• Keine Ergebnisse gefunden

Inter-Nationalismus – Schwierigkeiten eines unverzichtbaren Begriffs

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 62-70)

Seit den 1970er Jahren vollzieht sich ein gegenwärtig immer noch anhaltender Internationalisierungsschub kapitalistischer Vermarktlichung – von Befürworten wie Kritikern zumeist unscharf als Globalisierung gekennzeichnet. Wer sich da-mit nicht einfach abfinden oder sich auf ad-hoc-Reaktionen beschränkt sehen will, braucht dafür in seinem Denken einen strategischen Begriff, der ein Handeln zur Gegenwehr gegen diese in Gestalt einer Internationalisierung auftretende ka-pitalistische Durchdringung und politische Initiativen zur Durchsetzung histori-scher Alternativen bezeichnet, das nicht an den Staatsgrenzen halt macht. Der Be-griff des Internationalismus1hat in dieser Hinsicht einige Tücken, auf die ich hier näher eingehen möchte.

Konkurrierende Begriffe wie Kosmopolitismus2oder internationale Solidarität3 haben demgegenüber allerdings andere Mängel aufzuweisen, die eher noch gravie-render sind. Es wird einer wirklich gegenwärtigen Bewegung gegen die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer weltweiten Durchgesetztheit (die al-lerdings immer wieder reproduziert werden muss, was nicht einfach von selbst ge-schieht) also nichts anderes übrig bleiben, als den Begriff des Internationalismus sorgfältig kritisch zu untersuchen und, so gut es geht, neu zu bestimmen.4

1 Im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (hg. von Labica) wird ein »zweifacher Mangel« konsta-tiert: Dass im »ursprünglichen Marxismus […] die nationalen Gegebenheiten vernachlässigt« wurden und dass

»die Risiken der Machtpolitik, die jede Staatwerdung (darin eingeschlossen eine mit sozialistischer Zielsetzung) enthält, unterschätzt oder verleugnet« wurden (Bd. 3, 1985: 570 f.). Angesichts des Auseinanderfallens eines nur noch von der Sowjetunion und »einer kleinen Zahl von kommunistischen Parteien und prosowjetischen Fraktio-nen« vertretenen »proletarischen Internationalismus«, eines auf die Dritte Welt orientierten Internationalismus und eines trotzkistischen Insistierens auf dem »Primat der proletarischen Weltrevolution« erscheint dem Verfas-ser G. G. eine »Neudefinition des Internationalismus« dringend notwendig. Das HKWM (Bd. 6 II, 1437 ff.) spricht unter dem Titel der internationalistischen Bewegung nur über den »Aufbruch der Jugend und der Studie-renden, die zum Träger des neuen Internationalismus werden sollten« (1437) und verfolgt diese Linie bis zu den Neo-Zapatisten – und nicht über die Probleme des alten Internationalismus.

2 Der uns von der Wortbedeutung her auf Konzepte wie Weltbürger und Weltstaat, ja sogar auf ein den gesamten Kosmos umspannendes politisches Gemeinwesen verweist.

3 Die sich als eine besondere Dimension der Praxis der Solidarisierung mit den Kämpfen anderer begreift, durch die die Arbeiterbewegung ihre spezifische Handlungsfähigkeit aufbaut, neben etwa einer lokalen, regionalen oder nationalen bzw. einer professionellen oder sektoralen Solidarität – ohne besonders auf die Probleme dieses Internationalen einzugehen.

4 Ich gehe davon aus, dass wir jedenfalls im öffentlichen Gebrauch der Vernunft Wörter und Begriffe finden müs-sen und sie nicht nach Belieben erfinden können. Ob etwa Transnationalismus ein brauchbarer Begriff für das Gesuchte werden könnte, erörtere ich daher gar nicht erst. Auch wenn vielleicht die Existenz transnationaler Konzerne und von entsprechenden Kämpfen gegen ihre Marktmachtstrategien heute schon die Frage nach der Transnationalität von gesellschaftlichen Kämpfen nahe legt.

