• Keine Ergebnisse gefunden

Die Strategie der sowjetischen Außenpolitik in Europa 1950-1952 Für das Verständnis der sowjetischen Außenpolitik hatte es im Bereich der

A n a l y s e der Strukturen und Entwicklungstendenzen des internationalen Systems meist genügt, die D e u t u n g und das Selbstverständnis der sowjetischen Führung in diesen Fragen wiederzugeben. Für die Darstellung der Konzeption

der sowjetischen Außenpolitik und des tatsächlichen Verhaltens der U d S S R in E u r o p a 1 9 5 0 - 1 9 5 2 muß die sowjetische Sicht in jedem F a l l e durch eine kritische Interpretation des außenstehenden Beobachters ergänzt werden.

D e n n es ist z. B. möglich, daß Ideologie und P r o p a g a n d a sich militanter und aggressiver geben als die tatsächliche, außenpolitische P r a x i s .

a) Definition und Funktion der Begriffe Strategie u n d T a k t i k in der sowjetischen Außenpolitik

D i e Bedeutung der Begriffe „ S t r a t e g i e " und „ T a k t i k " , wie sie hier gebraucht werden sollen, deckt sich nicht mit der der stalinistischen T h e o r i e1 5. D o r t werden sie unbedenklich v o m militärischen auf den politischen Bereich über-tragen und beziehen sich v o r allem auf den Bereich des revolutionären K a m p f e s im Innern eines L a n d e s . A l s handlungsbezogenes Begriffsinstrumen-tarium für den Bereich der zwischenstaatlich-diplomatischen und sozialen Beziehungen sind sie unzureichend. Für die Zwecke dieser Untersuchung soll der Begriff Strategie im Sinne einer vorwiegend operationalen Definition mit B e z u g auf die sowjetische E u r o p a - u n d Deutschlandpolitik folgende Bedeu-tungselemente enthalten:

l . D i e räumliche, zeitliche u n d materielle Präzisierung der ideologischprogrammatisch f i x i e r t e n , langfristigen Zielsetzungen ( z . B . S t u r z des K a p i -talismus) als mittelfristige (ca. 1-5 J a h r e ; z. B. Befreiung Westeuropas und J a p a n s aus der Abhängigkeit v o n den U S A ) und als kurzfristige (bis ca.

z w ö l f M o n a t e ; z. B. Verhinderung der Ratifizierung des E V G - V e r t r a g e s in Frankreich und Westdeutschland).

2. D i e Einschätzung der machtpolitischen und sozialen D y n a m i k der Struk-turen, Kräfteverhältnisse u n d Entwicklungstendenzen des internationalen Systems der letzten b z w . der nächsten fünf bis sieben J a h r e , besonders unter dem Gesichtspunkt der Realisierbarkeit der Ziele der eigenen Außen-politik in E u r o p a und besonders in Deutschland.

3. D i e Maximierung, Einschätzung und Verteilung der verfügbaren Mittel und Reserven sowie der Bündnispartner ( z . B. eigene Aufrüstung, A u s bildung der K a d e r , Konsolidierung und Integration des Ostblocks, S t ä r -kung der K P s und der Friedensbewegung).

4. Allgemeine H a n d l u n g s - u n d Verhaltensgrundsätze mit relativ ausgedehn-tem zeitlichem, räumlichem u n d sachlichem Geltungsbereich (hier im allgemeinen beschränkt auf Deutschland sowie Mittel und Westeuropa), b e -sonders für den zweckrational optimierten Einsatz der Mittel u n d die in einer bestimmten Periode richtige Behandlung des Gegners (z. B. A n w e n -d u n g einer eher offensiv o-der einer eher -defensiv konzipierten S t r a t e g i e ; -die Prinzipien der friedlichen K o e x i s t e n z , des kooperativen Wettbewerbs, der E n t s p a n n u n g ; d a s Ausnützen der Widersprüche im kapitalistischen S t a a t e n

-Sowjetische Politik in Europa 1950-1952 23 system, G r u n d s ä t z e der Vorschläge zur A b r ü s t u n g ; „nationale Befreiung"

und Neutralisierung v o n S t a a t e n ; das Ausnutzen des N a t i o n a l i s m u s ; der Grundsatz der freundschaftlichen Beziehungen der sozialistischen S t a a t e n ; Wahl der Bündnispartner).

