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»Militärische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit«.

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Marie-Christin Lux und Philipp Schulte

»De l’État-Nation à l’Europe. Histoire du ministère de la Défense et des armées en France et en Allemagne aux XIXe et XXe siècles«.

Tagung des Deutschen Historischen Instituts Paris (DHIP), des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) und des Institut de Recherche Stratégique de l’École Militaire (IRSEM), 20. Juni 2011 in Paris

Auch die Militärgeschichte profitiert mittlerweile von dem wachsenden Interesse der allgemeinen Geschichtswissenschaft an »transnationalen« Perspektiven und überwindet die traditionell nationalstaatliche Fokussierung auf das eigene Militär.

Die europäische und transatlantische Kooperation des Militärs – man denke nur an das Eurokorps, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU und die Diskussion über eine Europaarmee sowie an die zahlreichen multinatio- nalen militärischen Interventionen seit den 1990er Jahren – bilden den aktuellen sicherheitspolitischen Hintergrund für eine grenzüberschreitende Militärge- schichte.

Für die Veranstalter der Tagung »De l’État-Nation à l’Europe. Histoire du minis- tère de la Défense et des armées en France et en Allemagne aux 19e et 20e siècles«

ist eine solche Erweiterung des Untersuchungsfeldes kein Neuland. Im Rahmen der jährlichen binationalen Veranstaltungsreihe der »Rencontres franco-allemandes d’histoire militaire« organisierten das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA), vertreten durch Jörg Echternkamp, das französische Institut de Recherche Stratégique de l’École Militaire (IRSEM, vormals Centre d’études d’histoire de la défense, CEHD), vertreten durch Hervé Drévillon und Thierry Widemann, sowie das Deutsche Historische Institut Paris (DHIP), vertreten durch Stefan Martens, bereits zum siebten Mal eine die Grenzen der nationalen Militärgeschichte überschrei- tende Tagung1. Das diesjährige Thema ergab sich aus den am MGFA und IRSEM laufenden Projekten zur Europäischen Militärgeschichte beziehungsweise zur Ge- schichte des französischen Verteidigungsministeriums. Die Referenten, neben His- torikern auch Politikwissenschaftler sowie der ehemalige Chef des militärischen Stabes der EU, thematisierten in einem Längsschnitt von mehr als 200 Jahren zen- trale Probleme der Interdependenz von militärischer Institutionalisierung und Multinationalität. In methodischer Hinsicht ging es um Fragen der kulturellen Transferforschung und einer möglichen »histoire croisée« zwischen den europäi- schen Nationalstaaten am Beispiel der Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich.

In den einleitenden Worten stellten Stefan Martens und Hervé Drévillon das neu gegründete französische IRSEM vor, das die Arbeit des CEHD im interdiszi- plinären Rahmen weiterführt. Eine Aufgabe des Instituts liege darin, so Drévillon, der aktuellen Forschung neue Impulse zu geben, nicht zuletzt durch internatio- nale Kooperationsveranstaltungen wie die »Rencontres franco-allemandes d’histoire militaire«. Auch dieser Tagung liege daher ein auf Interdisziplinarität und Transnationalität zielender Ansatz zugrunde. Die Diskussion über die Ver- flechtungen und das Zusammenspiel von administrativen und militärischen Struk-

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turen umfasse die verschiedenen Untersuchungsebenen Staat, Nation und Terri- torium und stelle somit eine nationalstaatlich verengte Perspektive infrage.

Doch welche Bedeutung kam dem Nationalstaat für die Konstitution der Ar- mee zu? Wie definierte sich diese Rolle innerhalb eines Vielvölkerstaates? Mit die- ser Problematik setzte sich Christine Lebeau (Paris, Frankreich) anhand der Habs- burgermonarchie auseinander und präsentierte ein modifiziertes Modell der Nationalarmee. Aufgrund der multiethnischen Struktur der Österreichisch-Unga- rischen Doppelmonarchie habe sich das Verwaltungshandeln vervielfacht. Insbe- sondere die Militärgeschichte könne daher nicht im nationalen Rahmen gedacht werden. Auch die »Bewaffnete Macht« des Habsburgerreiches sei eine multinatio- nale Organisation gewesen, deren Verwaltung auf Reichsebene der Hofkriegsrat übernommen habe; so seien nationale Verwaltungsorgane verdrängt worden. Diese übergreifende Perspektive sei, resümierte Lebeau, noch in einem weiteren Schritt sichtbar: dem Streben nach dem Zusammenschluss von Militär und ziviler Ebene zu einem über die nationalen Grenzen hinaus Wissen produzierenden Staat.

Mit der Konstitution einer über das Gebiet des Nationalstaates hinausreichen- den Armee beschäftigte sich auch Tanja Bührer (London, Großbritannien). Sie pro- blematisierte in ihren Ausführungen zur Funktion und Verwaltung der kolonialen

»Schutztruppen« des deutschen Kaiserreiches die Integration der im Zuge der kolo- nialen Erwerbungen Mitte der 1880er Jahre neuformierten Truppen in das beste- hende militärische und politische System. Aufgrund der einseitigen Konzentra- tion der militärischen und politischen Ressourcen auf das Gebiet des Nationalstaates, die mit der notwendigen Sicherung der Position des Kaiserreiches in Europa be- gründet wurde, hätten die Schutztruppen nur eine Nebenrolle gespielt. Zudem nahmen diese institutionell eine Sonderstellung ein. Anders als die bestehende Ar- mee unterstanden die Kolonialtruppen dem Reichsmarineamt und somit direkt dem Reichskanzler, was einen Bruch mit dem bisherigen Prinzip des preußischen Militarismus bedeutete. Bührer wies in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Haltung der militärischen Eliten hin, die einer solchen Sonderstellung entschie- den entgegentraten und forderten, die »Schutztruppen« in koloniale Polizeieinhei- ten mit zivilem Status umzuwandeln. Neben der administrativen Diskrepanz zeigten sich laut Bührer vor allem in der Zusammensetzung der Truppen Unter- schiede zum Deutschen Heer des Kaiserreiches. Anders als diese versammelten die sogenannten Schutztruppen deutsche Soldaten und afrikanische Söldner. Ihre sowohl institutionelle als auch personelle Sonderstellung hätten diese »Schutztrup- pen« erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts verloren, als sie im Zuge vermehrter mi- litärischer Interventionen auf kolonialem Territorium immer weiter in das deut- sche Militär integriert worden seien.

Mit der Institutionalisierung verschiedener Truppengattungen innerhalb des Militärs beschäftigte sich auch Philippe Vial (Vincennes, Frankreich). Dazu griff er auf das Beispiel der französischen Marine zurück, die sich anfangs nicht als rein militärische Truppengattung verstanden habe. Dies liege unter anderem daran, dass Frankreich als eine traditionelle Kontinentalmacht den Schwerpunkt der mili- tärischen Anstrengungen auf seine Armee gelegt habe. Die Marine sei im Vergleich zu anderen Truppengattungen vernachlässigt worden. Trotzdem habe sich die Ma- rine in Frankreich selbst als Avantgarde verstanden, da nur sie global agieren und so den Weltmachtanspruch Frankreichs bereits vor dem Kolonialzeitalter sicher- stellen könne. Ihr vermindertes militärisches Prestige habe die Marine durch ihre Bedeutung für den französischen Merkantilismus (»Colbertismus«) ausgeglichen.

