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Krise der Arbeiterbewegung und gewerkschaftliche Erneuerung

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 86-106)

Kritische Anmerkungen zu den Labor Revitalization Studies1

Arbeiterbewegung – wozu?

Mit sich herausbildender Dominanz der kapitalistischen Produktionsweise und der beginnenden Industrialisierung entstand eine neue gesellschaftliche Gruppe, deren Existenzgrundlage im Verkauf ihrer Arbeitskraft bestand. Die damaligen Bedingungen des Verkaufs und der Anwendung der Arbeitskraft führten aber so-fort zu Verhältnissen, die generell untragbar waren. In vielen Fällen lagen sie wohl jenseits dessen, was sich die BewohnerInnen der heutigen Industrieländer vorstellen können. Im Gefolge bildete sich nach kurzer Zeit – etwa ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – eine Arbeiterbewegung. Deren Entstehung bezeich-nete Michael Vester als »Lernprozeß«. Fülberth veranlasste das zu der Frage, was dabei gelernt wurde? Antwort: Gelernt wurde »nicht, wie der Kapitalismus zu überwinden ist, sondern wie sie [die Arbeiterklasse] in ihm [dem Kapitalismus]

überleben kann« (Fülberth 2005: 172).

Dieser Lernprozess war nicht nur ein Akt mentaler oder physischer Anstren-gung, sondern ein praktisch durchgängig harter Kampf. Zuerst musste gegen die herrschende Klasse und deren Staatsapparat das Recht zur Gründung von Ge-werkschaften sowie das allgemeine Wahlrecht erkämpft werden. Sodann galt dies auch für das, was für das (Über-)Leben selbst notwendig war: erträgliche Arbeits-zeiten und die Existenz sichernde Löhne. Das immer wieder in Erinnerung zu ru-fen, ist schon deshalb wichtig, weil es in Geschichtsbüchern und offiziellen Dar-stellungen gerne ausgespart wird und daher der ständigen Gefahr unterliegt, aus dem kollektiven Gedächtnis zu verschwinden oder besser: dort erst gar nicht hin-einzugelangen.2

1 Für nützliche Hinweise danke ich Martina Wiehler sowie meinen Freunden vom Arbeitskreis Entwicklungstheo-rie: Marco Hahn, Stefan Kalmring, Daniel Kumitz und Andreas Nowak.

2 Das hat eine unmittelbar praktische Konsequenz. In Westdeutschland gab es mit der Gründung der Bundesrepu-blik eine Art Stunde Null: jetzt herrschte soziale Marktwirtschaft und Demokratie, also etwas anderes als Fa-schismus, Kapitalismus, Weimarer Republik, Krieg. Das sogenannte »Wirtschaftswunder« zwischen ca. 1955 und 1975 schien das zu beweisen: eine Phase allgemeinen, spürbaren Wohlstandszuwachses. Dieser Wohlstands-zuwachs war unabhängig von Wahlausgängen, auch sonst ging von (partei-)politischer Seite her kein elementarer Grund zur Politisierung aus, ob (atomare) Wiederbewaffnung, Vietnam-Krieg, 1968er, Radikalenerlass, ökologi-sche Bedrohung, »Volkszählung«, Wiedervereinigung – (negative) Einflüsse auf den individuellen Reichtum und seine Zunahme gingen hiervon nicht aus. Sofern gewerkschaftliche Kämpfe erforderlich waren, handelte es sich – bezogen auf die gesamte Gesellschaft – um begrenzte Phänomene. Diese Situation änderte sich zunächst auch

Allerdings könnte gefragt werden, ob heutigentags eine Arbeiterbewegung noch erforderlich ist, oder ob der Metropolenkapitalismus in seiner heutigen Ge-stalt und angesichts des dort bestehenden Wohlstandsniveaus die Arbeiterbewe-gungen überflüssig werden lässt, deren Krise also keinen Grund zu tieferer Beun-ruhigung liefert. Zugespitzt: Können die ArbeiterInnen ohne Arbeiterbewegung (über-)leben?