Entsprechend und ergänzend soll der Begriff T a k t i k folgende Bedeutungs-elemente enthalten:

1 Festlegung von kurzfristigen Zielen (bis ca. 12 M o n a t e ; z . B . Einberufung einer Viermächte-Konferenz über die deutsche F r a g e ) für einen beschränk-ten, geographischen und sachlichen Geltungsbereich (z. B. Bildung einer Kommission zur Durchführung freier Wahlen in g a n z Deutschland).

2. Bestimmung der Kräfteverhältnisse und der Chancen für die Durchsetzung der eigenen Politik in einer bestimmten Situation ( z . B. Chancen für die Verzögerung der Westintegration der B R D durch d a s Angebot v o m 10. M ä r z 1952 im Frühjahr 1 9 5 2 ) .

3. Kurzfristige Mobilisierung, Verstärkung und Verteilung der verfügbaren Mittel (z. B. K a m p a g n e für die Aktionseinheit der Arbeiter in West-deutschland). Bestimmung der konkreten Formen des K a m p f e s und der Organisation, der Intensität und der Methoden der A g i t a t i o n u n d P r o -p a g a n d a .

4. Praktische Konkretisierung und Anwendung der oben unter 4. genannten Grundsätze einer strategischen Periode (z. B. die Formulierung des M ä r z -Angebotes zur Neutralisierung u n d Wiedervereinigung Deutschlands; die Vorschläge zur Abrüstung von 1 9 5 2 ) ; einzelne H a n d l u n g e n und M a ß -nahmen mit beschränktem Geltungsbereich u n d beschränkter Zielsetzung ( z . B . die Reise der V o l k s k a m m e r - D e l e g a t i o n nach Westdeutschland; die Absperrmaßnahmen um Berlin im J u n i 1 9 5 2 ) ; der Versuch, begrenzten Vorteil aus einer Situation zu ziehen (z. B. die internationale Wirtschafts-konferenz in M o s k a u im A p r i l 1 9 5 2 ) ; z . T . d a s Verhalten in Prozedur-fragen.

Die T a k t i k umfaßt also alle Aktionen innerhalb einer vorher festgelegten Strategie; sie ist dieser untergeordnet, noch flexibler und situationsgebundener sowie begrenzter in ihren Wirkungen. In manchen Fällen ist es nicht leicht festzustellen, ob es sich um einen taktischen oder einen strategischen K u r s -wechsel der sowjetischen Außenpolitik handelt. D i e Beantwortung einer solchen F r a g e m a g bisweilen willkürlich und ohne heuristischen Wert sein.

Dennoch ist es häufig wichtig zu wissen, ob und inwiefern ein grundsätzlicher oder nur ein oberflächlicher, kurzfristiger Kurswechsel stattgefunden hat.

Überdies weist solche A m b i v a l e n z d a r a u f hin, daß auch die sowjetische Außen-politik keineswegs immer auf einer vollkommen durchkalkulierten Strategie

mn hoher Erfolgsgarantie beruht, j a beruhen kann. Auch die sowjetische unrung kann in ihrer Außenpolitik Experimente, Tastversuche,

Inkonse-quenzen, plötzliche Kurswechsel, Mißerfolge und bisweilen verlustreiche Lernprozesse, Instabilität und U n k l a r h e i t nicht vermeiden. Flexibilität und H ä r t e , Prognose und Ergebnis, Ideologie und Praxis stehen keineswegs immer in dem von der Sowjetführung angestrebten Verhältnis. G e r a d e in den Zeiten sich wandelnder Strategie ( z . B . v o n 1 9 4 9 - 1 9 5 2 ) und vielfältiger taktischer M a n ö v e r (z. B. in der deutschen F r a g e ) kann nicht ausgeschlossen werden, daß trotz eines gegenteiligen äußeren Eindrucks die Linie, die Ziele und die Methoden des Vorgehens auch in wichtigen F r a g e n (wie z. B. der L ö s u n g der deutschen F r a g e ) nur sehr allgemein festgelegt waren und ein teils bewußt eingeplanter, teils nolens volens zugestandener S p i e l r a u m für Verhandlungen w i e Aktionen bestand. Doch w a r es ein Kennzeichen der sowjetischen Außen-politik der spätstalinistischen Ä r a , daß Risiken und Chancen z. B. einer diplomatischen Initiative genau bedacht zu sein schienen, daß Unbestimmtheit keineswegs p r i m ä r Unsicherheit, sondern kühl berechnete T a k t i k w a r .