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So habe sich ihr Selbstbild vor allem auf ihre zivile Funktion als Handelsmarine gestützt. Diese nicht-militärische Selbstdarstellung – sichtbar an ihren Symbolen – habe bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs das Erscheinungsbild der französi- schen Marine geprägt. Durch die Auflösung des Kolonialreichs habe die Marine ihren globalen Anspruch und somit ihre institutionelle Unabhängigkeit nach und nach eingebüßt, bevor sie schließlich auf ihre militärische Funktion beschränkt worden sei. Als Beispiel führte Vial die Bezeichnung des Marineministers in der Zwischenkriegszeit an: Ministre de la marine militaire. Nach 1945 wurde die Ma- rine schließlich dem Verteidigungsministerium unterstellt; das Marineministerium wurde aufgelöst. Gleichwohl lege die französische Marine, auf eine Truppengat- tung reduziert, weiterhin Wert auf ihre Einzigartigkeit innerhalb des Militärs. So sei ein Rückgriff auf die eigene Geschichte und die nicht-militärischen Wurzeln weiter in ihrer Präsentation sichtbar: Eine Statue des Finanzministers Jean Bapti- ste Colberts ziert noch heute den Eingang der Offizierschule der französischen Ma- rine in Lanvéoc südlich von Brest.

Der militärisch-zivile Zusammenhang der transnationalen Militärgeschichts- schreibung stand auch im Zentrum des neuen Forschungsprojekts, das Christiane Wienand (London, Großbritannien) zur Diskussion stellte. Ihr geht es um die Ver- söhnung nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allem die Rolle transnational wirkender Organisationen. Wienand untersucht die Versöhnungsdiskurse und -praktiken von Veteranenverbänden sowie von Organisationen wie Aktion Sühnezeichen, Pax Christi oder dem Maximilian-Kolbe-Werk, die sich durch grenzübergreifende Ak- tivitäten auszeichneten. Zudem seien sie Mitglieder europaweiter, supranationaler Organisationen wie der Vereinigung ehemaliger Kriegsgefangener in Europa (CIAPG) im Falle der Veteranen. Aber auch Organisationen wie der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. (VDK), der keine explizite Veteranenorganisa- tion ist, hätten die europaweite Versöhnung vorangetrieben. Anhand von drei empi- rischen Beispielen verdeutlichte Wienand die militärgeschichtliche Dimension ihres Projekts. Insbesondere gehe es ihr um die Untersuchung des sozialen Milieus der ehemaligen aktiven Kriegsteilnehmer. Neben der individuellen Versöhnungs- arbeit eines deutschen Veteranen im Verband der Heimkehrer und eines Treffens der Conféderation Européenne des Anciens Combattants 1962 in München stellte Wienand auch die Arbeit des VDK vor. Im Vergleich zu den ersten beiden Beispie- len sei hier ein Qualitätsunterschied der Versöhnungsarbeit erkennbar. Gerade die Arbeit des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge zeichne sich im Vergleich zu den anderen beiden Beispielen durch eine »Arbeit mit der Vergangenheit« aus.

So lege der Volksbund großen Wert auf die Einbeziehung der Generationen, die nach dem Krieg geboren sind. Dadurch würde sich der Charakter der Versöhnung ändern: von einer »Versöhnung als Entlastung« hin zu einer Reflexion der Vergan- genheit. Das Versöhnungsbestreben der einzelnen Verbände sei im Einklang mit der Wiedergutmachungspolitik der jungen Bundesrepublik nach 1945 verlaufen.

Dabei flankierten die Versöhnungsaktivitäten die politische Reintegration West- deutschlands in das internationale Staatensystem.

Parallel dazu verliefen der Aufbau und die Integration der Bundeswehr in das westliche Verteidigungsbündnis, die der ehemalige französische General und Chef des Militärstabs der Europäischen Union Jean-Paul Perruche darstellte und mit der Entwicklung in der französischen Armee verglich. Der Aufbau der Bundeswehr sei durch die Einbindung in die NATO und das Bemühen der Mitgliedsstaaten ge- prägt gewesen, einem erneuten deutsch-preußischen Militarismus entgegenzuwir-

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ken. Bei der französischen Armee hingegen stand die Wiedererlangung des mili- tärischen Prestiges im Vordergrund. Dies sollte vor allem durch die Sicherung des Kolonialreiches geschehen, insbesondere in Algerien. Die unterschiedlichen Aus- gangspositionen spiegelten sich in der Verfassung wider. So sei die Bundeswehr eine Parlamentsarmee, während in Frankreich der Präsident alleiniger Oberbe- fehlshaber und das Parlament entsprechend machtlos sei. Wegen der kolonialen Vergangenheit sei die französische Armee bereits am Ende des Kalten Krieges zu einem Drittel auf Auslandeinsätze ausgerichtet und so den neuen Herausforde- rungen besser angepasst gewesen als die Bundeswehr. Zwar habe diese sich eben- falls der neuen globalen Situation nicht verschlossen und zum Beispiel während des Kosovokrieges eine wichtige Rolle gespielt. Allerdings sei die Rolle Deutsch- lands im Vergleich zu Frankreich nach wie vor verhalten und beschränke sich häu- fig auf finanzielle Hilfe. Dabei sei die strukturelle Entwicklung der beiden Armeen – von der Wehrpflicht zur Berufsarmee, Reduzierung der Truppe – nach dem Ende des Kalten Krieges durchaus vergleichbar. Eine Kooperation auf militärischer Ebene sei problemlos; Schwierigkeiten sah Perruche dagegen auf der politischen Ebene, wo es an Entschlusskraft fehle.

Der deutsch-französische Vergleich der jüngsten Sicherheitspolitik stand im Mittelpunkt des Beitrags von Sybille Reinke de Buitrago (Hamburg und Lüneburg).

Anhand der sicherheitspolitischen Ansätze beider Länder wies sie auf wesentliche Differenzen zwischen den Sicherheitskonzepten hin. Zwar seien diese grundsätz- lich im Rahmen der Richtlinien der Europäischen Union aufeinander abgestimmt, jedoch bestünden insbesondere seit den 1990er Jahren deutliche Unterschiede zwi- schen deutschen und französischen Interessen. Diese seien vielfach auf nationale Entwicklungen und Narrative, besonders auf die unterschiedlichen Kriegserfah- rungen im 20. Jahrhundert zurückzuführen. Die nationalen Unterschiede müssten toleriert werden, resümierte Buitrago. Gleichzeitig wies sie jedoch auf die Notwen- digkeit der Kooperation beider Länder hin, die im Zuge der Internationalisierung sicherheitspolitischer Belange verstärkt werden müsse. Trotz transnationaler mili- tärischer Kooperationen bleibe die Überwindung nationalstaatlicher Differenzen in Bezug auf sicherheitspolitische Entscheidungen bislang ein Desiderat.

Die Untersuchung nationaler und transnationaler Interessen der einzelnen Staa- ten und Institutionen sowie deren Entwicklung im europäischen Rahmen stellte denn auch Olivier Forcade (Paris, Frankreich) in seiner Schlussbetrachtung als eine der wichtigsten Fragen der künftigen militärgeschichtlichen Forschung heraus.

Dabei müsse insbesondere auf Unterschiede in der kollektiven Erinnerung sowie die Beziehung zwischen Militär und Politik geachtet werden, die damit häufig in Verbindung stehe. Auf der Tagung hätten, so bilanzierte Forcade, vor allem drei wegweisende Aspekte im Vordergrund gestanden. Erstens gehe es um die Konsti- tution von »Räumen«, in denen militärische Entscheidungen getroffen würden;

Forcade erinnerte hier an die einleitend angeführten Untersuchungsebenen des Staates, der Nation und des Territoriums, die alle in die Überlegungen einbezogen werden müssten. Zweitens habe die Tagung in transnationaler Perspektive die in- nere Logik der Institutionen innerhalb des Nationalstaates thematisiert. Drittens sei immer wieder deutlich geworden, welchen Einfluss das Verhältnis zwischen Militär und ziviler Gesellschaft – sozialen Gruppen wie politischen Institutionen – auf die militärgeschichtliche Entwicklung gehabt habe. So habe auch die siebte Veranstaltung der Reihe »Rencontres franco-allemandes d’histoire militaire« an- regende Anstöße für die militärgeschichtliche Forschung gegeben, deren Zukunft,

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so lautete Forcades abschließende Prognose, in der Erweiterung durch transnati- onale Perspektiven und interdisziplinäre Ansätze liege.

