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Stefan Kalmring, Andreas Nowak Globalisierungskritik und Solidarität

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 70-86)

Zur Theorie, Strategie und Geschichte eines notwendigen Projekts

Von Porto Alegre über Caracas nach Berlin, London oder Rom

Der hoffnungsvolle Blick, der gegenwärtig von Europa aus auf Lateinamerika ge-richtet wird, hat gute Gründe. Die hiesige Linke ist immer noch geschwächt und hofft auf Anregungen und Inspiration. Möglicherweise lässt sich am lateinameri-kanischen Beispiel lernen, wie man die eigene Defensivposition überwinden kann? Die sozialen und politischen Prozesse in Lateinamerika haben stets eine gewisse Faszination auf die westeuropäische Linke ausgeübt, daher ist es nahelie-gend, in einer Zeit, in der die Zentren kraftvoller sozialer Kämpfe offenbar außer-halb Europas liegen (vgl. Roth 2005), wieder nach Eingebungen aus Lateinamerika zu suchen. Die hiesige Linke, keynesianische Reformer/innen, Globalisierungs-kritiker/innen und Sozialist/innen, sollten sich für Impulse von dort öffnen, die eventuell hier zu neuen Verschiebungen führen können.

Ein Blick auf die politische Landkarte zeigt schnell, dass der Charakter der Linkstendenzen in Lateinamerika äußerst plural und uneinheitlich ist (vgl. Boris u. a. 2005; Boris 2007). Es wäre also falsch, Ungleiches leichtfertig über einen Kamm zu scheren. In den verschiedenen Regionen Lateinamerikas äußern sich unterschiedliche Kräfte mit verschiedenen Zielen und Methoden unter sicher ver-gleichbaren, aber sehr unterschiedlichen Bedingungen. Die Piqueteros in Argenti-nien sind nicht mit der kolumbianischen FARC und Lula nicht mit Chavez zu ver-wechseln. Der Hinweis ist banal, ein Blick ins Feuilleton beweist jedoch, dass er nicht fehlen sollte.1Das Abzeichen »links« verweist auch im Falle der gegenwär-tigen Linksentwicklungen in Lateinamerika weder auf gleiche Anschauungen noch auf gleiche Programme.

Dennoch existiert eine gemeinsame Klammer, die die verschiedenen Akteure/

innen, wenn auch nur lose, umfasst (ebd.). Ohne eine gemeinsame Richtung hät-ten die mittelschweren Erschütterungen, die in der politischen Tektonik ausgelöst wurden, nicht diese Folgen gehabt. Ein anti-neoliberaler Anspruch eint hier, wen ansonsten vieles trennt. Und es gehen Signalwirkungen von den Versuchen einer Konstruktion von Gegenhegemonie in einem immer noch neoliberal dominierten Weltsystem aus. Soziale Bewegungen haben jahrelang wirkungsvoll neue Protest-, Vernetzungs- und Artikulationsformen erprobt, mittlerweile haben es einige in

1 Siehe auch den Beitrag von Albert Sterr in diesem Band, der u. a. auf die Schwachpunkte der deutschen Bericht-erstattung eingeht.

mehreren Ländern auf die Regierungsebene geschafft und im Falle Boliviens und Venezuelas sind es nicht eben gerade unbescheidene Ziele, die dort von offizieller Seite ausgegeben werden (Azzellini 2006). Die Botschaft, die weit über Lateiname-rika hinaus empfangen und verstanden wird, ist, dass eine Bresche ins neoliberale Gehäuse geschlagen werden kann. Da sind Kämpfe, die gefochten werden, andere die noch ausstehen und man kann an ihnen teilnehmen, mit dem Wissen, dass sie nicht von vornherein aussichtslos sind. Der Neoliberalismus, der noch vor ein paar Jahren ungeachtet einer starken Antiglobalisierungs- und Weltsozialforenbewegung wie eine unüberwindliche Mauer schien, weist sichtbare Brüche und Risse auf.