Diese Begriffserklärung und die folgenden allgemeinen Beobachtungen zur sowjetischen Außenpolitik sollen zunächst d a z u dienen, die allgemeine S t r a t e -gie der sowjetischen Politik in E u r o p a zu skizzieren als analytischen u n d tat-sächlichen Bezugsrahmen der sowjetischen Deutschlandpolitik.

D e r folgende Abschnitt soll zugleich die G r u n d l a g e für die These schaffen, daß die sowjetische Politik in der zentralen F r a g e einer Regelung des Deutsch-landproblems nach denselben oder mindestens sehr ähnlichen G r u n d s ä t z e n handelte wie in ihrer allgemeinen E u r o p a p o l i t i k der J a h r e 1 9 5 0 - 1 9 5 2 . Ohne diesen B e z u g a u f die Generallinie u n d die Strategie der sowjetischen Außen-politik in g a n z E u r o p a ist eine Interpretation der Deutschland-Initiative v o n 1952 k a u m möglich.

b) H a u p t z i e l e und allgemeine S t r a t e g i e der sowjetischen Politik in E u r o p a 1951/52

F ü r die Deutschlandpolitik der U d S S R im J a h r e 1952 waren v o r allem jene allgemeinen Tendenzen der sowjetischen Außenpolitik bestimmend, die sich - wenn auch schon vorher in vielfacher Hinsicht vorhanden - seit dem Frühjahr 1950 besonders deutlich herausbildeten.

D i e partielle Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik seit 1949/50 bestand darin, daß die U d S S R unter den gewandelten Bedingungen des internationalen Systems nunmehr v o r allem mit einer JDefensivstrategie versuchte, ihre langfristig unverändert fortbestehenden, revolutionär e x p a n -siven Ziele in E u r o p a durchzusetzen.

a a ) Ziele der sowjetischen „ F r i e d e n s p o l i t i k " und das P r i n z i p der friedlichen K o e x i s t e n z

D i e neue Defensivstrategie wollte zunächst unbedingt jeden bewaffneten K o n -flikt zwischen O s t u n d West vermeiden, w a s nach Stalins Auffassung durchaus

Sowjetische Politik in Europa 1950-1952 25 zu erreichen w a r . D i e nicht befristete friedliche K o e x i s t e n z der beiden Blöcke und die Entschärfung des Ost-West-Konflikts in E u r o p a sollten der Sowjet-union die Möglichkeit geben, in einer Periode begrenzter Entspannung die eigenen K r ä f t e zu konsolidieren und zu verstärken. V o r allem brauchte die U d S S R außenpolitische R u h e und Entlastung für die Verbesserung ihrer wirt-schaftlichen L a g e u n d die Durchführung der umfangreichen H i l f s p r o g r a m m e . Die verstärkte Aufrüstung der U d S S R 1951/52 und die Betonung der Sicher-heitsprobleme auf dem X I X . P a r t e i t a g deuteten d a r a u f hin, daß die Furcht vor dem „aggressiven Imperialismus" nicht nur propagandistisch gemeint war.

Zugleich ging die U d S S R jedoch daran, eine Position überlegener S t ä r k e gegenüber dem Westen aufzubauen, d. h. eine neue Offensivphase v o r z u -bereiten. D a s beweisen eindeutig die 1 9 5 1 / 5 2 geplanten und begonnenen, 1 9 5 3 - 1 9 5 8 erfolgreich durchgeführten, großen Rüstungsprojekte. Diese Politik nach dem G r u n d s a t z „il faut reculer pour mieux sauter" schloß also keines-wegs eine Politik der indirekten, diplomatischen Offensiven und eine mili-tante, geschickt ansetzende P r o p a g a n d a - A k t i v i t ä t gegenüber dem Westen aus.

S o sagt Shulman v o n dieser Politik treffend, d a ß „ . . . die rechte Politik der fünfziger J a h r e nicht so sehr einen Rückzug darstellte, sondern viel eher ein Manöver, d a s eine kurzfristige Defensive mit einer langfristig angelegten Vorwärtsbewegung v e r b a n d " 1 6. Sie suchte die Chancen für weitere F o r t

-schritte zu verbessern, strebte diese aber nicht selbst direkt an. H i e r z u g e h ö r t e1

der Versuch, die Massen in Westeuropa gegen die westlichen Militärbündnisse und die Aufrüstung der B R D zu mobilisieren u n d dann im Wege eines schein-baren Interessenausgleichs machtpolitische V a k u a in E u r o p a zu schaffen, in die die U d S S R dann früher oder später möglichst risikolos eindringen könnte.