1 Vgl. die jüngsten Publikationen der Ergebnisse vorheriger Veranstaltungen: Militär in Deutschland und Frankreich 1870–2010. Vergleich, Verflechtung und Wahrnehmung zwischen Konflikt und Kooperation. Im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Paris und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam, hrsg. von Jörg Echtern- kamp und Stefan Martens, Paderborn [u.a.] 2012; Les relations franco-allemandes en ma- tière d’armement au XXe siècle: de la rivalité à la coopération. Troisième rencontre franco- allemande d’histoire militaire. Ed. par Jörg Echternkamp, Stefan Martens, Jean-Christophe Romer, Vincennes 2008 (= Les Cahiers du CEHD, 33). Die Veröffentlichung der Beiträge dieser 7. Tagung ist in der Reihe des IRSEM vorgesehen.

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Sven Petersen und Stefan Droste

»Militärische Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit«.

9. Jahrestagung des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit vom 1. bis 3. Dezember 2011 in Göttingen

Die Betrachtung von Militär einerseits, Bildung und Wissen andererseits erfolgte lange Zeit weitgehend unabhängig voneinander. Bis heute fehlt eine grundlegende Verknüpfung dieser Forschungsfelder. Hierzu einen Impuls zu geben sollte Auf- gabe der diesjährigen, von Marian Füssel (Göttingen) und Matthias Asche (Tübin- gen) organisierten Tagung des Arbeitskreises Militär und Gesellschaft in der Frü- hen Neuzeit (AMG) sein. Die dreizehn Vorträge der Veranstaltung gliederten sich in vier Sektionen: I. »Wissensspeicher und Diffusion«, II. »Wissensträger und Pro- fession«, III. »Wissenspraktiken und Distribution« und IV. »Wissensorte und Sozia- lisation«.

Daniel Hohrath (Ingolstadt) gab mit seinem Vortrag »Von der ›Art de la Guerre‹

zum System der Kriegs-Wissenschaften. Militärtheoretische Schriften und ihre Le- ser« einen anschaulichen Einstieg in das Thema der Entwicklung von militärischen Wissenskulturen in der Frühen Neuzeit. Diesen Prozess, den Hohrath als Kumu- lation von Wissen und nicht als Fortschritt verstanden sehen wollte, gliederte er in drei Phasen. Die Renaissance (1550–1650) bildete dabei den Ausgang. Wissen speis- te sich in ihr hauptsächlich aus bereits gesammelten oder tradierten Erfahrungen.

In der vom barocken Rationalismus geprägten »Epoche der Verwissenschaftli- chung« (1650–1750) wandelte sich das »Kriegshandwerk« zur »Kriegswissen- schaft«, ohne aber dabei zu einer kohärenten Ausbildung zu werden. In der soge- nannten Militärischen Aufklärung (ab 1750) brachte eine Kombination aus persönlicher Erfahrung und Theorie eine Verwissenschaftlichung aller Felder mi- litärischer Kenntnisse mit dem Ziel einer »gezähmten Bellona« hervor. Abschlie- ßend warnte Hohrath aber davor, auf quantitativer Basis der bis heute erhaltenen Werke Rückschlüsse auf deren tatsächliche Popularität und ursprünglichen Auf- lagenstärke zu ziehen. Diese kritische Anmerkung regte zu Diskussionen über Re- präsentativität und reellen Gebrauchswert an.

Martin Winter (Berlin) gab einen Überblick »Zu militärischen Bibliotheken, ih- ren Sammlern und Nutzern im 18. Jahrhundert«. Ausgehend von der Entstehung einer militärwissenschaftlich gebildeten Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnete er eine zunehmende literarische Durchdringung des Militärs nach. Den zunächst vorherrschenden landesherrlich organisierten Schul- bibliotheken folgten, vom neuen Bildungsstreben der Offiziere motiviert, die teil- privat organisierten Regimentsbibliotheken. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts traten als weiteres Modell die Bibliotheken der Lesegesellschaften hinzu. So gal- ten die meisten Nachfragen der Tagungsteilnehmer auch vornehmlich den Regi- mentsbibliotheken, ihrer inneren Organisation, dem quantitativen Verhältnis von privat und institutionell angeschafften Büchern oder dem in ihnen zu findenden Bestand an allgemeinbildender Literatur. Doch zeigte die Diskussion, dass das For- schungsfeld aufgrund der Quellenlage schwer zu bearbeiten ist.

Die erste Sektion beschloss Wilhelm Kühlmann (Heidelberg) mit seinem Vortrag

»Kampf und Ethos – Militärische Chargen in der Versdichtung des 16./17. Jahrhun- derts«. Anhand von vier Schriftstellern um 1600 thematisierte Kühlmann die ste-

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reotype Darstellung und Typisierung des Söldners in kritischer Lyrik. Dies geschah exemplarisch an Texten von Bartholomäus Ringwaldt, Theobald Hoeck, Paul Fle- ming und Julius Wilhelm Zink. Im Zentrum militärisch inspirierter Versdichtung standen dabei stets die Spannungsfelder zwischen christlicher Moral und kriege- rischem Selbstverständnis. Ein interessanter Denkanstoß aus dem Plenum betraf anschließend die Frage nach der Persistenz von Motiven innerhalb der Lands- knechtslyrik und deren Eigenständigkeit in Bezug auf Kriegserfahrung und -par- teien.

Die zweite Sektion wurde von Stefanie Rüther (Münster) eröffnet. In ihrem Vor- trag »Krieg als Profession? Zur Differenzierung militärischer Funktionsrollen am Übergang zur Frühen Neuzeit« führte die Referentin anhand der Beispiele von Ratsherren, Büchsenmeistern und Landsknechten die Inkongruenz gesellschaftli- cher Position und militärischen Wissens vor. Ersteren stand im ausgehenden Mit- telalter noch die militärische Führung der Stadt zu, sozialer Stand hatte aber den Vorrang. Im Falle der Büchsenmeister wurde deutlich, dass diese mit ihrem Wis- sen warben, aber ihre Expertise nicht schriftlich tradierten, um ihre Monopolstel- lung zu festigen. Auch Landsknechte präsentierten sich als eigenständige Gruppe, deren soziale Ordnung durch die Aneignung und Hierarchisierung von Wissen bestimmt wurde. Zusammenfassend stellte Rüther fest, dass Wissen personenge- bunden war, allerdings nur in Ansätzen zu einer Professionalisierung des Kriegs- wesens beitrug. Abschließend wurde die Bedeutung von Wissen in Buchform, sei- ner Rezipienten und Wirkmächtigkeit innerhalb einer weitgehend oralen Traditionskultur diskutiert.