Selbst diejenigen, die die Aussichten der lateinamerikanischen Entwicklungen skeptisch bis negativ beurteilen, begreifen sie als eine gewichtige Störung im Fluss der marktradikalen Politik. Das lautstark vernehmbare »Nein« zu den neoliberalen Kernprinzipien von Freihandel, Deregulierung und Privatisierung ist ein deutlicher Hinweis auf die wachsenden Widersprüche, die der Neoliberalismus weltweit er-zeugt und mit denen er nun konfrontiert ist. Vor Rückschlägen zwar nicht gefeit, bil-den die lateinamerikanischen Ereignisse aber eine gewichtige Verbesserung in bil-den Bedingungen dafür, dass Alternativen wieder vorstellbar, denk- und diskutierbar werden – und zwar auch bei uns. War die anti-neoliberale Kritik trotz beachtlicher Mobilisierungsleistungen in der Regel lange Zeit von einer weitgehenden politi-schen Folgenlosigkeit gekennzeichnet, so verliert das wirkungsvolle Schutzschild des TINA-Prinzips, das there is no alternative, nun etwas von seiner stabilisieren-den Kraft. Die Möglichkeiten einer politisch wirksamenKritik haben sich ein stück-weit gebessert.

Der Schwung, der von den Linkstendenzen in Lateinamerika ausgeht, muss von der deutschsprachigen Linken aufgegriffen und umgesetzt werden. Voraussetzung dafür ist, die Schwachstellen des globalisierungskritischen Widerstands auszubessern und die Formierung von Opposition auf eine solidere und wirksamere Basis zu stel-len, wo immer es möglich ist. Heißt radikal sein, dass man an die Wurzel geht (vgl.

MEW 1: 385), dann besorgen wir uns lieber heute als morgen die geeigneten Werk-zeuge, um zu graben. Schließlich drängen die Aufgaben. In wenigstens drei Berei-chen scheinen uns Ausbesserungsarbeiten notwendig zu sein: Die Kapazitäten zur Analyse der gegenwärtigen Umstrukturierungsprozesse des Kapitalismus müssen gesteigert werden, ein selbstkritisches Geschichtsbewusstsein sozialer Bewegungen ist auszubilden und nicht zuletzt sind utopische Kompetenzen zurückzugewinnen.

Theoretische und visionäre Leerläufe

Die Tiefe des Wandels innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse, der mit der Krise der 1970er Jahre beginnt, sucht seinesgleichen. Eric Hobsbawm hat in sei-ner Geschichte des kurzen 20. Jahrhunderts zu dessen Beschreibung die Metapher des Erdrutsches eingeführt.

»Wir leben in einer Welt, die gekapert, umgewälzt und entwurzelt wurde vom gigantischen ökonomischen und technisch-wissenschaftlichen Prozess der Kapi-talismusentwicklung, der die vergangenen zwei oder drei Jahrhunderte beherrscht hat […]« (Hobsbawm 1998: 719).

Was lange Zeit als stabil und fest angesehen wurde, erodiert zusehends infolge der ökonomisch induzierten Strukturkrise, die in einer mangelnden Profitabilität der Kapitalverwertung seinen Grund findet (vgl. Kisker 1997, Kisker 2007, Krüger 2007). Seit 1974/75 treten Phänomene wie eine säkular steigende Arbeitslosig-keit, geringe Kapazitätsauslastungen, niedrige Wachstumsraten, Fusionswellen und eine rigide Verdrängungskonkurrenz als Krisensymptome deutlich zu Tage.

Die Strukturkrise führt zur Bubbleökonomie, deren Instabilität sich u. a. in der ge-genwärtigen Finanzmarktkrise deutlich zeigt (Krüger 2008).