Im ganzen zeigte sich die sowjetische Führung in unübersehbar p r o p a gandistischer Absicht außerordentlich optimistisch und ging v o n der A n -nahme aus, der K a p i t a l i s m u s werde auf G r u n d seiner inneren K r i s e bald zusammenbrechen und könne dem ständig erstarkenden L a g e r des Sozialismus auf die D a u e r nicht widerstehen. D i e offensichtlichen M ä n g e l der sowjetischen Perzeption (Ökonomismus, Theorie der verdeckten inneren K r i s e und der ständigen Erhöhung der inneren Widersprüche des kapitalistischen Staaten-systems) verhinderten jedoch nicht, daß die Sowjetunion die Kräfteverhält-nisse in E u r o p a wohl doch realistisch einschätzte. D e r Streit um E. V a r g a s Thesen über die Zukunft des K a p i t a l i s m u s zeigte ebenso wie die vorherr-schende Defensivstrategie, daß es Differenzen der R a t i o n a l i t ä t innerhalb der Theorie wie v o r allem zwischen Theorie und P r a x i s der sowjetischen Außen-politik g a b .

D i e indirekte u n d langfristige Offensivstrategie w u r d e deutlich überlagert von den Elementen der k u r z - und mittelfristig konzipierten Defensivstrategie der J a h r e 1 9 5 0 - 1 9 5 2 . Ihre drei ersten Ziele w a r e n im sowjetischen Selbst-verständnis:

1 . „ . d e n K a m p f gegen die Vorbereitung und Entfesselung eines neuen Krieges weiterzuführen; die mächtige demokratische Front gegen den K r i e g zur Festigung des Friedens zusammenzuschließen; die B a n d e der Freund-schaft u n d der S o l i d a r i t ä t mit den Friedenskämpfern in der ganzen Welt z u festigen . . . " 1 7

2. D i e Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit und der Wirtschafts-beziehungen.

3. D i e Pflege der freundschaftlichen Beziehungen zu den sozialistischen L . L ä n d e r n .

Eine umfangreiche P r o p a g a n d a t ä t i g k e i t der U d S S R und aller kommunisti-scher Organisationen versuchte - verstärkt seit 1949 -, die V ö l k e r in O s t und West v o m Friedenswillen des Ostblocks und den kriegerischen Absichten des ständig aufrüstenden Westblocks zu überzeugen. D i e Sowjetunion erschien als ein S t a a t , der allein zur Selbstverteidigung, widerwillig und bloß in R e a k -tion a u f die westliche Bedrohung seine Streitkräfte verstärken müsse. D e r Westblock unter der Führung der U S A erschien als der Feind des friedlichen Wiederaufbaus und der Zusammenarbeit, der die kleineren N a t i o n e n für die Weltkriegs- und „Befreiungs"pläne der U S A benutze. Solche P r o p a g a n d a sollte

die langfristigen, expansionistischen u n d revolutionären Ziele der U d S S R verdecken, die sowjetische M i t v e r a n t w o r t u n g für d a s Wettrüsten verleugnen, die Sowjetunion v o n äußeren Pressionen verschonen und ihr zugleich erhöhte politische A t t r a k t i v i t ä t sichern. V o r allem aber sollte sie die weltweite U n -zufriedenheit über die F o r t d a u e r des K a l t e n Krieges auf die westlichen N a t i o n e n lenken. D i e U d S S R verteidigte sich, indem sie verbal angriff, ihre eigenen Ziele verschleierte und möglichst viele K r ä f t e im neutralen und gegne-rischen L a g e r gegen die Regierungen u n d politischen Eliten der Staaten des Westblocks mobilisierte. D i e F o r d e r u n g nach Erhaltung des Friedens hatte nicht nur allgemein humanitären C h a r a k t e r , sondern stellte in sowjetischer Sicht eine uneigennützige Aufforderung an die Welt dar, den angeblichen Kriegsvorbereitungen des Westens Einhalt zu gebieten. D i e U d S S R als G a r a n t für den Frieden - die U S A als G e f a h r für den Frieden: d a s w a r der eine G r u n d s a t z der sowjetischen „ F r i e d e n s p o l i t i k " .