In den USA, einem der reichsten Ländern der Erde, heißen die Mindestlöhne

»Living Wage« – hier sagt schon der Name, worum es geht: Es sind die Löhne, die ein (Über-)Leben erst möglich machen.

Werfen wir einen genaueren Blick auf die USA. 1998 lebten 50 Prozent der dortigen Landarbeiter unter der Armutsgrenze. Zwar gab und gibt es einen Min-destlohn, aber der war seit 1980 nicht mehr erhöht worden, in der Folge hatten die ArbeiterInnen erhebliche Reallohneinbußen zu verzeichnen. Die Großabnehmer der Plantagen übten erheblichen Preisdruck aus, den die Plantagenbesitzer weiter-gaben. 1993 entstand in Immokalee in Florida eine Gewerkschaft, die Coalition of Immokalee Workers (CIW). Sie wuchs rasch, und 1998 konnte zumindest ein weiteres Absinken des Reallohns verhindert werden. Danach strebte die CIW eine Lohnerhöhung an. Diese war vor allem gegen Taco Bell durchzusetzen, eine Fast-foodkette mit Filialpräsenz u. a. auf dem Campus-Gelände vieler amerikanischer Universitäten. Dafür konnte Unterstützung gewonnen werden aus anderen Ge-werkschaften, Kirchen sowie von Prominenten, Wissenschaftlern und Studenten.

Druck wurde von dieser Seite vor allem durch den Aufruf zum Boykott ausgeübt.

2005 wurde außerdem eine Protesttour durch die USA durchgeführt. Enden sollte sie in Louisville/Kentucky, dem Sitz der Mutterfirma von Taco Bell. Kurz vor Er-reichen von Louisville ging der Konzern auf die Forderungen der CIW und ihrer UnterstützerInnen ein.

Das Beispiel der CIW (Geiselberger 2007a: 81-84) zeigt, dass dort wo es keine (durchsetzungsfähigen) Gewerkschaften gibt und auch keine institutionellen Sub-stitute wie armutssichernde Mindestlöhne und dergleichen, das (Über-)Leben der ArbeiterInnen bedroht ist. Daran ändert sich unter kapitalistischen Umständen of-fenbar auch dann nichts, wenn der in einem Lande verfügbare Reichtum enorm zunimmt. Um diese Bedrohung zu bannen, also zur Verteidigung und Durchset-zung akzeptabler Lebensgestaltungsmöglichkeiten, sind Arbeiterbewegungen not-wendig – nicht nur heute noch, sondern auch zukünftig.

mit dem Ende des Wirtschaftswunders nicht, sondern dauerte noch bis in die zweite Hälfte der 1990er – in vielen westdeutschen Gegenden währt sie bis heute. Über eine Phase von mindestens 40 Jahren war also für einen großen Teil der Bevölkerung der Wohlstandszuwachs, der weder bedroht noch erkämpft werden musste, nicht nur der – von Ausnahmen durchsetzte – Normalfall, sondern der einzigeFall, den sie kennenlernen konnten: das

»goldene Zeitalter« des Kapitalismus. Dazu kam und kommt nun auch noch der Mangel eines über Printmedien vermittelten Bewusstseins von einer Gesellschaftsordnung, in der ein gutes Leben für die Lohnabhängigen nicht nur nicht per se sichergestellt ist, sondern bedroht ist und ergo kollektiv verteidigt bzw. erkämpft werden muss.

Dieser Hintergrund stellt das Problem dar, vor welchem jeder Versuch einer Verbreiterung der Arbeiterbewegung steht: Unverständnis.

Die Arbeiterbewegung in der Krise

Die Arbeiterbewegung steckt in der schwersten und umfassendsten Krise seit ihrer Entstehung.3

