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Stand der Forschung, Forschungsrichtungen und Desiderate

Im Folgenden soll daher ein detaillierter Überblick über den Stand der Forschung zur Rolle der NATO im griechisch-türkischen Konflikt auf Basis der bisher veröf-fentlichten Literatur gegeben werden. Im Kern der Betrachtung stehen dabei fol-gende Leitfragen:

Wie ging die NATO mit jenem Konflikt im östlichen Mittelmeer um? Welche Rolle spielte der Nordatlantikpakt in der griechisch-türkischen Auseinanderset-zung als mögliche regulierende, friedensstiftende Instanz? Welchen Einfluss und welche Mittel besaß das westliche Sicherheitsbündnis, um jene spannungsgela-dene Krise zu entschärfen, die sich in der Ägäis und auf Zypern abzeichnete? In-wieweit war das Bündnis hierbei erfolgreich? Wo zeigten sich Schwachstellen bei der Eindämmung des Konflikts? Handelte die Nordatlantische Allianz überhaupt als Bündnis, oder nur als verlängerter Arm der nationalen Politik einzelner Bünd-nismitglieder? Wie wirkte sich der Konflikt im Gegenzug auf die strukturelle In-tegrität und äußere politische Handlungsfähigkeit der NATO aus?

Die internationale Forschung zur Beleuchtung des Konflikts als Auseinander-setzung zweier Bündnismitglieder der NATO zeichnet sich durch

unterschiedlich-ste Veröffentlichungen von Politologen, Soziologen, ehemaligen Diplomaten und einzelnen Historikern aus. Ebenso vielfältig präsentieren sich aber auch deren For-schungsrichtungen und Betrachtungsweisen des Konflikts:

Matthias Dembinski (2006), Hakan Akbulut (2005), Victor Papacosma (2001) und der ehemalige US-Diplomat Monteagle Stearns (1992) analysieren die Rolle des Nordatlantischen Bündnisses unter dem Aspekt ihrer Eigenschaft als Schlich-tungs- und Vermittlungsinstanz ohne spezielle räumliche und zeitliche Eingren-zung11. Die Monografie von Stearns nimmt in diesem Kontext eine Sonderrolle ein, da der Autor primär den Umgang des US-State Department mit dem Konflikt ana-lysiert, jedoch eine enge Verstrickung zwischen NATO- und US-Politik erkennen lässt. Mit Ausnahme Dembinskis schreiben sämtliche Autoren der Allianz zumin-dest in Ansätzen bescheidene Erfolge zu. Dembinski und Akbulut greifen dabei teilweise auch auf Modelle der Institutionentheorie zurück12. Eine Untersuchung des Themas unter besonderer Berücksichtigung der allgemeinen Wirksamkeit in-ternationaler Institutionen auf Frieden und Sicherheit findet sich bei Ronald Krebs (1999) sowie auch in der relativ neuen, aber unveröffentlichten Studie von Aydin Umut (2001)13.

Tarik Oguzlu (2004), Fotios Moustakis (2003), Argyrios Pisiotis (1993) und Yor-gos Kourvetaris (1988) verfügen über eine sehr kritische Meinung über den Um-gang des NATO-Bündnisses mit dem Konflikt an seiner Südostflanke14. Der türki-sche Autor Oguzlu wirft der Allianz vor, in der Konfliktbewältigung weitgehend untätig geblieben zu sein, solange kein offener Krieg zwischen den beiden Wider-sachern ausgebrochen sei. Moustakis, Pisiotis und Kourvetaris vertreten hingegen die auffallend nationalistisch geprägte Meinung, das Bündnis habe den Konflikt mit Billigung und materieller Unterstützung des expansionistischen Strebens der Türkei nicht nur toleriert, sondern zumindest indirekt auch angeheizt. In diesem Zusammenhang neigen die vier Autoren dazu, die außenpolitischen Handlungen Ankaras und deren ungünstige Entwicklungen für Griechenland der NATO anzu-lasten. Pisiotis geht noch einen Schritt weiter, indem er der Allianz sogar die Ver-antwortung für die fehlgeleitete griechische Innenpolitik und der daraus resultie-renden jahrelangen Diktatur zuschreibt15.

Das Forschungsinteresse am Zypernkonflikt in Verbindung mit der NATO fand in den 1990er Jahren seinen Schwerpunkt. Claude Nicolet (2001) Winfried Heine-mann (1998), Robert Holland (1995), Joseph S. Joseph (1993) und auch Philip Wind-sor (1964) befassen sich innerhalb des vorliegenden Forschungsgegenstandes mit dieser Thematik16. Heinemann und Holland behandeln die Frühphase der Entste-hung des Konflikts in den 1950er Jahren und zeigen die Schwierigkeiten des Bünd-nisses auf, als gemeinsame Allianz in dieser Binnenkrise überhaupt handlungsfä-hig zu werden. Bei Nicolet und Joseph steht der Versuch der Schaffung einer Friedenstruppe aus den NATO-Mitgliedsstaaten während der zweiten großen Zy-pernkrise im Jahre 1964 im Vordergrund. Windsor beleuchtet hingegen stärker die Vermittlungsversuche der NATO zwischen der griechischen und der türkischen Streitpartei. Seine Veröffentlichung stellt durch ihre zeitliche Nähe zu den Gescheh-nissen des Jahres 1964 einen Sonderfall dar.