D e r andere w a r das Prinzip der friedlichen Koexistenz der beiden anta-gonistischen Gesellschaftssysteme im politischen, wirtschaftlichen und militä-rischen, jedoch nicht im ideologischen Bereich. Seit N o v e m b e r 1949 1 S, ver-stärkt seit dem Frühjahr 1 9 5 01 9, w u r d e die Bereitschaft der U d S S R zur V e r -ständigung und zur Zusammenarbeit betont. Wichtig und kennzeichnend w a r auch der Abdruck eines bisher unveröffentlichten Interviews Lenins v o n 1920 in der P r a w d a v o m 2 2 . April 195 0 2 0. D a r i n betonte er das P r i m a t des fried-lichen, wirtschaftlichen Aufbaus für die U d S S R , besonders der Energiebasis, die Bereitschaft zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit dem Westen, die

Sowjetische Politik in Europa 1950-1952 27 Möglichkeit größerer Zugeständnisse in diesem Bereich und die Friedensliebe der U d S S R . „ A l s Ü b e r g a n g v o m K r i e g zum Frieden" betrachte er den „ S t a t u s q u o " als „befriedigend" 2 1. G a n z ähnlich äußerte sich k n a p p ein J a h r später J. Stalin, der die Bereitschaft zur Koexistenz ebenfalls p r i m ä r mit den Erfor-dernissen eines umfassenden Wirtschaftsaufbaus b e g r ü n d e t e2 2. A l s praktische, sehr bedeutsame M a ß n a h m e muß das sowjetische A n g e b o t für Waffenstill-standsverhandlungen im K o r e a - K r i e g v o m 2 3 . J u n i 1951 gewertet w e r d e n2 3. Es wurde ausdrücklich mit der sowjetischen Bereitschaft zur Koexistenz be-gründet. Allerdings w u r d e gerade hier auch die F r a g w ü r d i g k e i t und die Ambivalenz dieser Formel in der sowjetischen Außenpolitik sichtbar. Als letzte wichtige Äußerung ist das Interview Stalins v o m 2. A p r i l 1952 hervor-zuheben, das nicht nur durch seine P r ä g n a n z und Authentizität, sondern auch durch seine zeitliche N ä h e zur sowjetischen Deutschlandinitiative für unsere Untersuchung Bedeutung h a t2 4. Es soll daher ungekürzt zitiert werden:

Frage: Ist ein dritter Weltkrieg gegenwärtig näher als vor zwei oder drei Jahren?

Antwort: Nein, das ist nicht der Fall.

Frage: Würde eine Zusammenkunft der Regierungschefs der Großmächte von Nutzen sein?

Antwort: Sie würde möglicherweise von Nutzen sein.

Frage: Halten Sie den gegenwärtigen Moment für eine Vereinigung Deutschlands geeignet?

Antwort: Jawohl.

Frage: Auf welcher Grundlage ist ein Nebeneinanderbestehen des Kapitalismus und des Kommunismus möglich?

Antwort: Ein friedliches Nebeneinanderbestehen des Kapitalismus und des Kommu-nismus ist durchaus möglich, wenn auf beiden Seiten der Wunsch nach Zusammenarbeit und die Bereitschaft, die übernommenen Verpflichtungen zu erfüllen vorliegt. Bedingung wäre Einhaltung des Prinzips der Gleichheit und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten.

T r o t z der fortgesetzten, scharfen Angriffe und K a m p a g n e n gegen den „ U S -Imperialismus", gegen die „Kriegstreiberei" und die bürgerlichen Regierungen, trotz bloß propagandistisch gemeinter Beteuerungen muß die Bereitschaft der U d S S R zur friedlichen K o e x i s t e n z und zur Zusammenarbeit dennoch un-bedingt ernst genommen werden, weil zu viele objektive Bedingungen eine solche Politik notwendig machten.

bb) D i e sowjetischen Vorschläge zur Abrüstung u n d für einen Fünf-Mächte-Friedenspakt

So schlug die U d S S R einen Fünf-Mächte-Friedenspakt, eine A r t erneuerter K e l l o g g - P a k t zwischen den vier Siegermächten und der Volksrepublik China vor, der letztlich nur der Stabilisierung und Anerkennung des Status quo in E u r o p a und Asien um 1950 dienen sollte.