1.

Wie alle vergleichbaren Kunstworte mit »Inter«5leidet auch der Inter-Nationalis-mus an einem schwierigen Verhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Wortteil: Geht es wirklich um etwas zwischen den Nationen oder geht es nicht auch um einen Gegensatz gerade zu der nationalistischen Affirmation dieser Na-tionen. Und: Ist es denn selbstverständlich, dass die Menschheit aus Nationen be-steht bzw. sich in derartige politisch-soziokulturelle Menschengruppen aufglie-dert? So gefragt, selbstverständlich nicht.6Aber diese einfache Klarheit verdeckt wiederum weitere Probleme: Wie müssen wir das Verhältnis derartiger Gruppen zu den sie bildenden Individuen begreifen – und wie verhalten sich Nationen zu anderen Formen von Menschengruppen, etwa Sippen, Stämmen oder Kulturen?

2.

Außerdem schleppt der Begriff des Internationalismus ein problematisches Erbe mit sich herum: In der kommunistischen Arbeiterbewegung wurde er mehrfach auf den Hund gebracht – nachdem im Kommunistischen Manifest noch über-schwänglich davon ausgegangen worden war, dass das eigentumslose Proletariat mit den der Sicherung des Privateigentums dienenden Nationalstaaten einfach gar nichts zu tun hatte, dann aber die wirkliche politische Organisierung der Arbeiter-bewegung durchaus im nationalstaatlichen Rahmen erfolgt war.7Zunächst versag-ten die sozialistischen Parteien im nationalistischen Sog des Ersversag-ten Weltkriegs, ließen also ihren vorher propagierten Internationalismus einfach fallen – was die Frage nach dem politischen Stellenwert des Konzepts aufwarf. Dann haben die Sta-linisten den Begriff des Internationalismus »umfunktioniert«, indem sie die Vertei-digung des Aufbaus des Sozialismus in einem Land zur internationalistischen Pflicht aller klassenbewussten Proletarier erklärten (1928 wird die SU zum »Vater-land des Sozialismus« erklärt) und dies dann noch selbst pervertierten, indem sie unter Berufung auf deren Internationalismus von den kommunistischen Parteien der Welt in den Jahren 1939-1941 sogar noch ein Wohlverhalten im Sinne des Hitler-Stalin-Paktes verlangt haben. Aber auch trotzkistisch orientierte Dissidenten haben noch weiter zur Verwirrung beigetragen, als sie angesichts des Krieges gegen den Hitlerfaschismus im Namen des Internationalismus ganz abstrakt dafür plädierten,

5 Intersexualität oder Intertextualität bieten sich als durchaus sprechende Exempel dafür an.

6 Auch etwa in der Rede von den multinationalen Konzernen ist diese Unterstellung zu finden: Es erscheint als selbstverständlich, dass dem kapitalistischen Weltmarkt eine Welt von Nationalstaaten als dessen politische Form entspricht.

7 Der Name der französischen Sozialisten bis in die 1960er Jahre hinein – Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO) – erinnerte noch an diese ursprüngliche internationalistische politische Organisationsform der Arbeiterbewegung in der ersten Arbeiterinternationale, auch wenn es sich ohne Zweifel um eine nationalstaatli-che Partei handelte (die dann sogar eine wichtige Rolle bei der versuchten militärisnationalstaatli-chen Restabilisierung des französischen Kolonialreiches gespielt hat).

dass die Arbeiterklasse nichts mit den kriegführenden imperialistischen Mächten zu tun haben dürfte und deswegen – wie schon im Ersten Weltkrieg – für einen konsequenten revolutionären Defaitismus eintraten, auf beidenSeiten. In der sta-linistisch dominierten Staatsmacht der UdSSR und später des Sowjetblocks ver-kam der Internationalismus dann vollends, indem er auf die Unterordnung der kommunistischen Politik unter die Existenz- und Machtinteressen des Sowjetstaa-tes heruntergebracht wurde – von der Verfolgung des Titoismus bis hin zur Bre-schnew-Doktrin des »proletarischen Internationalismus« als Rechtfertigung des militärischen Eingriffes in formell unabhängige, aber blockzugehörige Staaten (Einmarsch in die CˇSSR 1968). Kriegerische Konflikte zwischen Staaten, die sich auf den Sozialismus beriefen (China/Vietnam, Sowjetunion/China) zeigten dann jedenfalls, dass von besonderen internationalistischen Beziehungen zwischen ih-nen keine Rede mehr sein konnte.