Sabine Sander (Mainz) referierte im Anschluss über »›So viele Verwundungen und Zufälle.‹ Militärmedizin in der Frühen Neuzeit« am Beispiel der Entwicklung des Lazarettwesens. Ausführlich beschrieb Sander zunächst die zeitgenössischen Abgrenzungen innerhalb des Medizinwesens hinsichtlich der unterschiedlichen Laufbahnen militärischen Sanitätspersonals. Hierbei grenzte sie Feldscherer und Chirurgen scharf von studierten Ärzten ab. Anschließend stellte sie die Verände- rung in der frühneuzeitlichen Militärmedizin dar, wobei der Dreißigjährige Krieg den Tiefpunkt bildete. Im Reich blieb die Feldscherausbildung in Qualität und Quantität bis zu den Napoleonischen Kriegen weit hinter Frankreich zurück. Ins- gesamt stellte Sander fest, dass Professionalisierungsbestrebungen der Feldsche- rer Versuche waren, die Deutungshoheit akademisch gebildeter Ärzte im Gesund- heitswesen zu schwächen. Besonderes Interesse zeigten anschließend die Diskutanten für das Prestige oder den Prestigeverlust der Feldscherer in Nach- kriegs- und Friedenszeiten sowie für den Transfer von Wissen aus militärischen in zivile Wissenskulturen.

Ganz im Sinne des Tagungsthemas nahm Michael Sikora (Münster) in seinem Beitrag »Wissen in Reih und Glied. Formen des Wissens einfacher Soldaten im ste- henden Heer« den vermeintlich bildungsfernsten Teil der frühneuzeitlichen Heere in den Blick: die Linieninfanterie des 18. Jahrhunderts. Dabei ging es Sikora weni- ger darum, mögliche Wissensquellen der gemeinen Soldaten aufzuzeigen, als sie vielmehr durch deren im Militärdienst erworbene Kenntnisse als genuines »Wis- sens-Milieu« darzustellen. Konkret formulierte Sikora den Standpunkt, beim mi- litärischen Drill habe es sich nicht um eine erzwungene Auflösung individueller Fertigkeiten gehandelt, sondern vielmehr um ein Wissensfeld, dessen Beherr- schung den Soldaten als persönliche Leistung erschien. Durch diese Eigenschaft trete auch der normkonforme Soldat, so Sikora, als »eigensinniges« Subjekt zutage.

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In der Diskussion wurde zudem die Bedeutung der Religion als Binde- sowie Zwangsmittel bestärkt. Weiterhin wurde der Hierarchisierungskontrast zwischen Zivil- und Militärgesellschaft hinterfragt.

Im Anschluss daran betrachtete Marian Füssel (Göttingen) in seinen Ausführun- gen mit dem Titel »Feder contra Degen? Bildungshorizonte gelehrter Offiziere im 18. Jahrhundert« die zunehmende Bedeutung der Bildung für das ständische Selbstbewusstsein von Offizieren in Konkurrenz zum Bürgertum. Zu Beginn be- tonte er die Heterogenität vieler adeliger Bildungswege, die zu einer »Mischaus- bildung« geführt hätten, was methodisch u.a. eine Hinwendung zur Quellengat- tung der Ego-Dokumente erforderlich mache. Den so formulierten Ansatz demonstrierte Füssel exemplarisch anhand der preußischen Offiziere Ernst Fried- rich Rudolf von Barsewisch und Christian Wilhelm von Prittwitz. Dabei distan- zierten sich adelige Selbstentwürfe im 18. Jahrhundert vielfach vom »bürgerlich- technischen« Wissen durch ihre Hinwendung zu den »schönen Künsten«. Dass Heroik und Künstlertum demnach als sich gegenseitig stützende symbolische

»Ressource« des adeligen Offiziers dienten, vergegenwärtigte Füssel an den Aus- nahmebeispielen der preußischen Offiziere Ewald Christian von Kleist und Hans Carl Heinrich von Trautschen. Im darauf folgenden Austausch mit den Tagungs- teilnehmern wurde wiederholt die Heterogenität des Adels und Offizierkorps be- tont, was eine Differenzierung des Topos des »gelehrten Offiziers« erfordere.

Angela Strauß (Potsdam) hielt ihren Vortrag zum Thema »›Wie nutzreich kann das Lehramt würdiger Feldprediger seyn!‹. Preußische Feldprediger als Pädago- gen der Aufklärung«. In ihm zeichnete Strauß die Rolle von ehemaligen Feldpre- digern als Teil der Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts nach. Dabei strich sie be- sonders die Parallelen in der pädagogischen Erziehung zwischen Soldatenstand und Schulwesen heraus und charakterisierte die Feldprediger als aufgeklärte, dem Nützlichkeitsgedanken verschriebene Pädagogen. Ihre Funktion in der Armee stellte dabei, so Strauß, nur eine mögliche Station innerhalb einer ansonsten zivi- len Karriere als Pfarrer oder Lehrer dar. Die selbst zugeschriebene Fähigkeit der Feldprediger zur Vermittlung praktischer aufgeklärter Ideale und der Erziehung zum »vernünftigen« und »nützlichen« Menschen sollte das Fortbestehen des Am- tes gegen Ende des Jahrhunderts rechtfertigen.

Es folgte der Beitrag »Zwischen adeliger Standesbildung und aufgeklärter Kriegswissenschaft – das Dresdner Kadettenkorps als Bildungsanstalt kursächsi- scher Offiziere im 18. Jahrhundert« von Andreas Dethloff (Rostock). Zunächst zeich- nete der Referent den Forschungsstand nach, um auf dieser Grundlage einen dy- namischen Fortentwicklungsprozess des Kadettenkorps als Bildungsinstanz zu beschreiben.

Anschließend stellte Ewa Anklam (Braunschweig) unter dem Titel »›Battre l’éstrade.‹ Militärische Aufklärung zwischen Geheimnis und Publizität« eines der Themen ihrer Dissertation vor. Geheimnis und Publizität stellten für sie die zwei wesentlichen Elemente militärischen Informationswesens dar. Leichte Truppen und Parteigänger fungierten dabei als Träger einer auf Face-to-Face-Kontakten be- ruhenden Informationskultur. Publizität hingegen nutzten Obrigkeiten aller Kriegs- parteien wissentlich zur Meinungssteuerung der an militärischen Neuigkeiten in- teressierten Öffentlichkeit. Dies förderte die Verbreitung fingierter, glorifizierender Augenzeugenberichte, wie etwa den Lettre-Gazettes. Diskutiert wurden unter an- derem die Bedeutung von Informationen und Geheimnissen als Ressource inner- halb von Netzwerk-Klientel-Systemen. Auch dadurch forcierte »Propaganda-

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schlachten« und ihre Auswirkungen auf die Presse und deren Glaubwürdigkeit wurden thematisiert.

Die Sektion beschließend referierte Ulrich Niggemann (Marburg) zum Thema

»Wissens- und Kulturtransfer durch importierte Militäreliten? Das Beispiel der Hugenottenoffiziere«. Sein Ziel war es, die Dekonstruktion des unhinterfragten Narratives einer »säkularen Heilsgeschichte« der Hugenotten im Kontext engli- scher Militärgeschichte anzuregen. So sei die personelle Durchdringung der eng- lischen Armee durch die Exilanten wesentlich geringer gewesen als gemeinhin dar- gestellt. Auch müsse die ihnen zugesprochene hohe Mobilität sowie ihre Wissensbestände von der speziellen Gruppe entkoppelt werden. Die Veränderun- gen des Kriegswesens auf den britischen Inseln seien nach Niggemann demnach vorwiegend Resultat der Reformen Cromwells, kombiniert mit Erfahrungsgewin- nen aus Kriegen auf dem Kontinent sowie des starken Einflusses Wilhelms von Oranien, gewesen. Im abschließenden Gespräch mit den Tagungsteilnehmern wur- den viele Aussagen bestätigt, besonders, dass Wissensbestände in der Frühen Neu- zeit eher fluid und unsystematisch waren und daher kaum monopolisiert werden konnten.