Am 19. M ä r z 1952 übermittelte die U d S S R der Abrüstungskommission der U N O einen A r b e i t s p l a n2 5, der u. a. folgende Abrüstungsmaßnahmen v o r s a h :

l . E i n e K o n v e n t i o n über d a s V e r b o t der Atomwaffe, der Einstellung ihrer P r o d u k t i o n und der Verwendung vorhandener Bomben allein zu fried-lichen Zwecken.

2. Verminderung der Rüstungen und Streitkräfte aller Gattungen der oben genannten fünf Mächte um ein Drittel innerhalb eines J a h r e s .

3. V o r l a g e vollständiger, offizieller Unterlagen über den S t a n d der Rüstungen und Streitkräfte, einschließlich der Atomwaffen und der Militärstützpunkte im A u s l a n d .

4. V e r b o t des bakteriologischen K r i e g e s und Bestrafung Zuwiderhandelnder.

5. F ü r die Durchführung aller Maßnahmen sollte ein „internationales K o n -t r o l l o r g a n " beim Sicherhei-tsra-t der U N O geschaffen werden.

In Verbindung mit der Forderung auf A b z u g der Besatzungsstreitkräfte aus Deutschland, der Auflösung der westlichen Militärallianzen u n d den N e u -tralisierungsvorschlägen für eine Reihe v o n Staaten am R a n d e des sowjetischen Einflußbereichs wurde das K a l k ü l dieser Vorschläge deutlich: die U d S S R betonte ihren Friedenswillen und ihre Verständigungsbereitschaft, verband d a -mit jedoch die Absicht, die Westmächte durch die Festsetzung und K o n t r o l l e der Art, der H ö h e und der geographisch-strategischen D i s l o k a t i o n der ge-statteten Streitkräfte sowie der Reihenfolge der Abrüstungsmaßnahmen so zu schwächen, daß die U d S S R erhebliche, sicherheitspolitische Vorteile und Expansionsmöglichkeiten erhielte.

cc) D i e Funktion einer begrenzten Zusammenarbeit in D i p l o m a t i e und Außenhandel

Sollten die sowjetischen Vorschläge den Frieden durch einen generellen Nichtangriffspakt und Abrüstungsmaßnahmen militärischsicherheitspolitisch k o operativ sichern, so mußte die U d S S R versuchen, auch die politischen B e -ziehungen zwischen O s t und West nach den Grundsätzen der Anerkennung des S t a t u s quo, der friedlichen K o e x i s t e n z und der begrenzten K o o p e r a t i o n zu gestalten. In E u r o p a , wo durch direkte Aktionen keine Positionsgewinne mehr möglich waren, mußte die U d S S R d a r a u f bedacht sein, wenigstens eine Verschlechterung ihrer Position zu verhindern. D i e vergeblichen Bemühungen, die G r ü n d u n g der B R D und der N A T O z u verhindern, das P a t t i n K o r e a und die wachsende S t ä r k e der westlichen A l l i a n z haben sehr wahrscheinlich entscheidend d a z u beigetragen, daß die Sowjetunion außenpolitische Pres-sionen immer mehr vermied. D a s ermöglichte zweierlei: einmal erhöhte sich langsam die Verhandlungs- u n d Kooperationsbereitschaft im Westen; z u m anderen schien es einigen westlichen Regierungen nicht mehr so notwendig, nach außen hin S t ä r k e und Geschlossenheit zu demonstrieren, d. h. die inneren Gegensätze der westlichen A l l i a n z konnten wieder deutlicher hervortreten.

Diese Strategie verschaffte der sowjetischen Politik in E u r o p a neue Chancen.

D i e D i p l o m a t i e wurde v o n der Sowjetunion weiter aufgewertet, um auf

Sowjetische Politik in Europa 1950-1952 29 diesem Wege durch Gespräche, Erklärungen, Vorschläge, taktische Manöver, durch Verhandlungen u n d Konferenzen, durch vorteilhafte Arrangements und A b k o m m e n indirekt Fortschritte zu erzielen. E i n Beispiel für solche diplomatischen Versuche w a r die (gescheiterte) K o n f e r e n z der Stellvertreter der Außenminister in Paris v o m 5. M ä r z bis 2 1 . J u n i 1 9 5 1 .