Vor diesem Hintergrund und in bewusster Absetzung davon hat die Block-freien-Bewegung (initiiert von Tito, Nehru und Sukarno in Bandung 1956 – und im Anschluss daran auch die unabhängige Linke, wie sie sich seit den 1960er Jah-ren in Europa entwickelt hat) einen vorrangigen Begriff von »nationaler Befrei-ung« und von »Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten« souveräner (National-)Staaten entwickelt, dessen Problematik bereits deutlich wird, wenn wir nur die Frage stellen, wie mit diesem begrifflichen Instrumentarium der Unter-schied und (ich hoffe doch) Gegensatz zwischen einem linken, emanzipatorischen und einem rechten, herrschaftsaffirmativen Nationalismus klar artikuliert werden kann: Das geht überhaupt nur, indem wir auf zusätzliche Kategorien zurückgreifen und politische Projekte und Methoden als autoritär oder emanzipativ, als affirma-tiv oder als kritisch beurteilen. Gerade das lässt aber ein konsequenter »Souverä-nismus«, der das Einmischungsverbot in ein Beurteilungsverbot hinein verlängert, gar nicht erst zu. Die kritiklose Solidarisierung politischer Gruppen mit Kampu-chea zur Zeit des Pol Pot oder mit der vom CIA und dem Apartheid-Regime in Südafrika unterstützten Bürgerkriegspartei der UNITA des Dr. Jonas Savimbi in Angola bezeichnen Extrempunkte eines derartig kriterienlos gewordenen »Inter-nationalismus«.

Allerdings wäre es auch offensichtlich falsch, daraus mehr zu schließen, als dass jeder Einzelne, jede Gruppe, jede Organisation letztlich auch für die eigenen Urteile verantwortlich ist, auf die nicht etwa im Namen internationaler Solidarität verzichtet werden kann. Und dass es wichtige Unterschiede in der dafür erforder-lichen Urteilskompetenz gibt und geben muss, so dass auch ein reflektiert prakti-zierter Internationalismus in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Rol-len und unterschiedliche Verantwortungen übernehmen muss. Aber wie ist angesichts realer Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie sich auf den Weltmärkten – der für Arbeitskraft ist immer noch ganz anders strukturiert als die für Konsumgüter, für Investitionsgüter, für Dienstleistungen oder für Geld – re-produzieren, eine Praxis des Internationalismus zu entwickeln, welche den

Ab-hängigkeitsverhältnissen entspricht, ohne sie zu reproduzieren – d. h. konkreter, welche die (neo-)koloniale Position der hochentwickelten Länder kritisch reflek-tiert, ohne sie aus ihrer (historischen und gegenwärtigen) Verantwortung zu ent-lassen?

Wie sollen wir etwa damit umgehen, dass bis heute die internationalen Bezie-hungsmuster der Soli-Bewegungen denen der ehemaligen Kolonialreiche entspre-chen (mit Lateinamerika als traditionell deutschem Konkurrenzbereich)? Was können vor allem die Bewegungen in den Metropolen wirklich internationalis-tisch im eigenen Lande (und in Ländergruppen wie der EU) tun, was sicherlich über die bloße Unterstützung der Kämpfe des Globalen Südens hinausgehen müsste?

3.

Eine Reihe von Begriffen ist in den letzten Jahrzehnten in die Debatte geworfen worden, die zwar auch alle gut oder auch schlecht verwendet und weiterent-wickelt werden können, die es aber in keinem Fall erlauben, sich der ungeklärten Probleme des Internationalismus – im Verhältnis zu Nation, Staat, Klasse und Be-freiung – durch sein Fallenlassen bzw. Ersetzen zu erledigen.