Auf der Suche der Kapitale nach den Voraussetzungen eines neuen langandau-ernden überzyklischen Aufschwungs gerät die gesamte kapitalistische Formation aus den Fugen. Staatsformen transformieren sich, die Klassenlandschaften und Geschlechterverhältnisse bauen sich um, die Kräfteverhältnisse verschieben sich zu Lasten der direkten Produzenten/innen, mit neuen Produktionsmodellen wird experimentiert, auf Kosten der Realkapitalakkumulation werden riesige Geld-kapitale gebildet, Wertschöpfungsketten werden internationalisiert und bisher der Kapitalakkumulation verschlossene Räume werden in zuvor unbekanntem Aus-maß der Verwertung erschlossen (Zeller 2004). Die Akkumulation und Regulation der kapitalistischen Warenproduktion sucht sich neue Wege. Der marktradikale Neoliberalismus bietet mit seinem Credo der Dreifaltigkeit von Privatisierung, Deregulierung und Monetarisierung nach wie vor den dominierenden Wegweiser für große Teile der Gesellschaft im anstehenden Restrukturierungsprozess (vgl.

Harvey 2007).

Dabei hat sich der Neoliberalismus weltweit als eine gesellschaftsverändernde Kraft erwiesen, die ihresgleichen in der Geschichte sucht. Doch die Risse in der einst so stabilen neoliberalen Hegemonie zeichnen sich deutlich ab (vgl. Bischoff u. a. 1998). Ökonomische Instabilitäten, eine verschärfte soziale Polarisierung weltweit und zugleich innerhalb einzelner Länder, Finanzkrisen, forcierte Natur-zerstörungen, kriegerische Tendenzen und autoritärstaatliche Entwicklungen bele-gen für viele klar erkennbar, dass sich die hochfliebele-genden Versprechen einer neo-liberalen Theorie und Politik für breite Teile der (Welt-)Bevölkerung mehr als haltlos erwiesen haben.2Die Zusicherung einer neuen Prosperitätskonstellation durch Lohnsenkungen, einer Flexibilisierung von Märkten und durch Einsparun-gen von öffentlichen Ausgaben konnte nicht eingehalten werden. Es wäre ange-sichts gemachter historischer Erfahrungen auch ein Wunder gewesen, wenn die neoliberalen Zusagen zutreffend gewesen wären. Die Orthodoxie einer reinen Marktwirtschaft war schon während der großen Depression der 1930er Jahre nicht

2 Vergleiche auch den Beitrag von K. P. Kisker in diesem Band.

in der Lage die stagnativen Tendenzen der Weltwirtschaft zu verstehen, ge-schweige denn sie in den Griff zu kriegen; warum sollte sie es dann heute sein?

(vgl. Hobsbawm 1995: 136 f.)

Selbst aus der Perspektive einiger Kapitalfraktionen dürfte sich der Neolibera-lismus zunehmend als ein zweischneidiges Schwert darstellen. Die strukturell be-dingten Überakkumulationstendenzen der kapitalistischen Warenproduktion, die seit Mitte der 1970er Jahren die kapitalistischen Ökonomien prägen, erweisen sich als stabil. Einerseits eröffnet der Neoliberalismus über Privatisierungen und Freihandelsbestrebungen dem Kapital neue Verwertungsmöglichkeiten und senkt gleichzeitig die Arbeitskosten und Zumutbarkeitsgrenzen für Arbeitnehmer/innen in erheblichem Umfang. Andererseits bedeuten Lohnsenkungen und eine restrik-tive Haushalts- und Geldpolitik des Staates, dass der Binnennachfrage und damit der Kapitalverwertung an die Gurgel gegriffen wird. Der versuchten Sanierung der Profitraten über einen Abbau von Arbeitnehmer/innenrechten, über Lohnsen-kungen, über forcierte Inwertsetzungsprozesse und über eine Senkung der Kosten des Sozialstaats stehen also Effekte des Neoliberalismus gegenüber, die die anvi-sierten Ziele wieder konterkarieren. Der Wunsch nach einer neuen, langanhalten-den Prosperität, nach allgemeinen Wohlstandsgewinnen bleibt letztlich unerfüllt.

Es sind die Widersprüche des Neoliberalismus selbst, die neue Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung hervortreiben. Da ist gegenwärtig vor allem wieder eine keynesianisch inspirierte Forderung nach einer staatlichen Reregulie-rung der Warenökonomie (vgl. Flassbeck, Spiecker 2007; Corneo 2006; Hickel 2006), auf der anderen Seite eine Forderung nach einem bedingungslosen Grund-einkommen, die zumindest von linker Seite stark utopisch aufgeladen ist (vgl.