Thomas Weißbrich (Berlin) widmete sich dem Thema »Militärische Wissenskul- turen und visuelle Medien in der Frühen Neuzeit«, indem er die Bedeutung von Wissensvermittlung durch Bilder anhand der Kategorien Imagination, Abstrak- tion und Repräsentation umriss. Durch die imaginierende Funktion der Darstel- lungen sollte, nach Weißbrich, dem Betrachter der idealtypische Ablauf militäri- scher Handlungen verdeutlicht werden, damit dieser sie in der Praxis vermitteln und anwenden konnte. Weiterhin sei Abstraktion, am Beispiel vereinfachter Trup- pendarstellungen, durch die militärtaktischen Neuerungen der Oranischen Hee- resreform nötig geworden. Sie machte Wissen mitteilbar und einprägsam. Reprä- sentative Darstellungen schließlich waren, so der Referent, eine weitere Ausprägung des visuellen Wandels, deren primäre Aufgabe in der Vermittlung von Norm und Wissen lag. Dabei richteten sie sich meist nicht an eine breite Öffentlichkeit.

Es folgte der Vortrag von Carmen Winkel (Potsdam) über »Das Regiment als So- zialisationsinstanz für den deutschen Hochadel«. Einleitend betonte sie die beson- ders hohe Dichte der aus Reichsfürstenhäusern entstammenden Generäle inner- halb der preußischen Militärführung und verwies auf das Forschungsdesiderat der militärischen Ämterverleihung als Bindemittel des Adels. Abweichend von an- deren Territorien wurde in Preußen allerdings die ständige Anwesenheit der Per- son und ihre persönliche Amtsausübung der militärischen Position erwartet. Titel und Geburt wurden im Dienst somit von Friedrich II. geringer geschätzt als das Erlernen der Kompetenz im Heer, was der Eingliederung der Adeligen in die »mi- litärischen Eliten« dienen sollte. Die Sozialisation der hochadligen Offiziere aber funktionierte nicht ausschließlich über militärische, sondern auch über höfische Kanäle. Dementsprechend befassten sich die Tagungsteilnehmer in einer angereg- ten Debatte hauptsächlich mit den Verhältnissen der unterschiedlichen Personen- gruppen zueinander sowie mit der bewussten Nutzung von Nähe und Peripherie zum Potsdamer Hof.

Den letzten Vortrag der Tagung mit dem Titel »Von einer Militärakademie zur herzoglichen Vorzeigeuniversität – Institutionen, Personal und Lehrinhalte der Ho- hen Karlsschule in Stuttgart (1770–1794) im Wandel« hielt Frederic Groß (Tübingen).

Als zentrale These arbeitete er heraus, dass die zunächst als Bildungsanstalt für Soldatenkinder gegründete Schule von Herzog Carl Eugen gezielt zu einer Mili-

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tärakademie und Universität ausgebaut wurden, um ein Gegengewicht zur württembergischen Landesuniversität Tübingen zu schaffen. Dies verschärfte das bereits bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Landesherrn und Landschaf- ten, die nicht zu Unrecht eine allein durch den Landesherrn kontrollierte Heran- ziehung fürstentreuer Eliten und deren Dominanz in Staatsämtern fürchteten. Die Lehrinhalte orientierten sich an den Idealen aufgeklärter Nützlichkeit und umfas- sten eine große Bandbreite an wissenschaftlichen Fächern, auf denen ein innova- tiver Militärunterricht aufbaute.

Begleitet wurde die Tagung durch die Verleihung der 1. Hannelore-Otto-Preise an drei hervorragende Magister- bzw. Staatsexamensarbeiten. Unter dem Credo

»Verständlichkeit führt zu Verständnis« sprach sich das Ehepaar Otto für eine kri- tische, aber gleichzeitig besser zugängliche Forschung aus. Die Preisträger waren:

Steffen Leins (›Pecunia nervus belli‹ – das Prager Münzkonsortium von 1622/23.

Über Möglichkeiten und Grenzen privater Kriegsfinanzierung im 17. Jahrhundert), Karsten Süß, (›mit gefangen, mit gehangen‹: Verfolgung von Deserteurshelfern in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert) sowie Sune Erik Schlitte (Die Propaganda des Britischen Empire. Koloniale Helden und ihre Visualisierung im langen 18. Jahr- hundert).

Die Ergebnisse der Tagung werden in einem Band in der Schriftreihe des Ar- beitskreises Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit: Herrschaft und sozi- ale Systeme in der Frühen Neuzeit, publiziert.

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Florian Reichenberger

»Guerres futures, guerres imaginées: vers une histoire culturelle de l’avant-1914. Colloque international co-organisé par le Centre International de Recherche de l’Historial de la Grande Guerre et l’Institut historique allemand«, 9. November 2011, Péronne und 10. November 2011, Paris

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Dieses Sprichwort darf seine Gül- tigkeit nicht zuletzt für den Bereich der Geschichtswissenschaft beanspruchen. So fand im Rahmen der Vorbereitung auf das zunehmend ins Blickfeld rückende Ju- biläumsjahr 2014 in Péronne und Paris eine Tagung statt, die sich den Mentalitäten am Vorabend des Ersten Weltkriegs widmete. Während sich die Kulturgeschichte des Krieges in der wissenschaftlichen Forschung der letzten Jahrzehnte großer Be- liebtheit erfreute, blieb die Vorkriegszeit – von der Kriegsursachenforschung ab- gesehen – ein weitgehend unbeachtetes Feld. Mit den Fragen, ob es eine Art Vor- kriegsmentalität gab und inwieweit Vorstellungen von einem zukünftigen Krieg mit dessen Wirklichkeit übereinstimmten, sollte diese Forschungslücke im Rah- men der Tagung »Guerres futures, guerres imaginées« ein Stück weit geschlossen werden. Ausgerichtet wurde die Tagung vom Centre International de Recherche de l’Historial de la Grande Guerre und vom Deutschen Historischen Institut Pa- ris.Stéphane Audoin-Rouzeau, Präsident des Centre International de Recherche de l’Historial de la Grande Guerre, eröffnete die Tagung und lenkte den Fokus auf ein Thema, das von vielen Wissenschaftlern bereits seit längerer Zeit mit großem Interesse erwartet wurde: die Geschichte von Zukunftsvorstellungen.

Gerd Krumeich (Düsseldorf) hielt den Einführungsvortrag zur Bedeutung des Begriffs »avant-guerre« und appellierte nach einer kurzen wissenschaftlichen Be- standsaufnahme zur Vorkriegsmentalität, das Thema nicht mit einer anachronisti- schen Sichtweise anzugehen, da unsere Vorkriegszeit eben nicht diejenige der Zeit- genossen darstelle und der Krieg nach Clausewitz ein Chamäleon sei.

Die erste Sektion unter dem Vorsitz von Anne Rasmussen (Straßburg) begann Andreas Rose (Bonn) mit seinem Vortrag »L’anticipation de la guerre dans les re- vues militaires de la Grande-Bretagne edwardienne«. Der deutsche Historiker setzte sich mit der Entwicklung einer Kriegsmentalität in der Gesellschaft des Ver- einigten Königreiches vor 1914 auseinander, wobei er ausführte, es habe sich eine Art Sportsgeist vor allem gegenüber dem aufkommenden Rivalen Deutschland herausgebildet. Zugleich beleuchtete Rose die Debatte um das Kriegsbild inner- halb des britischen Militärs, in dem sich traditionelle sozialdarwinistische Anschau- ungen gegenüber modernen technikorientierten Sichtweisen durchgesetzt hätten.

Dies habe im Krieg zu großen Verlusten geführt. Anschließend trug Gabriela Frei (Oxford) zum Thema »Le débat britannique sur la stratégie navale 1870–1914« vor.