Der Begriff des Kosmopolitismus(Held 2002, Beck 2004) hat immerhin auf diese Probleme reagiert – indem er ohne weitere Analyse auf ein früheres Stadium der Begriffsbildung zurückgriff, wie es sich im Individualismus eines Anacharsis Cloots in der Frühphase der großen Französischen Revolution artikuliert hatte, der mit den bestehenden Staaten auch die Völker und Nationen gänzlich um-standslos als historisch erledigt ansah. Aber damals blieb dieser Begriff ange-sichts der sich rasch selbst national begreifenden, konstituierenden Menge der Vielen der französischen Republik in dem schlechten Sinne abstrakt, dass er sich zu deren politischen Projekten gar nicht sinnvoll verhalten konnte. In seiner Neu-auflage ignorierte er dann auch gleich noch über die Völker und Nationen hinaus noch alle realen Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse, so dass immer wie-der ein Schönfärbereffekt eintrat angesichts wie-der vielfältigen Herrschafts- und Ab-hängigkeitsstrukturen innerhalb der gegenwärtigen Menschheit (Neo-Kolonialis-mus, Kapitalis(Neo-Kolonialis-mus, Imperialis(Neo-Kolonialis-mus, Patriarchat) und der zu ihrer Reproduktion eingesetzten Gewaltprozesse. Dieser grundsätzliche Mangel hat die auch in dieser Debattenlinie durchaus anzutreffenden interessanten Einzelüberlegungen immer wieder entwertet.8Darüber hinaus fungierte die Propagierung dieses Begriffs im historischen Kontext einer erneuten offensiven Durchsetzung einer Rolle der

8 Becks (2004) Versuche, diesen Begriff gleichsam zu erden, kommen dabei nicht über eine zivilgesellschaftliche Unterschätzung der auch unter Globalisierungsbedingungen zentralen Rolle von Staatsapparaten und nationalen Identitäten hinaus.

USA als alleiniger Weltmacht als eine propagandistische Weißwäscherei des im-perialen Internationalismus, wie ihn einst Woodrow Wilson propagiert hatte.9

Innerhalb der globalen Linken der letzten 40 Jahre hat dann schon etwa Che Guevara angesichts der Probleme, in die sich der Internationalismusbegriff ver-strickt hatte, mit Vorliebe auf den Begriff der internationalen Solidarität zurück-gegriffen und diesen Begriff zugleich mit dem der Existenz von Menschen in Völ-kern verknüpft: »Die internationale Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker«.

Dieser Ansatz ist innerhalb der unabhängigen Linken dann auch entsprechend breit aufgegriffen worden. Dieser Begriff kann jedoch den des Internationalismus keineswegs ersetzen – jedenfalls so weit er dabei bleibt, einfach nicht auf die Frage einzugehen, wie sich die soziale Befreiungsbewegung grundsätzlich zu Na-tionen und Staatsapparaten verhalten kann oder soll.

Ein weiterer unzureichender Ersatz für den benötigten Begriff ist der des Anti-Imperialismus– der allerdings gleich alle Problematiken der anderen Begriffe teilt10: Außer der klaren Feindperspektive (die allerdings voraussetzt, es sei klar zu identifizieren, was gegenwärtig der Imperialismus ist – gehören etwa Indien oder China schon dazu, oder doch nur die USA und die EU, oder etwa nur die USA?) artikuliert er als solcher einfach gar nichts. Weder ein grundsätzliches Verhältnis zu Staat und Nation – er kann sogar mit der extremen Affirmation beider Hand in Hand gehen, wie immer wieder in Befreiungsnationalismen geschehen –, noch enthält er eine nähere Bestimmung der Herrschaftsverhältnisse, gegen die er zum Kampf aufruft: also die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise, die Herrschaft des Weltmarkt und Staatenkonstellation verknüpfenden Weltsystems oder auch die Herrschaft der immer noch den größten Teil der weltweit gesell-schaftlich notwendigen Arbeit prägenden patriarchalischen Geschlechterverhält-nisse. Es sei denn, er unterstellt ebenso schlicht wie fälschlich, dass jetzt, in unse-rer Gegenwart oder auch seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die Herrschaft des Imperialismus an die Stelle der genannten spezifischeren Herrschaftsverhält-nisse getreten sei.