Unter ArbeiterInnen verstehe ich die gesellschaftliche Klasse der Lohnabhän-gigen (Dörre 2007: 55). Unter Arbeiterbewegungwird folgend zunächst »eine or-ganisierte Interessenvertretung der Arbeiter« (Kuhn 2004: 11) verstanden. Hierzu zählen nicht nur Gewerkschaften, sondern auch gewerkschaftlich nicht organi-sierte Betriebsräte und politische Parteien, sofern sie im Interesse der Lohnabhän-gigen agieren. Weiterhin werden Bewegungsformen hinzugerechnet, die sich auf organisierte Weise an den Auseinandersetzungen und Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit beteiligen, dabei jedoch keinen – zumindest keinen expliziten – Vertre-tungsmodus praktizieren. Beispiele hierfür sind Labornet, Rote Hilfe, Attac, Er-werbsloseninitiativen, Sozialverbände, Organisationen wie die »Humanistische Union«, der Chaos-Computer-Club, sowie alle Formen von organisiertem Wider-stand gegen Studiengebühren, Gentrification etc. Drittens schließlich sind Formen von Interessenwahrnehmung mit inbegriffen, die auf wenig organisierter Basis stattfinden; bspw. »wilde Streiks«, (verdeckte) Sabotage.

Eine Krise ist eine Situation oder Phase, in der bis dato stabile Gegebenheiten – Institutionen, Organisationen, Standards o. ä. – durch in Gang gekommene Pro-zesse und Dynamiken in ihrer Form oder Existenz bedroht werden und in der sich entscheidet, ob die bedrohten Organisationen etc. entweder die zerstörerischen Dynamiken stoppen können oder durch Anpassung zu neuer Stabilität finden oder bedeutungslos werden bzw. verschwinden.4

Im hier behandelten Zusammenhang zielt der Begriff Krise auf zwei Ebenen. Auf der Erscheinungsebene geht es um Reallohnverluste für die unteren Einkommens-klassen, den Trend der Arbeitszeitverlängerung, die Verschlechterung der Arbeitsbe-dingungen, die Individualisierung von Gesundheitskosten, Rentenkürzungen, Studi-engebühren, Kürzung der öffentlichen Ausgaben für Kultur, Bildung, Infrastruktur, usw. Es handelt sich hier um die Zunahme der Ungleichverteilung von Reichtum und Lebensgestaltungsmöglichkeiten in einer Breite und in einem Ausmaß, wie es sie seit der Entstehung der Arbeiterbewegung nicht gegeben hat.

Hinter dieser Erscheinungsebene stecken verschiedene Felder, die diese Ent-wicklung nicht aufzuhalten vermögen. Von der umfassendsten Krise spreche ich, weil die Schwäche der Arbeiterbewegung auf vier wichtigen Feldern gleichzeitig

3 Das Insistieren auf der schwersten und umfassendsten Krise hat zwei Gründe. Es soll erstens vor dem Hinter-grund der eben skizzierten Überlebensnotwendigkeit zur solidarischen Teilnahme an Kämpfen motivieren; zwei-tens soll deutlich werden, dass es offen ist, in welcher Form und in welcher Stärke die Arbeiterbewegungen und deren Kämpfe zukünftig stattfinden werden.

4 »Der Begriff ›Krise‹ wurde ursprünglich dem medizinischen Sprachgebrauch entnommen: dort bezeichnet er den Umschlagspunkt einer Krankheit: entweder zum Exitus oder zur Heilung.« (Fülberth 2008: 54, vgl. dazu auch Duden 1989: 388 f.; Negt 2004: 19 f.).

stattfindet: auf dem Feld der Organisationen,5der Institutionen,6dem Feld der ArbeiterInnenkämpfe7und auf konzeptionell-wissenschaftlichem Gebiet.8Ein weiteres wichtiges, hier aus Platzgründen nur zu nennendes Feld ist das der Ge-sinnungen.

Der These der schwersten Krise könnte widersprochen werden mit dem Ver-weis auf die Bedrohung und die faktischen Schäden, die der Arbeiterbewegung durch die Zerschlagung durch faschistische Regime und durch stalinistischen Ter-ror und Unterdrückung im 20. Jahrhundert entstanden sind. Tatsächlich sind die Organisationen und die Institutionen der Arbeiterbewegung in Ländern mit faschistischer Herrschaft z. T. vollständig zerschlagen worden und der konzeptio-nell-wissenschaftliche Bereich wurde durch physische Vernichtung von sozialde-mokratischen, sozialistischen und kommunistischen Intellektuellen und Wissen-schaftlern, deren Flucht oder innerer Immigration irreparabel geschädigt. Dies waren allerdings räumlich und zeitlich begrenzte Erscheinungen. In den USA, England und Skandinavien blieben faschistische Strömungen marginalisiert und es setzte sich eine New-Deal-orientierte Politik mit einer auf Integration und