Rätz u. a. 2005, Reitter 2005). Aber auch ein freiheitlich verstandener Sozialis-mus äußert sich am Rande von Bewegungen und linken Parteineubildungsprozes-sen – wenn auch kaum hörbar, dennoch wohltuend renitent-beharrlich (vgl. Notes from Nowhere 2007).

So erfreulich das Wiedererstarken gesellschaftsverändernder Bestrebungen sein mag, es muss dennoch angemerkt werden, dass alle drei Richtungen einen schwachen Stand aufweisen. Theoretische Defizite sind bei ihnen allen nicht zu leugnen. Die Vertreter/innen eines neuen Keynesianismusbegreifen die Ursachen der gegenwärtigen Strukturkrise nicht, sehen nicht, dass die gegenwärtigen Nach-frageprobleme nicht nur ein Ergebnis der neoliberalen Wirtschafts- und Sozial-politik, sondern vor allem eine sekundäre Folge einer strukturellen Überakkumu-lationskrise sind. Diese tritt ein, wenn der überkonjunkturell stattfindende tendenzielle Fall der Profitraten so weit gediehen ist, dass er gesamtwirtschaftlich sinkende Profitmassen nach sich zieht (Bischoff, Krüger 1983). Eine Situation tritt ein, die strategisches Handeln der Kapitale erfordert, wobei deren Ergebnisse widersprüchlich sein müssen:

»Die zyklendurchschnittliche Einschränkung der Realkapitalakkumulation, die Reduzierung der Erweiterungsinvestitionen und die neuen,

Produktionskapazitä-ten vernichProduktionskapazitä-tenden Zentralisationsstrategien bremsen zwar kurzfristig den Fall der Profitrate, bewirken aber gleichzeitig eine weitere zyklendurchschnittliche Sen-kung der Akkumulationsrate, so dass die Überakkumulation nicht gebremst, son-dern verstärkt wird« (Kisker 2007: 336).

Gleichzeitig bedeutet die Einschränkung der Realkapitalakkumulation bei Zu-nahme der Rationalisierungsbestrebungen, dass die Arbeitsproduktivität schneller wachsen wird, als das Sozialprodukt. Die damit säkular steigende Arbeitslosigkeit muss sich negativ auf die Konsumgüternachfrage auswirken. Eine sinkende Kon-sumgüternachfrage wird wiederum eine abnehmende Investitionsgüternachfrage nach sich ziehen, was wiederum zu Freisetzungsprozessen führen muss. Wir erhalten eine sich selbst verstärkende Abwärtsspirale (Kisker 1997).

Die neuen Keynesianer/innen weisen in der Regel nicht nur eine mangelnde Bereitschaft auf, den Staat als Form im Kapitalismus zu problematisieren, sie kennen den aufgezeigten Zusammenhang nicht. Der Neoliberalismus ist weder eine funktional-notwendige Ideologie eines unumgänglichen Globalisierungs-und Entbettungsprozesses der Kapitalakkumulation, wie beispielsweise John Bel-lamy Foster behauptet (Foster 1999), noch ein schlichtes politisches Projekt herr-schender Eliten, das durch eine simple Reregulierung wieder zu beseitigen wäre (vgl. z. B. Flassbeck, Spiecker 2007). Der Neoliberalismus ist kein Projekt, das aus sich selbst gewachsen ist, in einem Moment der Plötzlichkeit wie ein Unwet-ter über uns hereingebrochen ist und durch einen einfachen Politikwechsel ebenso aus der Welt zu bringen wäre, sondern er basiert auf ihm unterliegenden Trieb-kräften. Aus diesen ist er zwar nicht linear wie bei Foster abzuleiten, aber er rea-giert auf sie. Er ist ein besonders gearteter Versuch, einen Weg aus der strukturellen Überakkumulationskrise zu weisen. Dies muss bei seiner Kritik, wie der Formu-lierung alternativer Ansätze berücksichtigt werden, wenn sie tragfähig sein wollen.

