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Temperamente wirklich zu kennen

Im Dokument 09 | 2017 September | 4,90 € (Seite 65-68)

Seit Hippokrates bildete die Temperamentenlehre die Grundlage der Medizin und Menschenerkenntnis, bis sie im 19. Jahrhundert mit dem aufkommenden Materialis-mus aus der Wissenschaft fast vollständig verschwand.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts – 1993 – erschien das Buch »Die Wiederentdeckung des Temperaments« (Marcel R. Zentner) und die Wissenschaft beginnt, sich seither zu-nehmend wieder für die Temperamente zu interessieren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Rudolf Steiner die Tem-peramentenlehre gewissermaßen auf neue Beine gestellt, indem er sie vor allem durch die Wesensgliederlehre und die Entwicklung der Individualität erweitert hat. Mit der Grün-dung der Waldorfschule und etwas später mit dem medizi-nischen Wirken gab er viele zum Teil ganz ins Praktische gehende, überall im Gesamtwerk auftauchende geisteswis-senschaftliche Hinweise zu den Temperamenten.

Es ist ein bedeutendes Verdienst der Waldorfpädagogik, dass sie in einer Zeit, in der die Welt die Temperamentenlehre fast vergessen hat, eine Pädagogik pflegte, die auf ihrer Er-kenntnis aufgebaut ist. Zu deren Grundlagen gehört die un-missverständliche Forderung von Rudolf Steiner an jeden Lehrer und Erzieher: »Es ist die wichtigste Aufgabe des Er-ziehers und Lehrers, diese vier Grundtypen, die man die Temperamente nennt, wirklich zu kennen« (GA 295). –

»Wichtigste Aufgabe«, »wirkliches Kennen« – wie steht es darum heute in der Lehrerausbildung und in den Schulen?

Die Zukunftsseite der Temperamente wird oft vergessen

Die zitierte Aussage weist darauf hin, dass es um etwas Es-sentielles der Waldorfpädagogik geht. Hier möchte ich mir eine persönliche Bemerkung aus meiner Erfahrung als Schularzt erlauben: Viele Pädagogen bemühen sich, diesen

Es ist die wichtigste Aufgabe des Erziehers und Lehrers, die

Temperamente wirklich zu kennen.

Anforderungen gerecht zu werden, und doch ist immer sel-tener zu erleben, dass die Temperamentserkenntnis wirklich fruchtet, das heißt, in der pädagogischen Praxis lebendig ge-handhabt wird. In der Ausgabe dieser Zeitschrift vom Juli/August 2011 konnte man lesen: »Die sogenannte Tem-peramentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorf-lehrerseminaren und -hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung« (M. Maurer).

In meinen Gesprächskreisen und Seminaren über Tempe-ramente hatte ich immer wieder folgendes Erlebnis: Ich schilderte (absichtlich) die vier Temperamente mehr äußer-lich mit Betonung der negativen Seiten, also Melancholie:

Rückzug, Trauer; Phlegma: Ruhe, Trägheit; Sanguinik: Quir-ligkeit, Oberflächlichkeit; Cholerik: Schaffensdrang, Zorn.

Dann meine Frage: Fällt Ihnen an der Schilderung etwas auf?

Es war niemanden aufgefallen, dass die vier positiven Sei-ten der Temperamente vollständig fehlSei-ten! Da waren Leh-rer, Erzieher und Eltern dabei.

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Ich habe den Verdacht, dass die Temperamente mittlerweile viel zu einseitig gesehen werden, trotz der wunderbaren um-fassenden neueren Beschreibungen von H. Eller, P. Lipps, G. Scheer-Krüger und vielen anderen. Was fehlt, ist das Verständnis für das Temperament als Werdendes, als Zu-kunftskraft in uns. Da reicht es nicht, die geisteswissen-schaftlichen Angaben Steiners zu tradieren, zum Beispiel:

Das individuelle Ich-Wesen (gelb) verbindet sich mit dem Erbstrom (blau) und bildet das Temperament (grün).

Oder: Die Temperamente entsprechen einer Dominanz von Erde/Physischem Leib (melan cholisch), Wasser/Ätherleib (phlegmatisch), Luft/Astralleib (sanguinisch), Feuer/Ich (cholerisch).

In solcher Weise tradierte Erkenntnisse lassen das Tempe-rament als etwas Gewordenes, aus der Vergangenheit Stam-mendes erscheinen. So ist zu verstehen, dass sie ihre Bedeutung in der Gegenwart verlieren, denn es fehlt die Zu-kunftsseite, die für das Erleben der Wirklichkeit unbedingt erforderlich ist.

Jedes Temperament fordert bei Pädagogen andere Kräfte heraus

Steiner weist auf den werdenden Menschen. Dieser Zu-kunftsaspekt zeigt sich in den sogenannten vier Alterstem-peramenten: dem sanguinischen der Kindheit, dem cholerischen der Jugend, dem melancholischen der Lebens-reifezeit und dem phlegmatischen Temperament des soge-nannten Greisenalters. Hier verbergen sich die starken positiven und zukunftsorientierten Kräfte der Temperamente.

Diese zeigen sich dadurch, dass das Leben sich entwickelnd fortschreitet von der Geburt und Kindheit bis zum Greisen-alter und Tod. Unabhängig vom LebensGreisen-alter tragen wir alle vier Zustände immer in uns. Auch das Schulkind trägt etwas in sich vom jugendlichen, reifen und alten Menschen.