Assi-5 Unter Organisation verstehe ich Apparate, die aus über finanzielle und materielle Ressourcen disponierenden Funktionären bestehen. Die Krise der Gewerkschaftenbesteht zunächst darin, dass sie »in fast allen Industrie-staaten unter teils drastischen Mitgliederverlusten« leiden (Hälker, Vellay 2006: 13; genaue Zahlen: Brinkmann u. a.

2008: 21 f.; Kim 2008: 52; für die USA: Atkinson 2004: 121). Dadurch reduzieren sich die den Apparaten zur Verfügung stehenden Ressourcen, in deren Folge die Durchsetzungsfähigkeit sinkt. Seitens der Parteiengeht es hier um die Rolle der vormals sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien. Die Krise besteht hier darin, dass diese Parteien, sobald sie in Regierungsverantwortung kamen, per Adaption neoliberaler Politiken auf die Seite des Kapitals gewechselt haben: »Die staatlichen Politiken stellen sich in zwar unterschiedlicher Intensität, aber ausnahmslos, in den Dienst der Wettbewerbslogik des Kapitals« (Hälker, Vellay 2006: 13).

6 Hierunter fallen alle Institutionen und Regelungen, die Teilhaberechte und Lebensgestaltungsmöglichkeiten si-cherstellen oder überhaupt erst ermöglichen, insbesondere also Sozialstaat, Steuersystem, Mitbestimmung, Tarif-verträge, Streikrecht, Zugang zum Bildungssystem und zu Kultur usw.: »Die Teilhaberrechte der Arbeitnehmer sollen auf einen Stand zurückgedreht werden, von dem die Arbeiterbewegung vor über hundert Jahren ausgegan-gen ist.« (Negt 2004: 16)

7 Silver hat die Anzahl der weltweiten kollektiven Arbeiterunruhen zwischen 1870 und 1996 gemessen. Ihr Begriff der Arbeiterunruhe umfasst »im wesentlichen die Akteure, die sich gegen die Auswirkungen des zunehmenden Warencharakters ihrer Arbeitskraft wehren.« (Silver 2005: 226) Das Konzept der Re-Kommodifizierung (com-modity=Ware) ist eine Erweiterung des Marx’schen Konzepts der Ware Arbeitskraft. Bei Marx impliziert es den – mangels Alternativen – Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft. Die Stärke dieses Zwangs variiert allerdings. Sie ist abhängig von der gesamtwirtschaftlichen Konstellation, aber auch vom Ausgang der konkreten Kämpfe zwi-schen Kapital und Arbeit sowie von Art und Ausmaß staatlicher Regelungen/Institutionen (bspw. Arbeitslosen-geld). Nimmt der Zwang zu, wird von Re-Kommodifizierung gesprochen, im umgekehrten Fall von De-Kommo-difizierung. Silvers Messungen zufolge ist die Anzahl der Arbeiterunruhen – gegen die Re-Kommodifizierung – seit Beginn der 1980er Jahre in den Metropolenstaaten, aber auch weltweit, auf ein mittlerweile historisches Tief gefallen (s. Anhang 1). Weitere quantitative Aspekte lassen ebenfalls den Schluss zu, dass der aktuelle Rückgang der schwerste seit der Entstehung der Arbeiterbewegung ist (s. Anhang 2).