Am Beispiel der Rolle von Konterbande in der Seekriegführung arbeitete Frei ei- nerseits die Dominanz wirtschaftlicher Denkmuster in politischen und militäri- schen Kreisen der Seemacht Großbritannien und andererseits die wachsende Bedeu- tung internationalen Rechts in der Seekriegführung seit dem späten 19. Jahrhundert heraus. Mit ihrem Thema »Le rôle des langues dans la planification militaire franco- britannique« erweiterte Franziska Heimburger (Paris) den Blickwinkel über den

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Ärmelkanal hinweg. Sie stellte der französischen Rekrutierungspraxis von Sprach- mittlern für das Militär aus der Professorenschaft heraus das britische System der gezielten Ausbildung von Offizieren für bestimmte Einsatzgebiete im 19. Jahrhun- dert gegenüber. Die Komplementarität der beiden unterschiedlichen Praktiken habe in der Zeitspanne von 1905 bis 1914 das französisch-britische Zusammenwir- ken durch den Einsatz von Verbindungsoffizieren erleichtert. In der anschließen- den Diskussion wurde im Plenum der Interessenkonflikt zwischen Land- und See- mächten bei der Kodifizierung des internationalen Rechts seit dem Krimkrieg erörtert. Dabei wurde die Neigung der Briten, sich einer solchen Festlegung zu entziehen, herausgestellt. Ferner wurde festgehalten, dass sich in den europäischen Gesellschaften vielfach falsche Kriegsvorstellungen durchgesetzt hätten. In meh- rerlei Hinsicht habe der Erste Weltkrieg – so das Fazit – eine Nagelprobe darge- stellt, bei der sich vieles an Vorstellungen über die Art der Kriegführung aus der Vorkriegszeit als unbrauchbar erwiesen hätte.

Die zweite Sektion unter dem Vorsitz von Laurence van Ypersele (Louvain) zielte noch stärker auf den internationalen Vergleich ab. In ihrem Vortrag »La guerre des ingénieurs: la technologie et les débats sur la guerre future avant 1914« erläuterte Angela Schwarz (Siegen), wie die effiziente preußisch-deutsche Kriegsmaschinerie am Ende des 19. Jahrhundert für das Militärwesen und die Rüstungsindustrie der anderen Großmächte zum Maßstab wurde. Gleichzeitig hätten hier Biologismus und Heroismus einen bedeutenden Einfluss gehabt. Unter diesen Voraussetzun- gen sei die Technik ein Prisma des Sozialdarwinismus bei der internationalen Auf- rüstung geworden. Stéphane Tison (Maine) erläuterte in seinem Vortrag »Les gran- des manœuvres annuelles et la mise en scène des guerres futures, 1899–1914«, welch große Bedeutung die französische Presse den Septembermanövern in Frank- reich beigemessen habe und wie diese bis hin zur Perversion des Manöverzwecks instrumentalisiert worden seien, um die Gesellschaft zu militarisieren. Mit seinen Ausführungen zum Thema »La guerre courte comme mythe militaire« zeigte Benoist Couliou (Toulouse), warum es sich bei der Illusion eines kurzen Krieges in Frankreich nicht um eine Fehleinschätzung, sondern um einen Mythos handelte, der als Grundannahme von der Presse und dem Militär nicht mehr infrage gestellt worden sei. Selbst die zunehmende Technisierung der Kriegführung hätte daher nicht die Annahme, ein Krieg könne schnell beendet werden, dekonstruiert, son- dern sei lediglich als eine Herausforderung an die Fähigkeiten der Militärs und Techniker angesehen worden, einen kurzen Krieg zu gewährleisten. In der anschlie- ßenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob die Armeeführung nicht die unrealistische Manöverpraxis kritisiert hätte. Erst 1911 habe General Joffre ver- sucht, mehr Realitätsbezug in die Manöver einzubringen, konnte sich den Gepflo- genheiten allerdings auch nicht komplett entziehen. Gerd Krumeich merkte an, dass der Realismus der französischen Manöver in den deutschen Manöverberich- ten interessanterweise nicht infrage gestellt worden sei.

Die dritte Sektion unter Gerhard Hirschfeld (Stuttgart) war der Sichtweise der Pazifisten gewidmet. Peter Farrugia (Toronto) stellte mit seinem Vortrag »Jean de Bloch, Norman Angell et la représentation de la guerre future, 1898–1914« zwei Vertreter einer Mindermeinung vor, die sich mit ihrer kritisch-rationalen Sicht- weise auf einen schier unmöglichen Krieg gegenüber den Traditionalisten, die in der Denkmustern von Heldentum und Opferung verhaftet waren, nicht durchset- zen konnten. Jean-Michel Guieu (Paris) ging beim Thema »Les milieux pacifistes français et la paix européenne (1899–1914)« auf die Zersplitterung der 110 Pazifis-

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tenorganisationen vor 1914 ein, von denen 29 in Frankreich aktiv waren. Diese hät- ten darauf hingearbeitet, den Krieg zu diskreditieren und internationale Lösun- gen, auch die Kodifizierung internationalen Rechts, herbeizuführen. Doch seien sie am Vorabend des Ersten Weltkriegs zunehmend in die Defensive geraten.

Galit Haddad (Paris) änderte ihren geplanten Vortrag zum Thema »La représenta- tion de la ›guerre future‹ dans la protestation pacifiste d’avant 1914« ab und kon- zentrierte sich – gestützt auf Erlebnisberichte französischer Kriegsteilnehmer – auf die Leitfrage, wie sich der Beginn des Krieges mit den ersten Gefechterlebnissen aus der Sicht des Individuums dargestellt hätte. Nach einer ersten Phase großer Ungewissheit unter den Soldaten hätte sich die Lücke zwischen Kriegsbild und Kriegsrealität auf dem Weg zum Schlachtfeld sukzessive geschlossen. Die tatsäch- lichen Kriegserfahrungen hätten die Kriegsvorstellungen aus Manövern und mi- litärischer Ausbildung schließlich schnell überlagert. Hirschfeld verband die Vor- träge unter der Überschrift »Imagination und Realität des Krieges«. Anschließend wurde im Plenum diskutiert, inwieweit sich das Erlebte in den Erfahrungsberich- ten, d.h. in der Rückschau möglicherweise verändert habe. Weiterhin wurde erör- tert, inwiefern der Krieg als eine unentrinnbare Apokalypse wahrgenommen wor- den sei, sodass selbst Pazifisten in den Krieg gezogen seien.

Der pazifistischen Sichtweise wurde in der vierten Sektion unter dem Vorsitz von Anne Rasmussen (Straßburg) die kriegerische gegenübergestellt. Im Zentrum des Vortrags »Bernhardi et le droit à la guerre« von Gerd Krumeich (Düsseldorf) stand dabei die Rezeption des im Jahr 1912 erschienenen Buches »Deutschland und der nächste Krieg« des deutschen Offiziers und Militärschriftstellers Friedrich von Bernhardi. Obwohl es in Deutschland keine hohen Auflagen habe verzeich- nen können, seien die darin vertretenen Thesen, die den Deutschen ein Recht auf Expansion und Krieg als eine Art Naturgesetz zugesprochen hätten, in aller Munde gewesen. Die politische Linke im Kaiserreich habe das Buch als »bellizistisches«