Wer einen keynesianischen Umverteilungsstaat nach fordistischem Vorbild ein-fordert, bekämpft die tieferliegenden Ursachen der Überakkumulationskrise nicht, sondern nur ihre nachfrageseitigen Folgen. Er oder sie wird die durch die neolibe-rale Politik verstärkten Nachfrageprobleme mindern können. Gleichzeitig beseitigt er aber die durch den Neoliberalismus gestärkten Tendenzen, die dem Profitratenfall entgegenwirken, da – zumindest dem eigenen Anspruch und Zielsetzungen nach – die Kostenexternalisierungsstrategien der Kapitale wieder umgekehrt und die neu erschlossenen Verwertungsräume wieder abgeriegelt werden. Damit wären wir per-spektivisch wieder beim Ausgangspunkt der Krise angelangt. So wichtig und lo-benswert es zweifellos ist, gegen die Kostenabwälzungsbestrebungen und Inwert-setzungsversuche der Kapitale anzugehen: Wer, wie die Neokeynesianer/innen, auf dem Boden der gegenwärtigen Ordnung bleiben will, bräuchte neue wirtschafts-und sozialpolitische Instrumentarien, die einerseits Arbeitnehmer/inneninteressen und Umweltschutz berücksichtigten, andererseits eine Antwort auf den Profitraten-verfall (und zwar im Sinne der Kapitale) bieten würden. Im fordistischen Werk-zeugkasten wird man erst einmal wenig Nutzbringendes finden.

Wie sieht es mit den linken Vertreter/innen des bedingungslosen Grundeinkom-mensaus? In sympathischer Weise wollen sie den kapitalistischen Arbeitszwang abschaffen, dadurch einen Raum für freie Tätigkeit öffnen und die Verhandlungs-position der Arbeitnehmer/innen stärken (Blaschke 2004). Explizit kämpfen sie gegen den disziplinarischen Charakter des neoliberalen Staats an und verfügen damit über ein gerüttelt Maß an Staats- und Bürokratiekritik. Dies zeichnet sie vor den Neokeynesianer/innen aus. Dennoch ist ihre Utopie eine »schlechte Utopie«

(Koch 1998). Warum? Ihre Vision ist nicht mit einer ausreichenden Analyse der bestehenden Verhältnisse geerdet, in die sie verändernd eingreifen wollen. Ein wirklicher Begriff davon, was Kapitalismus ist und was seine historisch-spezifi-sche Form auszeichnet, fehlt offenbar. Deshalb geht der Reformvorschlag ins Leere. Man glaubt mittels eines schlichten Verwaltungsakts den Arbeitszwang ab-schaffen und die Verteilungsfrage klären zu können, übersieht dabei aber, dass beide nicht vom Klassencharakter bürgerlicher Gesellschaften zu trennen sind.

Man reißt Produktion und Distribution gewaltsam auseinander, eine theoretische Untat, die sie aus der liberalen Ökonomie entliehen haben (vgl. MEW 42: 30 ff.).

Es besteht die Vorstellung, dass man die Distribution des Sozialprodukts frei und beliebig gestalten könne und dementsprechend nach Maßstäben der Vernunft auch solle. Auf diesem Umwege beabsichtigten sie dann auch die Formen der Teil-nahme an der sozialen Produktion zu verändern.

Dies ist nicht realistisch. Denn die Produktion ist das übergreifende Moment im ökonomischen Kreislauf (ebd.: 34). Ihre soziale Gliederung bestimmt die Formen der Distribution und nicht umgekehrt. Das sachlich vermittelte Klassenverhältnis im Kapitalismus wird über den »stummen Zwang der ökonomischen Verhält-nisse« (MEW 23: 765) – in erster Linie auf dem Arbeitsmarkt –, über »Erziehung, Tradition, Gewohnheit« (ebd.), aber auch durch eine »ständige Zuarbeit« (Negt, Kluge 1982: 28) der Politik und des Staates reproduziert. Obwohl es sachlich ver-mittelt ist, das kernstrukturierende Produktionsverhältnis der bürgerlichen Gesell-schaft ist ein HerrGesell-schaftsverhältnis (Mauke 1970). Der Arbeitszwang ist ihm not-wendig eigen.