8 Es geht hier um die Diskrepanz zwischen dem zunehmenden Reichtum in den Gesellschaften des Westens (und durchaus auch in den früheren staatssozialistischen Ländern) bei gleichzeitig zunehmender Armut der minstens unteren Schichten der Klasse der Lohnabhängigen bzw. der Zunahme sozialer Unsicherheit, angesichts de-rer es der »wissenschaftlich gestützten Sozialkritik nicht [gelingt], eine Entwicklung einzudämmen, ›die sich vor allem für diejenigen negativ auswirkt, die ohnehin über die geringsten (wirtschaftlichen, schulischen, sozialen) Ressourcen verfügen‹« (Boltanski, Chiapello 2003: 309, zit. in: Brinkmann u. a. 2008: 146 f.). »Aus der Diagnose von Boltanski und Chiapello folgt, dass sich Gewerkschaften und kritische Sozialwissenschaften in einer wech-selseitigen Abhängigkeit befinden« (ebd.: 147).

milation der Arbeiterbewegung zielenden Politik durch.9Das Entscheidende ist aber, dass es dem Faschismus in Deutschland nicht gelang, auf dem Feld der Ge-sinnungen der älteren Arbeitergeneration umfassende Erfolge zu erzielen.10Die Erfahrungen während des Faschismus führten zudem dazu, dass sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in großen Teilen des nicht sowjetisch besetzten Euro-pas der »reformistische Sozialismus […] auf dem Vormarsch befand« (Abendroth 1972: 157).11

Die Krise der Arbeiterbewegung und die damit verbundenen Umbrüche werfen Fragen nach den Gründen, den Handlungsmöglichkeiten und den potentiellen weiteren Entwicklungen auf. Versuche der Beantwortung werden auch im wissen-schaftlichen Bereich unternommen, die international wahrscheinlich wichtigste Forschungsrichtung stellen die (in der BRD bisher allerdings eher wenig umfäng-lichen12) »labor revitalization studies« (folgend: LRS) dar.13

9 Allerdings muss insbesondere für die USA und England nachdrücklich vor einem zu idealisierten Verständnis ge-warnt werden. In den USA blieb die seitens der Politik gewährte Integration von vorne herein begrenzt, ihr Zweck war es, »den wachsenden Einfluss des linken Radikalismus in der Arbeiterschaft« einzudämmen (Nichol-son 2006: 236), und trotzdem der New Deal auch für die Kapitalseite eine »heilsame Medizin« darstellte, war er

»den Kapitaleignern« und der »Unternehmerschaft« »verhasst« (ebd.: 233; s. zum Thema New Deal ausführ-licher auch ebd.: 233-273 und Brecher 1975: 137-192). »Die britische konservative Regierung [unter Stanley Baldwin ab 1935 – O. G.] wünschte, unter allen Umständen eine ernsthafte Schwächung der faschistischen Mächte zu verhindern, für sie war ein Sieg der Linken auf dem europäischen Kontinent das größere Übel.«

(Abendroth 1972: 134; zur Politik der Vorgänger-Labor-Regierung s. ebd.: 111-113, 120 f., zur englischen Wirt-schaftspolitik zwischen 1930-1940 s. Youngson 1980: 148-154; zur Einrichtung »kooperativer Beziehungen«

zwischen Gewerkschaften und »Arbeitgebern« in Schweden und Norwegen s. Oehlke 2007: 84; zu den politi-schen Kräfteverhältnissen in Skandinavien s. Abendroth 1972: 140 f.).

10 Die strategische Bedeutung des »Kampfes um die Köpfe« hatten die Faschisten klar erkannt: »Wenn die Propa-ganda ein ganzes Volk mit einer Idee erfüllt hat, kann die Organisation mit einer Handvoll Menschen die Konse-quenzen ziehen« (Hitler 1924). Zwar »fand die faschistische Ideologie […] vor allem Eingang in die Arbeiterju-gend« (Harrer 1977: 231). »Dagegen gelang es dem Faschismus trotz vielfältiger Bemühungen in der Regel nicht, die ältere Arbeitergeneration, deren politische Erziehung sich noch unter dem Einfluß der legalen Arbeiter-organisationen vollzogen hatte, zu gewinnen« (ebd.: 232).