und »verantwortungsloses« Werk heftig kritisiert. Für die alliierte, vor allem die britische Propaganda hätten die Thesen Bernhardis vor 1914 und während des Ers- ten Weltkrieges einen hervorragenden Ansatzpunkt gegen die im deutschen Mili- tär vorherrschenden Denkmuster dargestellt. Nicht zuletzt habe das Werk deshalb auch bei der Erörterung der Kriegsschuldfrage nach dem Ersten Weltkrieg eine Rolle gespielt. Christa Hämmerle (Wien) behandelte in ihrem Vortrag »La concep- tion de la guerre dans l’Autriche-Hongrie d’avant 1914« – ausgehend von ihren Er- kenntnissen aus der sozio-kulturellen und Gender-Forschung des österreichisch- ungarischen Rekrutierungssystems – verschiedene Phasen der Aufrüstung in der Doppelmonarchie. Der herrschenden Sichtweise, die Aufrüstung sei aufgrund ei- ner zunehmenden Militarisierung Europas im Überlebenskampf der Nationen not- wendig, stellte Hämmerle dabei die Sichtweisen österreichischer Pazifisten wie Bertha von Suttner gegenüber. Cédric Marty (Toulouse) widmete sich in seinem Re- ferat »A la baïonnette: fondements d’un mythe« der Verfälschung der Kriegsreali- tät in französischen Bildern und Gemälden. Diese habe in der Mythifizierung des Bajonettangriffs als wesentlicher Bestandteil der nationalen Identität begründet gelegen. In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, wie es zur Ausformung von Kriegsvorstellungen gekommen sei. Der Reproduktion von Bildern als Charakteristikum von Massengesellschaften kam dabei offenbar eine besondere Bedeutung zu. Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich ferner um die Frage, wie die Diskrepanz zwischen den geringen Verkaufszahlen und den hefti-

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gen Reaktionen auf das Werk Bernhardis zu bewerten sei. Ein plausibler Erklä- rungsansatz liege wohl hier in der Rolle der Presse.

Der erste Tag in Péronne fand seinen Abschluss mit der Verleihung von Prei- sen der Gerda Henkel Stiftung durch Christian Manable, den Vorsitzenden des Conseil Général de la Somme, und Anna Lauter, die Direktorin der Gerda Henkel Stiftung. Bereits seit 20 Jahren werden so international Doktorandinnen und Dokto- randen mit exzellenten wissenschaftlichen Projekten unterstützt. In diesem Jahr wur- den Mélanie Bost (»Un corps sous tension: rôles complexes et attitudes controver- sées des magistrats belges lors de la première occupation allemande 1914–1918«), Jérémie Caillaud (»La présence britannique en France pendant la Première Guerre mondiale, 1914–1921«), Victor Demiaux (»Les célébrations de la victoire dans les capitales européennes: Paris, Londres, Bruxelles, Rome, Bucarest«), Benjamin Gil- les (»Lire en guerre, lire la guerre. Norton Cru et la genèse de Témoins«), Meghen McCrae (»An Unexpected Ending: Allied Strategic Thought about How to End the First World War«) und Larissa Wegner (»German Military Occupation in Northern France 1914–1918«) ausgezeichnet.

Zum zweiten Teil der Veranstaltung reisten die Tagungsteilnehmer in das ca. 130 Kilometer entfernte Paris. Dort stellte Gudrun Gersmann, Direktorin des Deutschen Historischen Instituts, die Tagung noch einmal explizit in den Kontext der Vorbereitungen auf das Jubiläumsjahr 2014 und zugleich unter die Leitfrage, wie es dazu kommen konnte, dass der Krieg denkbar und schließlich wahrschein- lich wurde.

In der fünften Sektion unter dem Vorsitz von Arndt Weinrich (Paris) leitete Catriona Pennell (Exeter) mit ihrem Thema »Expérience et compréhension du con- flit militaire en Grande-Bretagne 1899–1914« die zweite Vortragsrunde ein. Sie setzte den Schwerpunkt auf die britischen Erwartungen am unmittelbaren Vor- abend des Krieges und stützte sich auf Briefe und Tagebücher der »einfachen Leute«. Diese seien in erster Linie von Sportsgeist, sozialdarwinistischen Denk- mustern, militaristischen Tendenzen und dem von Russland auf Deutschland ver- schobenen Feindbild geprägt gewesen. Anschließend beschrieb Tamara Scheer (Bu- dapest) unter der Überschrift »Un observatoire de l’avant guerre? La présence de l’Autriche-Hongrie dans le Sandjak de Novipazar 1879–1908« wie die späteren Kriegsparteien im Grenzgebiet zwischen Österreich-Ungarn, Serbien, Bulgarien, dem Osmanischen Reich und Montenegro für das spätere Kriegsgebiet bereits Kri- senerfahrungen sammeln konnten. Diese hätten später im Krieg vor allem zu nach- richtendienstlichen und Propagandazwecken genutzt werden können. Justin Dolan Stover (Dublin) widmete sich in seinem Vortrag »Périphérie de la guerre ou première ligne de défense? L’irlande prête à l’invasion 1907–1915« Invasionsbe- fürchtungen und paramilitärischen Bewegungen in Irland, das von den Englän- dern wegen seines Separatismus stets beargwöhnt worden sei. Am Ende hätten sich die Iren doch mehr als Partner denn als Feinde der britischen Krone erwiesen.

Auch im Diskussionsteil wurde noch einmal herausgestellt, dass Irland aus engli- scher Sicht wohl mehr als ein Fall für die Polizei denn für die Armee verstanden worden sei.

In der sechsten Sektion unter Leonard V. Smith (Oberlin, OH, USA) ging es im Referat »Prophéties avant la guerre en Meurthe-et-Moselle« von Nicolas Padiou (Pa- ris) wiederum um eine Grenzregion, die im Kriegsfall zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich einem potenziellen deutschen Angriff unmittelbar ausge- setzt gewesen wäre. Trotz enger wirtschaftlicher Verflechtungen mit Elsass-Loth-

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ringen habe im französischen Département Meurthe-et-Moselle eine revanchisti- sche Grundstimmung geherrscht, die nach den Zwischenfällen in Tanger 1905 und Agadir 1911 noch verstärkt worden sei. Insbesondere zwischen 1911 und 1913 habe es daher immer wieder Gerüchte über einen Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich gegeben, mit den Worten des Referenten eine »véritable avant- guerre«. Béatrice Richard (Kingston, Ontario) konzentrierte sich im Rahmen ihres Vortrags »Les guerres futures vues du Canada 1899–1914« auf die Vorkriegsmen- talität in der nordamerikanischen Dominion des britischen Weltreiches. Diese Men- talität sei von einem militärischen Romantizismus, Ritterlichkeit und Opfersinn, Sozialdarwinismus und Pflichtgefühl gegenüber der britischen Krone beherrscht gewesen. Bei Frankokanadiern sei die Loyalität allerdings weit weniger ausgeprägt gewesen. Unter dem Titel »Conceptions polonaises d’une future conflit européen avant 1914« widmete sich Pascal Trees (Stuttgart) schließlich der besonderen Situa- tion einer auf drei Reiche aufgeteilten Nation. Da die Polen den möglichen Krieg als fremde Angelegenheit, zugleich aber auch als Chance zur Erringung nationa- ler Unabhängigkeit angesehen hätten, könne ihre Sichtwiese als asymmetrisch be- zeichnet werden. Im Diskussionsteil wurde erörtert, wie mögliche Auswirkungen von Kriegshandlungen in Meurthe-et-Moselle in der Presse thematisiert wurden und wo der Zusammenhang zwischen Kriegsgerüchten und Revanchegedanken zu sehen sei.