Was würde passieren, wenn wir wirklich ein Grundeinkommen in einer Höhe durchsetzen könnten, wie es den linken Vertreter/innen des Konzepts vorschwebt?

Hätten wir die Macht dazu, wäre zunächst zu fragen, warum wir nicht gleich »ra-dikaldemokratische Produktionsverhältnisse« (Narr, Roth 2005) an die Stelle der bürgerlichen setzen sollten? Aber sei’s drum. Der Zwang zur Lohnarbeit müsste in einem solchen Fall neue Formen finden, oder er müsste sich über den verding-lichten Mechanismus des Marktes wiederherstellen, da die Grundstruktur des Klassenverhältnisses ungebrochen wäre. Ein kulturell-normativer Druck zur Lohnarbeit würde aufgebaut, oder – und dies wäre eine Horrorvision – er würde auf politischem Wege hergestellt. Wahrscheinlicher wäre eine selbstregulierende Antwort des Marktsystems. Steigt die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer/in-nen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen von beachtlichem Niveau,

stei-gen die Lohnkosten – und die Arbeitsproduktivität würde dank verbesserter Ar-beitsbedingungen sinken. Die gestiegenen Kosten würden von den Unternehmen über die Preise weitergegeben, die Inflation andauern bis das bedingungslose Grundeinkommen ausreichend entwertet wäre. Ist es aber den Kapitalien auf-grund besonderer Umstände nicht möglich, die hohen Kosten über die Preisset-zung abzuwälzen, würde die Akkumulationsdynamik dank sinkender Profitraten erlahmen. Die gegenwärtig zu beobachtende Stagnationstendenz würde sich ver-schärfen. Damit gerät aber der gesamtgesellschaftliche Fonds in Gefahr, aus dem das Grundeinkommen zu finanzieren ist. Die Folge ist absehbar: Ein politischer Druck baut sich immer weiter auf, das Grundeinkommen entweder zurückzuneh-men, oder auf ein derart niedriges Niveau zurückzuschrauben, dass die Akkumu-lationsdynamik nicht mehr gefährdet wäre.

Leider steht es um diejenigen Globalisierungsgegner/innen, die eine andere, eine solidarische und antikapitalistische Gesellschaft einfordern, auch nicht wirk-lich besser. Die Mehrheit von ihnen weigert sich, ein Bild von der zu erkämpfen-den Gesellschaft zu entwerfen. Man bedient sich stattdessen Leerformeln wie

»Eine andere Welt ist möglich«. Nach dem desaströsen Ende der östlichen Zen-tralverwaltungswirtschaften reicht ein Slogan wie dieser nicht aus. Die Menschen haben ein Recht darauf zu wissen, was man will und für die Zukunft anstrebt. Sie haben ein Recht darauf selbst zu prüfen, ob die eingeforderten sozio-ökonomi-schen Modelle zum einem (ökonomisch) lebensfähig sind, zum anderen ihren vi-talen Bedürfnissen und Vorstellungen in großem Umfang entsprechen. Der Stali-nismus hat die Idee des Sozialismus gerade auch in den Augen derjenigen in Zweifel gezogen, die eigentlich von ihm hätten profitieren müssen (Eagleton 2002). Der Zusammenbruch des Ostblocks hat deutlich gemacht, dass es keines-wegs als selbstverständlich angenommen werden kann, dass postkapitalistische Systeme auf Dauer ökonomisch reproduktionsfähig sind. Verbreitete Ängste, dass erneute sozialistische Versuche zum einen wieder repressiv umschlagen, zum an-deren gar nicht lebensfähig sein könnten, sind ernst zu nehmen (Haug 1990), wer-den es aber nur, wenn die Frage nach der institutionellen Struktur einer nachkapi-talistischen Gesellschaft offensiv öffentlich zur Diskussion gestellt wird.

