand einer Bevölkerung eher dann zu erwarten sind, wenn bereits die bedingenden Faktoren ihrer Entstehung sozial modelliert werden und nicht erst auf der Korrekturebene nach ihrem Ausbruch ein völlig überteuertes und missgeleitetes Medizinsystem eingreifen muss (vgl. auch McKeown, 1982).

Zusammenhänge

Wie bereits im ersten Beitrag von 1993 leitet Steinkamp seine an der Entwicklung eines Sozialsystems orientierte Argumentation vor allem aus dem bisherigen Wissen über den „Zusammenhang zwischen chronischer Krankheit und Lebenserwartung auf der einen und sozialer Schichtzugehörigkeit auf der anderen Seite“ ab (Steinkamp, 1999, S. 102f.).

Parallel zu seinem ersten Aufsatz entwickelt Steinkamp anhand der Analyse gesell-schaftlicher Ungleichheitsstrukturen ein Sozialsystemmodell, das über eines Klarheit verschaffen soll: über den langen Weg zwischen Makrostruktur und individuellem Er-krankungsrisiko! Dies gelingt Steinkamp insbesondere durch die Implementation der verhaltensbezogenen Ebene und die Beachtung psychosozialer Belastungen und der antwortenden sozialen wie personalen Ressourcen. Bevor er jedoch zu dieser Verbin-dungsebene überleitet, greift er traditionelle Erklärungsansätze auf, die bisher in der Forschung diesen Dunkelbereich ausgefüllt haben.

Traditionelle Erklärungsansätze für die Wirkweise eines sozialen Gradienten 1. Gegenstand der sogenannten Artefakt-Hypothese ist, dass die abhängige Variab-le – somatische, psychische Erkrankung – wie auch die unabhängige VariabVariab-le – Indi-katoren sozialer Ungleichheit – nur ungenügend im Forschungsprozess reflektiert werden. Der Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit ist ein Artefakt und basiert auf Fehler im Forschungsprozess. Folgende Konstellationen sind dabei denkbar:

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Probleme im Nenner (Schichtindikatoren): In England und Wales wird der Beruf des Verstorbenen auf dem Totenschein von den Angehörigen angegeben. Hier ist es möglich, dass diese den Status des Verstorbenen nachträglich aufwerten.

Probleme im Zähler: Es gibt eine immer wieder berichtete Differenz zwischen Diag-nose im Totenschein und der tatsächlichen Todesursache (Steinkamp, 1999, S. 115).

Als das wesentlichste Zählerproblem muss aber die Differenz zwischen wahrer und behandelter Prävalenz einer Erkrankung bezeichnet werden (true cases – treated cases). Ein diese Problemkette fortführendes Argument ist die differierende Verwen-dung von Klassifikationssystemen bei psychischen Erkrankungen. Dies betrifft zum einen die Verwendung der ICD Klassifikation und zum anderen das von der American Psychiatric Association erstellte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-III). Steinkamp kommt unter Bezugnahme der sehr breiten Reanalyse Dohren-wends zu dem Schluss, dass die dort gefundenen sehr breit variierenden Fallschät-zungen sicherlich mit auf der unterschiedlichen Verwendung von Klassifikationssys-temen basieren und somit die Artefakt-Hypothese unterstützen (Dohrenwend et al., 1980; Steinkamp, 1999, S. 117).

Beide Bestandteile des Quotienten finden sich bisher in der Literatur nicht zusam-mengeführt, so dass auch die empirische Forschung hierzu als defizitär bezeichnet werden muss.

2. Drifthypothese/natürliche Selektion: „Die Beziehung zwischen niedrigem