In der pädagogischen Praxis brauche ich vor allem den Blick auf diese Werdekräfte:

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erziehungskunst September|2017

sanguinisches Kind: Aufmerksamkeit, Unbefangenheit,

Hingabe;

cholerisches Kind: Initiativkraft, Zielstrebigkeit, Ach-tungswille;

melancholisches Kind: Ernst, Andacht, Mitgefühl;

phlegmatisches Kind: Ruhe, Sachlichkeit, Umkreisbe-wusstsein.

Die pädagogischen Maßnahmen, die Steiner empfiehlt, stär-ken vor allem diese zukunftsgerichteten Kräfte. Pädagogen gewinnen an innerer Zukunfts- und Lebenskraft, wenn sie sich darauf einlassen. Jedes kindliche Temperament fordert bei den Erziehern und Pädagogen andere Kräfte heraus:

das sanguinische: Liebesfähigkeit, geduldiges Mittragen;

das cholerische: Selbstbeherrschung, Standvermögen;

das melancholische: Helferwille, Mitgefühl;

das phlegmatische: Geistesgegenwart, innere Aufmerk-samkeitskraft.

Das macht die Erziehung beweglich und fördert beim Leh-rer Eigenschaften, die durch direktes Eingehen, Interaktion und Selbsterkenntnis in dreifacher Weise seine Herzens-kräfte aktivieren.

Auch das Bilden von Sitzgruppen mit ähnlichem Tempera-ment stärkt die Lehrerpersönlichkeit in ihrem Zentrum. Als

»herzliche Autorität« kann sie im Sozialen der Klasse durch Handhaben der Temperamente ausgleichend wirken.

Handhaben heißt, das Temperament als Lebenskraft und Zukunftsimpulsator zu erfassen, leiten und einsetzen zu können.

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Zum Autor:Wolfgang Leonhardt, ehemaliger Schularzt in Pforzheim.

Zum Thema hat der Autor ein Buch verfasst: »Temperamente und Lebenswirklichkeit. Zur Erneuerung der Temperamentenlehre in Pädagogik und Selbsterkenntnis«, Berlin 2016.

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NEUE BÜCHER

Sozialrevolution!

Im Angesicht der immer spürbarer werdenden digitalen Revolution ruft das Buch zur sozialen Revolution auf. Die Vorteile der digitalen Entwicklung kehren sich im sozialen Miteinander weltweit ins Katastrophale: Armut, Vereinsamung, Arbeitslosigkeit und Sinnlosigkeit wird bei einem immer größer werdenden Anteil der Menschheit zum Alltag.

Das Buch behandelt die sozialen und wirtschaftlichen Fragen der Gegenwart und macht Vorschläge für die Gestaltung der Zukunft: Die Arbeitswelt verändert sich, sie wird inter-nationaler und flexibler, doch die Sozialsysteme beruhen auf Prinzipien aus dem 19. Jahr-hundert. Prominente Autoren stellen Fragen, machen sich auf die Suche nach Antworten und beschreiben konkrete Lösungsvorschläge einer Zukunft für alle Menschen.

Mit der Veränderung unsere Arbeitsbedingungen hat der mit dem Beginn der Industriali-sierung entstandene Sozialstaat Bismarcks ausgedient, das System ist zu schwerfällig und passt nicht mehr zu den heutigen, räumlich und zeitlich flexiblen Arbeits- und Lebensbe-dingungen. Die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich ist zwar offensichtlich, wird jedoch nicht ausreichend durch immer mehr Einzelsozialleistungen überbrückt und die Stigmatisierung der Menschen wird durch das bestehende System nur noch verstärkt.

Neben dem immer wieder präferierten Grundeinkommen werden weitere Ideen darge-stellt, wie die Gesellschaft sozialer gestaltet werden kann. Zum Beispiel das Finanzsystem 4.0. Oder die Peer-to-Peer-Versicherungen, bei denen sich in kleinen überschaubaren, meist regionalen Zusammenschlüssen Menschen für definierte Leistungen gegenseitig versi-chern. Auch ein mobiles Sozialnetz für Kleinstunternehmer wird erläutert und schon in der Praxis erprobt. Alle Beiträge sind hoch aktuell und wissenschaftlich fundiert. Viele Links zu unbekannten Themen machen die vertiefte Recherche leicht. Das Für und Wider wird angesprochen und diskutiert. Und Theorie und Praxis werden je nach Beitrag mit unter-schiedlichen Schwerpunkten beleuchtet.

Jeder der Autoren geht in seinem Beitrag individuell und aus seinem Fachgebiet heraus auf die Frage nach dem Sozialstaat der Zukunft ein. Das Buch ist klar und übersichtlich geglie-dert, eine Einleitung nimmt den Leser in das Thema und die Fragen der Zukunft mit.

Obwohl, oder gerade weil so unterschiedliche Autoren ein Buch gemeinsam herausgebracht haben und sie ein Thema vereint, ist es besonders interessant und hervorragend zu lesen.

Ich persönlich kann es nur allen empfehlen, denen unsere Zukunft am Herzen liegt.

Tatjana Funk

Börries Hornemann & Armin Steuernagel (Hrsg.): Sozial-revolution, geb., 209 S., EUR 19,95, Campus Verlag, Frankfurt 2017

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