9 Angesichts der weitgehenden unangefochtenen Hegemonie von dessen Grundvorstellungen über die dem kapi-talistischen Weltmarkt entsprechende politische Ordnung eines Weltsystems der Nationalstaaten, die auch von den realistischen Gegenspielern der sog. idealistischen Wilson-Tradition nicht hinterfragt werden, ist die kriti-sche Auseinandersetzung mit dieser Position bisher nur schwach entwickelt – und wird immer wieder von sou-veränistischen Anwandlungen überlagert, die sich nicht mehr klar von den nationalistischen Kritiken am Ver-sailles-System abgrenzen lassen. Vermutlich wäre es lohnend, Hannah Arendts (1958) ebenso ambitionierten wie problematischen Rekonstruktionsversuch der Ursprünge totaler Herrschaft als einen Beitrag zur Kritik des Wilsonschen Internationalismus neu zu lesen.

10 Verbal funktioniert das noch einigermaßen: »Der revolutionäre Internationalismus im Gegensatz zum Reformis-mus, der sich auf das Nationalinteresse beruft, definiert sich so als AntiimperialisReformis-mus, der den nationalen Be-freiungskampf der unterdrückten Völker (die Frage der Völker des Ostens) mit dem Wohl der sowjetischen Re-volution verbindet, aber auch mit der Aktion der entwickelten Arbeiterbewegung.« (Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, 569). Die Frage, wie dieses harmonische Zusammenwirken erreicht werden kann, wird dadurch aber nicht beantwortet.

Mit der global vernetzten globalisierungskritischen Bewegung ist inzwischen auch die Problematik des Internationalismus erneut konkret aufgetreten und be-grifflich artikuliert worden (vgl. Watermann 1998), ohne dass zuvor die genann-ten Probleme aufgearbeitet worden wären. Das Neue wird dabei immerhin daran deutlich erkennbar, dass er jetzt im Plural auftritt, also ein proletarischer, femini-stischer, bäuerlicher oder auch ein ökologischer Internationalismus unterschieden werden. Aber was das für die Auseinandersetzung mit Staat und Nation bedeutet, wird dabei eben nicht artikuliert. Anstatt sich der Illusion hinzugeben, die Realitä-ten von Staat und Nation könnRealitä-ten im grenzübergreifenden strategischen Handeln einfach ignoriert werden – weil von ihnen keine Störungen emanzipativer Aktio-nen zu erwarten wären oder weil sie ohnehin schon historisch im Verschwinden begriffen sind. Beides ist offenbar so sehr falsch, dass das gerade Gegenteil der Fall zu sein scheint: Auch etwa in den neuen Kriegen seit den 1990er Jahren blei-ben Staaten und Nationen von zentraler Bedeutung.

4.

Die Schranken, die das Wirken von Staatsapparaten und die Effekte nationaler Identitäten jedem grenzübergreifenden emanzipatorischen Handeln setzen, sind real – wenn auch nicht unüberwindlich. Diese Wirkungen und Effekte zu durch-denken, das werden wir noch ganz dringend nachholen müssen. Das Denken ist zwar immer ein schwieriger und schmerzhafter Prozess, aber wer es verweigert, den holen die nicht bedachten Verhältnisse ein.