11 Einerseits empfanden »große Teile der Bevölkerung […] die Befreiung von der faschistischen Herrschaft als Niederlage.« (Weiß-Hartmann, Hecker 1977: 272) Allerdings wurde die Kapitalseite »in weiten Kreisen der Be-völkerung« für den Faschismus »mitverantwortlich gemacht« (ebd.: 277). »Nie wieder Krieg! Nie wieder Fa-schismus! – das waren Parolen, die die politische Struktur der Gesellschaftsordnung verändern wollten« (Negt 2005: 56). Dem lag die Überzeugung zu Grunde, »daß Kapitalismus und Demokratie langfristig miteinander un-vereinbar sind« (ebd.) Es war eine »Situation, in der selbst in bürgerlichen Kreisen im Sozialismus die einzige Ordnung gesehen wurde, in der Frieden, humane Werte und Kultur sowie Demokratie gesichert sein würden«

(Demiroviç 2008: 387; s. dazu auch Weiß-Hartmann, Hecker 1977: 290-292). »Die Marshall-Plan-Hilfe […]

wurde jedoch nur um dem Preis des Verzichts auf sozialistische Planwirtschaft gewährt« (Abendroth 1972: 159).

12 Siehe Urban 2008: 8.

13 Hälker, Vellay (2006) enthält eine gut strukturierte Auswahl von ursprünglich meist englischen, ins deutsche übertragenen, zusammengefassten und kurz kommentierten LRS-Texten. Einen monographischen Überblick über den Stand der LRS sowie den Umriss eines Forschungsprogramms für die BRD liefern Brinkmann u. a.

(2008).

LRS – Kritikpunkte am Stand eines Forschungsprogramms

Primärer Untersuchungsgegenstand der LRS sind Handlungsstrategien und Pra-xen, mit denen die Gewerkschaften seit einigen Jahren auf ihre Krise reagieren14:

»Aufgabe einer zeitgemäßen Forschung wäre es, innovative Strategien zu identi-fizieren und die Bedingungen, die für Erfolg oder Misserfolg ausschlaggebend sind, herauszuarbeiten.«15(Brinkmann et al. 2008: 65)

Die international bekannteste, weil am häufigsten – und zum Teil mit beachtli-chen Erfolgen – praktizierte und daher am meisten diskutierte Strategie ist das Organizing. Nicht ganz so verbreitet und etwas weniger diskutiert wird über den Social Movement Unionism.

Beide Ansätze werden folgend umrissen, um davon ausgehend einige Problem-punkte der LRS verständlich machen zu können.

Versuche gewerkschaftlicher Erneuerung:

Organizing und Social Movement Unionism

Beim Organizing handelt es sich um eine Strategie, die mittlerweile nicht nur in Metropolenländern, sondern auch in (Süd-Ost-)Asien und Lateinamerika prakti-ziert wird (Brinkmann et al. 2008: 72). Da die konkreten Maßnahmen an die

»Vielfalt länderspezifischer Arbeitsbeziehungssysteme« angepasst werden, »kann von einem festen Set an Konzeptionen und Instrumenten […] keine Rede sein.

Die Frage, was eigentlich unter organizing zu verstehen ist, wird dementspre-chend in der Literatur höchst unterschiedlich beantwortet.« (Ebd.)

Analytisch lassen sich dennoch drei Organizing-Bestandteile bzw. drei Be-standteile gewerkschaftlicher Erneuerung unterscheiden:

Mitgliederrekrutierung

»Organizing bezeichnet die systematische Mitgliedergewinnung für die Gewerk-schaftsorganisation.« (Hälker, Vellay 2006: 159, Fn. 144) Als Ursprungsland gel-ten die USA. Hier gründete 1985 der amerikanische Gewerkschaftsdachverband

»Organizing-Institute, an welchem Mitglieder speziell in Methoden der Mitglie-dergewinnung ausgebildet wurden« (Singe 2006: 165). Der australische Gewerk-schaftsverband begann Mitte der 1990er mit ähnlichen Bemühungen (Crosby 2007, Kim 2008: 55), und mit der »Organising Academy« zogen 1998 die

engli-14 Die LRS sind auf die Gewerkschaften konzentriert, haben also einen im Vergleich zur eben umrissenen Krise der Arbeiterbewegung, also Gewerkschaften undArbeiterparteien, engeren Fokus. Diese Konzentration ist legitim, es wird aber zu fragen sein, an welchen Stellen damit Probleme verbunden sind.