D i e neue Flexibilität der sowjetischen Außenpolitik zeigte sich auch deutlich bei der Veranstaltung der Internationalen Wirtschaftskonferenz von M o s k a u v o m 3. bis 12. A p r i l 1952. Als ihr Zweck w u r d e zunächst g a n z allgemein und ohne politisch eindeutige Ausrichtung die Verbesserung der „Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen u n d sozialen Systemen" an-g e an-g e b e n2 6. D i e U d S S R betonte gegenüber den zahlreich erschienenen K a u f -leuten aus dem Westen ihr lebhaftes Interesse an der Ausweitung des H a n d e l s , und z w a r nicht nur auf dem Gebiet der Investitionsgüter, sondern besonders nachdrücklich auch auf dem Konsumgütersektor. Ein offizieller, sowjetischer Vertreter sprach v o n der Möglichkeit, daß die U d S S R 1 9 5 3 1 9 5 5 K o n s u m -güter für ca. 2 M r d . M a r k in Deutschland, für 2 , 5 - 4 M r d . U S - D o l l a r im übrigen A u s l a n d k a u f e2 7. Nicht nur der eigene N u t z e n u n d die Absicht, das allgemeine politische K l i m a zu verbessern, standen hinter diesen Bemühungen, sondern auch das g a n z konkrete Bestreben, die westlichen E m b a r g o B e s t i m -mungen zu lockern. D i e zahlreichen Abschlüsse und die Aussichten auf eine Ausweitung des H a n d e l s sollte die handelspolitische Isolierung der Sowjet-union überwinden und zugleich die K a u f l e u t e u n d die öffentliche Meinung gegen die Regierungspolitik der kapitalistischen S t a a t e n mobilisieren.

d d ) D i e Ausnutzung der inneren Widersprüche des K a p i t a l i s m u s u n d die Verhinderung der westlichen Militärallianz

D i e Ausnutzung der inneren Widersprüche des kapitalistischen Staatensystems w a r 1 9 5 0 - 1 9 5 2 einer der wichtigsten G r u n d s ä t z e der sowjetischen Strategie in E u r o p a . D i e Hoffnung auf die Desintegration des Westblocks und die unvermeidlich ausbrechende, große K r i s e des K a p i t a l i s m u s bildete einen

wich-tigen A u s g a n g s p u n k t der sowjetischen P l ä n e für E u r o p a . D i e inneren Wider-sprüche des K a p i t a l i s m u s 1 9 5 0 - 1 9 5 2 waren in sowjetischer Sicht folgende:

1. Zwischen dem Selbstbewußtsein der europäischen N a t i o n e n und dem impe-rialistischen Herrschaftsanspruch der U S A ; zwischen dem Streben nach nationaler U n a b h ä n g i g k e i t und der tatsächlichen Abhängigkeit von den U S A (Antiamerikanismus).

2. Zwischen dem Mißtrauen der westlichen V ö l k e r gegenüber einem remili-tarisierten Westdeutschland, gegenüber dem aggressiven Militarismus der Deutschen und gegenüber einem zu mächtigen wiedervereinigten Deutsch-land, das eine neue „ R a p a l l o - P o l i t i k " betreiben könnte (Antideutsche Ressentiments, Streben Frankreichs nach anglo-amerikanischen Garantien i m F a l l e eines eventuellen Austritts der B R D aus der E V G ) und den B e

-strebungen besonders der U S A , Westdeutschland wiederaufzurüsten und als selbständigen Partner und Machtfaktor im westlichen Bündnissystem anzuerkennen und für ihre Ziele einzusetzen.

3. Zwischen den einzelnen Regierungen hinsichtlich der Einschätzung der kom-munistischen Bedrohung.

4. Zwischen den einzelnen Regierungen hinsichtlich der Behandlung kolonialer (Indochina) und nationaler Probleme ( S a a r f r a g e ) .

5. Zwischen den militaristischen Regierungen und den „friedliebenden, demo-kratischen M a s s e n " ; zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat mit seinem niedrigen L e b e n s s t a n d a r d ; zwischen der T r a g w e i t e der Entschei-dungen auf Regierungsebene und den knappen, parlamentarischen Mehr-heiten in Frankreich, Italien und der B R D .