Eine Minderheit, die vor allem im angloamerikanischen Raum beheimatet ist, stellt sich der Herausforderung (vgl. Creydt 2001). Hier werden Modelle eines Jenseits des Kapitalismus formuliert. Leider erfolgt dies in der Form eines abstrakten Modellplatonismus, der nicht mit den Entwicklungstendenzen des ge-genwärtigen Kapitalismus vermittelt ist (Krätke 2003). Es wird auf eine materia-listische Fundierung der Konzepte verzichtet. Dass die ökonomischen Vorbedin-gungen zur Verwirklichung entsprechender Sozialismusvorstellungen durch den Kapitalismus erzeugt werden, wird schlicht behauptet, nicht aber bewiesen.

Schlimmer aber ist, dass die Akteure und ihre dynamischen Bedürfnisstrukturen schlicht ignoriert werden. Agnes Heller hatte vor mittlerweile 30 Jahren herausge-arbeitet, dass der Kapitalismus notwendig immer wieder neu sogenannte radikale

Bedürfnisse, also Bedürfnisse, die über den Kapitalismus hinausweisen, erzeugt (Heller 1976). Der neue Modellplatonismus fragt weder bei wem diese Bedürf-nisse anzutreffen sind, noch welcher Natur sie sind, noch in welche Richtung sie weisen. Er wird mit anderen Worten mit großer Wahrscheinlichkeit an möglichen Akteuren einer gesellschaftlichen Veränderung vorbeikonstruieren. Mehr als bis-her gilt es zu begreifen, dass der Sozialismus ein dynamisches Konzept ist und dass das, was er zu sein hat, sich mit dem Kapitalismus fortwährend ändern muss.

Denn der Kapitalismus kann »nicht aufhören, die Forderungen zu verändern, die auf seine Überwindung drängen, nämlich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Klassen, die in ihm ausgebeutet und unterdrückt werden« (Singer 1981: 16). Als Zusammenfassung dieser Forderungen ist der Sozialismus »eine Art Reflex des Kapitalismus: Er spiegelt dessen Widersprüche und die Möglichkeiten, die dessen Entwicklung eröffnet« (ebd.). Auch deshalb gilt es, unsere theoretischen Fähig-keiten zur Analyse der gegenwärtigen Tendenzen des Kapitalismus zu schärfen, um mit ihrer Hilfe die notwendigen Visionen zu fundieren. Ansatzpunkte finden sich in den Verhältnissen zweifellos: erweiterte Autonomieansprüche der Subjekte und z. T. auch selbstorganisierte Arbeitsverhältnisse, Pluralisierung der Lebens-stile und Orientierungen, Selbstverwirklichungs- statt Verzichtsethik; das sind al-les Elemente, die im Prinzip schon Teil der anti-fordistischen Revolte um 1968 waren (vgl. Gilcher-Holtey 2001) und bei all der nachträglichen neoliberalen Um-widmung und Überlagerung als latent kritisch-widerständiger Subtext geblieben

Denn der Kapitalismus kann »nicht aufhören, die Forderungen zu verändern, die auf seine Überwindung drängen, nämlich die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Klassen, die in ihm ausgebeutet und unterdrückt werden« (Singer 1981: 16). Als Zusammenfassung dieser Forderungen ist der Sozialismus »eine Art Reflex des Kapitalismus: Er spiegelt dessen Widersprüche und die Möglichkeiten, die dessen Entwicklung eröffnet« (ebd.). Auch deshalb gilt es, unsere theoretischen Fähig-keiten zur Analyse der gegenwärtigen Tendenzen des Kapitalismus zu schärfen, um mit ihrer Hilfe die notwendigen Visionen zu fundieren. Ansatzpunkte finden sich in den Verhältnissen zweifellos: erweiterte Autonomieansprüche der Subjekte und z. T. auch selbstorganisierte Arbeitsverhältnisse, Pluralisierung der Lebens-stile und Orientierungen, Selbstverwirklichungs- statt Verzichtsethik; das sind al-les Elemente, die im Prinzip schon Teil der anti-fordistischen Revolte um 1968 waren (vgl. Gilcher-Holtey 2001) und bei all der nachträglichen neoliberalen Um-widmung und Überlagerung als latent kritisch-widerständiger Subtext geblieben

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 70-86)