15 Die folgenden Ausführungen beziehen sich – vor allem auch mit ihrer Kritik – primär auf die Studie von Brink-mann et al. Diese ist die bislang einzige, die einem zusammenfassenden, kritischen Überblick liefert und sich zu-dem zu den strategischen Perspektiven zukünftiger Forschung äußert. Die Kritik hat ihren Grund also keinesfalls in der Schwäche dieser Studie, im Gegenteil: für eine Beschäftigung mit den LRS ist Brinkmann et al. (momen-tan – Dezember 2008) die erste Adresse.

schen Gewerkschaften nach (Hälker, Vellay 2006: 160; Singe 2006a), »Die Auf-gabe eines Organisers besteht […] in der schnellen, direkten – und notwendigen – Rekrutierung neuer Mitglieder« (Kim 2006: 171).

Der Grund für die Mitgliedergewinnung liegt auf der Hand: »Die Mitglieder-entwicklung ist für jede Organisation eine entscheidende Größe. An ihr entscheiden sich Finanzkraft, Strukturen und ihre Bedeutung.« (Wetzel u. a. 2008: 20) »Weniger Mitglieder zu haben, heißt, dass die Gewerkschaft weniger Geld hat, um ihre Ar-beit zu erledigen« (Crosby 2007: 119).

Herstellung bzw. Erhöhung der Streikfähigkeit durch Aktivierung von Mitgliedern und Beschäftigten bei damit einhergehender Relativierung des Stellvertreterprinzips In den USA wurden die ehrgeizigen Ziele der Mitgliedergewinnung i. e. S. bald um eine weitere Komponente ergänzt. Angestrebt wurde jetzt ein »Wandel weg von der stellvertretenden Interessenvertretung durch den Gewerkschaftsapparat hin zu einer Art ›Hilfe zur Selbsthilfe‹« (Singe 2006: 165). Es geht darum, »Be-schäftigte zu unterstützen, ihre Rechte selbstin Anspruch zu nehmen und am Ar-beitsplatz zu einem selbstbewusst handelnden Subjekt zu werden« (Wetzel u. a.

2008: 9; Herv. i. O.) »mit dem Ziel des Aufbaus kollektiver Verhandlungsstärke«

(Dribbusch 2008: 18), was vor allem bedeutet, die »KollegInnen in den Betrieben […] zu streikbereiten Belegschaften zu entwickeln« (Hälker 2008a: 5).

Herstellung von Öffentlichkeit, Koalitionsbildung mit anderen Akteuren

Dieses Modell firmiert in der Literatur unter dem Namen »Social Movement Unionism« (SMU). Indem die »Öffentlichkeit mittels gemeinsamer Kampagnen in Arbeitskämpfe und Tarifauseinandersetzungen« einbezogen wird, wird das Ter-rain der Auseinandersetzung von der betrieblichen Ebene auf die gesellschaftspo-litische Ebene ausgedehnt (Hälker, Vellay 2006: 219; Meyer 2006: 233; Drib-busch 2008: 19). Um die Durchsetzungsfähigkeit zu erhöhen, wird dazu wenn möglich, Druck ausgeübt »auf die gesamte Vielfalt von Außenbeziehungen eines Unternehmens von der Endverbraucherin bis zum Aktionär« (Meyer 2006: ebd.;

Matrai, Wohland 2008: 51). Nicht immer zielen die Aktionen auf »nur« einzelne Unternehmen oder Branchen. In den USA gab es bereits mehrere Koalitionen, de-ren Kampagnen gesetzliche Mindestlöhne bzw. dede-ren Erhöhung erkämpfen konn-ten (Turner 2004: 102 f.; Gerlach 2006: 223; Hälker, Vellay 2006: 217).

Die zuweilen ventilierte Frage, ob es sich bei den genannten Bestandteilen bzw. Modellen um »wirklich« etwas Neues oder nur um Neuauflagen des alten

»political unionism« handelt (Brinkmann u. a. 2008: 85, Dörre 2008: 5), ist nicht

»political unionism« handelt (Brinkmann u. a. 2008: 85, Dörre 2008: 5), ist nicht

Im Dokument Rosa-Luxemburg-StiftungTexte 58 (Seite 86-106)