Einen ähnlichen Charakter wie Windsors Veröffentlichung besitzen auch die zeitgenössischen sicherheitspolitischen Studien der 1980er Jahre. James Brown (1991), Richard Haass (1988), Robert McDonald (1988), Kenneth Mackenzie (1983) und Frank Church (1980) zeigen hier insbesondere die Rückwirkungen und Ge-fahren des Konflikts für die militärische Funktionsfähigkeit des Bündnisses auf17.

Haass beleuchtet darüber hinaus die Türkei als Problemfaktor für die Nordatlan-tische Allianz außerhalb des griechisch-türkischen Konfliktfeldes.

Die Dissertation von Dionysios Chourchoulis (2010) nimmt in der bisherigen Forschung eine Sonderrolle ein18. Chourchoulis greift unterschiedliche Elemente der ersten drei genannten Forschungsströmungen auf, gelangt aber teilweise zu abweichenden Schlussfolgerungen, weshalb er keiner einzelnen Richtung zuge-ordnet werden kann. Inhaltlich stellt der Autor die Stabilität der Südflanke der NATO in den 1950er Jahren in den Kern seiner Betrachtung. Seiner Auffassung nach soll das Nordatlantische Bündnis zwar nur indirekt, mit Blick auf den grie-chisch-türkischen Binnenkonflikt aber insgesamt stabilisierend gewirkt haben.

Während die Analyse des politischen Umgangs der Nordatlantischen Allianz mit den Spannungen an ihrer Südostflanke in der Literatur auf vielfältige Weise behandelt wird, stellen die Maßnahmen der Krisenbewältigung auf der militäri-schen Ebene der NATO-Stäbe und Hauptquartiere, mit Ausnahme der sporadi-schen Erwähnung vereinzelter Initiativen auf der Führungsebene des SACEUR (Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Europa), ein weitgehendes For-schungsdesiderat dar. Zwar findet sich bei mehreren Autoren die eine oder andere Erwähnung19. Eine fundierte Analyse fehlt jedoch bis heute. Gleiches gilt für die Frage, ob überhaupt von einem eigenständigen Agieren des Bündnisses gespro-chen werden kann, oder die NATO in der griechisch-türkisgespro-chen Frage nicht viel-mehr zu einem Erfüllungsorgan nationalstaatlicher, interessengeleiteter Politik ein-zelner Mitglieder geworden sei.

In der Forschung über die Rückwirkungen des Konflikts auf die Allianz ver-hält es sich nahezu umgekehrt. Deren Schwerpunkt liegt in erster Linie auf den Folgen für die militärische Funktionsfähigkeit, während mögliche Auswirkungen auf die äußere politische Handlungsfähigkeit der westlichen Sicherheitsgemein-schaft weitgehend unerforscht sind. Mit Ausnahme von Stearns und Heinemann haben sich nur die erwähnten Autoren der 1980er Jahre, allen voran Haass, McDo-nald, Mackenzie sowie in Ansätzen auch James Brown und Heinz-Jürgen Axt an-satzweise mit der generellen Frage der Konsequenzen für das Bündnis befasst20. Seit dem Jahr 2000 ließen zwar Dembinski, Papacosma, Oguzlu und auch Mousta-kis einige Randbemerkungen in ihre Studien einfließen21. Diese beziehen sich aber meist auf die erwähnten älteren Autoren, ohne neue Forschungserkenntnisse zu präsentieren.

Die Forschungsliteratur zu Haltung und Politik der Sowjetunion gegenüber der NATO-internen Auseinandersetzung beschränkt sich ebenfalls nur auf wenige Ver-öffentlichungen. Die Rolle Moskaus sollte insofern nicht unterschätzt werden, als diese unter Umständen einen nicht zu unterschätzenden Gradmesser für die Be-einträchtigung des äußeren politischen Zusammenhalts der westlichen Allianz ver-körpern kann. Sowohl der griechisch-türkische Konflikt selbst als auch mögliche Zielsetzungen oder Versuche der UdSSR, die NATO durch Anheizen der Ausein-andersetzungen oder mittels Einflussnahme im UN-Sicherheitsrat zu destabilisie-ren, wurden bisher nur marginal behandelt. James Brown (1991) widmet den all-gemeinen sowjetischen Zielen im Mittelmeerraum ein gesamtes Kapitel, ohne aber dabei zum Binnenkonflikt des westlichen Sicherheitsbündnisses Bezug zu neh-men22. Gleiches gilt auch für die Aufsätze von Lawrence Kaplan (1985) und Tho-mas Etzold (1985)23. Monteagle Stearns (1992) beschreibt die Politik Moskaus ge-genüber Ankara und Athen, widmet dem griechisch-türkischen Konflikt an dieser Stelle jedoch nur sekundäres Interesse24. Heinz Richter (1987) hat die Haltung der

Sowjetunion zur griechisch-türkischen Auseinandersetzung zwar auf wenigen Sei-ten angerissen25. Jedoch lassen ausschließlich Christos Kassimeris (2010) und Dio-nysios Chourchoulis (2010) einen vagen Ansatz erkennen, in direktem Bezug zum Binnenkonflikt der westlichen Allianz eine politische oder militärische Zielsetzung der UdSSR zu rekonstruieren26. Die Forschungslücke ist hier umso augenfälliger, als allein in den gedruckten französischen Documents Diplomatiques Français, teilweise aber auch in den deutschen Akten zur Auswärtigen Politik Quellen zur sowjetischen Haltung veröffentlicht wurden27.