Ich denke, Étienne Balibar (Balibar, Wallerstein 1989; Balibar 1993) hat einige wichtige Hinweise darauf gegeben, wie an diese Frage kritisch herangegangen wer-den kann: Zum Erstenwird es darum gehen, sich mit dem herrschaftlichen Charak-ter des Staates und seiner Rolle in der Reproduktion von Klassen- (und Geschlech-ter-) Herrschaft kritisch auseinanderzusetzen (Problematik des Absterbens des Staates); zum Zweitenbrauchen wir aber auch einen erneuerten Begriff des politi-schen Gemeinwesens und der konstitutiven Rolle, welche die Menge der Vielen darin unvermeidlich spielt (Problematik der Citizenship/Citoyenneté). Zum Dritten brauchen wir ganz dringend einen Begriff dafür, wie eine grenzübergreifende Hand-lungsträgerschaft, ein nicht-verdinglichtes historisches Subjekt aufgebaut werden kann, das im Ausgang von den wirklichen Verhältnissen die wirkliche Bewegung voranbringen kann, welche diese Verhältnisse in Prozessen der Befreiung verändert, ohne selbst zu einer neuen verselbständigten Gewalt zu werden (Problematik der Diktatur des Proletariats). Hieran wäre zu arbeiten – und zwar nicht nur im Hinblick auf die Kämpfe im Globalen Süden, sondern gerade auch im Hinblick auf trag-fähige Muster und Formen politischer Kämpfe in den Staaten des Nordens.

Damit werden wir aber darauf gestoßen, die Frage ernsthaft zu stellen, was eine den sich global restrukturierenden Herrschaftsverhältnisse wirksam

entge-gentretende Politik hierzulande konstituieren kann – und uns von der ebenso falschen wie bequemen Projektion verabschieden, die Subjekte des Globalen Sü-dens würden das schon für uns erledigen – vor allem wenn wir sie in ihrem inter-nationalistischen Kampf immer kräftig unterstützen. Gerade wenn wir die zu ei-nem neu entfalteten Begriff des Internationalismus in jedem Fall gehörende Forderung der internationalen Solidarität ernst nehmen, dann müssen wir heute vorrangig daran arbeiten, konkret zu bestimmen, wie wir von uns selbst her damit anfangen können – anfangen, nicht dabei stehen bleiben, das ist klar. Aber ein In-ternationalismus, der sich nur als Solidaritätsbewegung für die Kämpfe anderer begreift – und sich nicht den Problemen stellt, vor die uns ein eigener internatio-nalistischer Kampf gerade in Europa (und auch in den USA) heute stellt, wäre nicht einmal ein halber. Er würde die Völker des Südens trotz aller, auch durchaus praktischen Unterstützung, welche hier für sie organisiert wird, im Kernpunkt al-lein lassen: Im Kampf gegen die entscheidende Reproduktionsressource, welche die imperiale Staatsmacht hier, in den eigenen Ländern, immer noch besitzt – nämlich in Gestalt der Bereitschaft gerade auch der abhängig Arbeitenden, in al-len Formen abhängiger Arbeit, an der Reproduktion der bestehenden Herrschafts-verhältnisse immer weiter mitzuwirken.

5.

Wer das nicht angehen will, der sollte gleich zugeben, dass er sich auf Wolf Bier-manns (13.11.1976 in Köln) Stoßgebet der Oma Meume zurückzuziehen gedenkt:

»O Gott, laß DU den Kommunismus siegen […].« Das ist allerdings, im Ernst, die Selbstaufgabe eines Projektes der wirklichen gesellschaftlichen Befreiung – und damit auch die vollständige Preisgabe dessen, was am Begriff des Internationalis-mus bis heute bedenkenswert ist.

Literatur

Arendt, Hannah (1958): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. 2. Aufl. Frankfurt/Main.

Balibar, Etienne (1993): Die Grenzen der Demokratie. Berlin.

Balibar, Étienne; Wallerstein, Immanuel (1989): Rasse, Klasse, Nation. Hamburg.

Beck, Ulrich (2004): Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt/Main.

Held, David (2002): Democracy and the Global Order. Cambridge.

Waterman, Peter (1998): Globalization, social movements and the new internationalisms. London.

Stefan Kalmring, Andreas Nowak

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 62-70)