D i e Sowjetunion schätzte die westeuropäischen Staaten nun nicht mehr nur als Satelliten der U S A ein, sondern betrachtete sie seit 1951 auch zunehmend als relativ bedeutende, potentielle oder tatsächliche Träger v o n Widersprüchen im kapitalistischen L a g e r . Geschickt nutzte die sowjetische D i p l o m a t i e und P r o p a g a n d a diese Spannungen aus. Seit 1950 erinnerte sie Frankreich und Großbritannien an die während des 2. Weltkrieges abgeschlossenen Freundschaftsverträge; sie zeigte sich ihnen gegenüber verhandlungs und k o o p e r a -t i o n s b e r e i -t2 8. Überall unterstützte sie die Forderung nach „nationaler U n a b hängigkeit", nach „Befreiung v o m U S I m p e r i a l i s m u s " , nach einer „ u n a b -hängigen Friedenspolitik" der westlichen Staaten. Wo möglich, benutzte sie

den N a t i o n a l i s m u s , antideutsche oder antiamerikanische Gefühle, um die Differenzen und Spannungen zu erhöhen. „ D i e Macht des Westblocks zu frag-mentieren und zu vermindern", blieb dabei das H a u p z i e l der S o w j e t u n i o n2 9.

A l s konkretes Ziel strebte die Sowjetunion v o r allem die Verhinderung des A u s b a u s der N A T O , des A u s b a u s einer integrierten europäischen Armee ( E V G ) , der wirtschaftlichen Integration ( E G K S ) und des Wiederaufstiegs der B R D z u einem souveränen S t a a t an. Vergeblich versuchte die U d S S R 1 9 5 1 , die N A T O , die amerikanischen Militärstützpunkte und die Remilitarisierung Westdeutschlands zum T h e m a einer Außenminister-Konferenz zu machen.

Vergeblich waren ihre Proteste u n d P r o p a g a n d a k a m p a g n e n , die direkten Aktionen der K P s wie deren heftige Angriffe in den Parlamentsdebatten der westeuropäischen L ä n d e r . Eines der H a u p t z i e l e der gesamteuropäischen S t r a -tegie nämlich, die Veränderung des Mächtegleichgewichts in Mitteleuropa durch D i p l o m a t i e und P r o p a g a n d a zu verhindern, konnte in den J a h r e n 1 9 5 0 - 1 9 5 2 nicht erreicht werden.

ee) D i e Funktion der sowjetischen Neutralisierungsvorschläge

D i e Absicht, den Gegner politisch und militärisch-strategisch zu schwächen, w u r d e auch sichtbar in den sowjetischen Bemühungen, einen Gürtel v o n

Sowjetische Politik in Europa 1950-1952 31 Staaten am R a n d e ihres Herrschaftsbereiches dem amerikanischen Einfluß möglichst weitgehend zu entziehen, v o r allem aber dessen Eingliederung in die N A T O z u verhindern.

Diesem - dem Ostblock vorgelagerten - cordon sanitaire sollten zunächst die vier skandinavischen Staaten angehören, dann Deutschland und Öster-reich, weiterhin J u g o s l a w i e n , Griechenland, die Türkei und Persien, schließ-lich J a p a n . U m f a n g und Intensität der sowjetischen Bemühungen der J a h r e

1951/52 waren dabei sehr unterschiedlich. D e r Plan einer faktischen N e u t r a l i -sierung eines zweiten cordon sanitaire erschien als eine neue Grundfigur der indirekten Offensivstrategie der U d S S R in der Koexistenzphase. Sie trug sicherheitspolitisch zunächst stark defensive Z ü g e . D i e Isolation, die mögliche innere Schwäche und unklare Mittelstellung dieser S t a a t e n sollten der U d S S R im Wege eines scheinbaren Interessenausgleichs zugleich aber auch die C h a n c e verschaffen, diese L ä n d e r durch eine geschickte Bündnis- und Verständigungs-politik nach einer kürzeren oder längeren Übergangsphase auf ihre Seite zu

1951/52 waren dabei sehr unterschiedlich. D e r Plan einer faktischen N e u t r a l i -sierung eines zweiten cordon sanitaire erschien als eine neue Grundfigur der indirekten Offensivstrategie der U d S S R in der Koexistenzphase. Sie trug sicherheitspolitisch zunächst stark defensive Z ü g e . D i e Isolation, die mögliche innere Schwäche und unklare Mittelstellung dieser S t a a t e n sollten der U d S S R im Wege eines scheinbaren Interessenausgleichs zugleich aber auch die C h a n c e verschaffen, diese L ä n d e r durch eine geschickte Bündnis- und Verständigungs-politik nach einer kürzeren oder längeren Übergangsphase auf ihre Seite zu