Die siebte Sektion fand – abweichend vom geplanten Programm – unter dem Vorsitz von Jay Winter (Yale) statt und wandte sich dem warnenden Beispiel des Russisch-Japanischen Krieges von 1904/05 zu. Zunächst beleuchtete Naoko Shimazu (London) in ihrem Vortrag »La mentalité du conscrit japonais sur le front de Mandchourie 1904–1905«, gestützt auf Briefe und Tagebücher japanischer Wehr- pflichtiger als Primärquellen, wie sehr sich die Denkmuster der meist aus der ge- sellschaftlichen Unterschicht stammenden Soldaten von den bekannteren der Sa- murai unterschieden. Die Verbundenheit mit der Familie, die Interpretation des Fallens im Krieg als widernatürliches Ereignis sowie die Furcht vor einem Begräb- nis in der Fremde hätten die Haltung der japanischen Wehrpflichtigen im Rus- sisch-Japanischen Krieg ähnlich stark bestimmt wie später im Ersten Weltkrieg. Da der Referent verhindert war, musste der geplante Vortrag von Olivier Cosson (An- gers) über das Thema »La société française et la guerre russo-japonaise« leider ent- fallen. Planmäßig trug jedoch Alexandre Sumpf (Straßburg) zum Thema »L’héritage de la guerre russo-japonaise et l’anticipation sociale de la guerre en Russie« vor und ging dabei vor allem auf die Entwicklung des Veteranenwesens in Russland ein. In der anschließenden Diskussion wurden trotz der kulturellen Unterschiede interessante Parallelen zwischen den japanischen Wehrpflichtigen von 1904/05 und den einfachen Soldaten an der Westfront 1914–18 festgestellt. Dabei wurde noch einmal die Modernität der Kriegserfahrungen von 1904/05 betont.

Die achte Sektion unter dem Vorsitz von Philippe Nivet (Amiens) rundete – mit Kriegs- und Krisenerfahrungen vor 1914 an die Thematik der siebten inhaltlich di- rekt anknüpfend – die Vortragsreihe in Paris ab. Matteo Caponi (Pisa) beleuchtete in seinem Vortrag »Mourir dans une guerre ›sainte‹? Les catholiques italiens et la conquête de la Libye 1911–1914« die Rolle des Heiligen Stuhls für die italienische Kriegführung in Libyen sowie die Interpretation dieses brutal geführten Konflikts durch die katholische Kirche als »Heiliger Krieg«. Die wesentliche Funktion der Kirche hätte in der Pflege eines spezifischen Totenkults sowie in der Stiftung von Heldenmythen bestanden, die sich um eine Opferbereitschaft für Italien, das Chris-

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tentum und die Zivilisation im Allgemeinen gedreht hätten. Jean-Jacques Becker (Paris) fragte in seinem Vortrag »Agadir 1911: la guerre qui n’a pas eu lieu« , ob eine deutsche Intervention in Agadir den Krieg bereits 1911 hätte auslösen kön- nen. Seine Antwort fiel negativ aus, da es – entgegen anders lautender Selbstdar- stellungen der Protagonisten vor Ort als Kriegsverhinderer – zu jener Zeit keine ernsthaften Erwägungen der beteiligten Staaten zum Krieg gegeben hätte. Seitens des Deutschen Reiches hätte es sich lediglich um einen Schachzug gehandelt, der auf die Inbesitznahme des Kongo abgezielt hätte, während vom Russischen Reich als Hauptverbündetem Frankreichs schnell klargestellt worden sei, dass seine vita- len Interessen in Agadir nicht berührt seien. John Horne (Dublin) legte im letzten Vor- trag »Imaginer les guerres futures: la perception des conflits balkaniques (1912–1913) en France et en Grande-Bretagne« die Rezeption der beiden Balkankriege in der britischen und französischen Presse dar. Damit führte er ein weiteres Beispiel aus der Zeit vor 1914 an, das verdeutliche, wie ein zukünftiger Krieg auch in Mitteleu- ropa hätte ablaufen können. In der letzten Diskussion des Plenums wurde festge- halten, dass die Erscheinungsformen zeitgenössischer Kriege und die durch mo- derne Kriegstechnik hervorgerufenen Verluste aufgrund der Medienpräsenz der Balkankriege in Europa bekannt gewesen seien.

Zum Abschluss der Tagung wurden die Ergebnisse unter dem Vorsitz von Annette Becker (Paris) multiperspektivisch zusammengefasst. Heather Jones (Lon- don) betonte, dass die Vorkriegszeit trotz der Fischer-Debatte, die von 1959 bis in die 1980er Jahre hinein um die Kriegsschuldfrage des Deutschen Kaiserreichs ge- führt wurde, immer noch ein Desiderat der Forschung darstellen würde. Interes- sant sei gerade der Aspekt, dass aus der historischen Distanz Mentalitäten deut- lich würden, die mit der technischen Entwicklung nicht korrespondierten. Als verbindende Leitmotive der Vorträge stellte Jones erstens ein Offensiv- bzw. Inva- sionsdenken, zweitens konfuse Ängste, drittens einen unzeitgemäßen Sentimen- talismus im Militär, viertens die Bedeutung von Medienpräsenz und fünftens so- zialdarwinistische Denkmuster heraus. Nicolas Beaupré (Clermont Ferrand, UIF) führte die Bilanz der Veranstaltung fort und sah die Kriegsvorstellungen im We- sentlichen von drei Faktoren beeinflusst: Wirtschaft, Industrialisierung und mo- derne Massengesellschaften. Was das Kriegsbild betrifft, sei im Verlauf der Tagung immer wieder deutlich geworden, dass sich Militärführung und Pazifisten als An- tipoden gegenübergestanden hätten. Zuletzt umriss Pierre Purseigle (Birmingham) diejenigen Themenfelder, die noch einer eingehenderen Erforschung bedürften:

der Modernisierungsaspekt in der Vorkriegszeit, die Transformation des Militärs und seines Ausbildungswesens sowie die Differenzierung von Kriegserfahrung und -erinnerung bei der Deutung von Kriegsereignissen.

Insofern spiegelte die Veranstaltung insgesamt sehr gut, zumal in internatio- naler Perspektive, den Stand der militär- und kulturgeschichtlichen Forschung am Vorabend des Jubiläumsjahres zu 1914 wider. Es bleibt abzuwarten, was gerade die nächsten drei Jahre der Geschichtswissenschaft unter dem Paradigma des Gro- ßen Krieges noch bringen werden. Die Erkenntnisse der Tagung und der geplante Tagungsband werden dem Anspruch, die Forschungslücke in der Vorgeschichte der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan) weiter zu schließen, sicherlich gerecht.

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Antje Dierking

»Für Frieden und Freiheit oder Shareholder Value und

Auslastungsquote? Rüstung in Europa und Nordamerika nach dem Zweiten Weltkrieg«. Workshop des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, 8. bis 9. November 2011 in Potsdam

Im November 2011 lud das Militärgeschichtliche Forschungsamt zu einem Work- shop zum Thema Rüstung und Rüstungsgeschichte in Europa und Nordamerika seit 1945 nach Potsdam ein. Der Workshop, unter internationaler Beteiligung, wurde erstmalig in dieser Form durchgeführt und vermittelte Eindrücke zur Ent- wicklung der Rüstungsindustrie in großen Industrienationen auf der einen, aber auch kleineren Staaten auf der anderen Seite.

Michael Epkenhans (Potsdam) eröffnete die Veranstaltung zunächst mit der Aus- sage, dass Rüstungsgeschichte innerhalb der Militärgeschichte eher als ein Sonder- thema betrachtet wird, was er vor allem mit einem erschwerten Quellenzugang für Historiker begründete. Die historische Betrachtung des Verhältnisses zwischen Militär, Politik und Rüstungsindustrie stelle sich als komplex und wechselseitig dar und ist in ihrer Aufarbeitung ein überwiegend »weißer Fleck«. Er fügte hinzu, dass die Akteure der Rüstungsindustrie in der Vergangenheit oftmals als »Händ- ler des Todes« bezeichnet wurden, die in den Köpfen der Bevölkerung vorrangig an Profit interessiert seien und daher eher den Krieg förderten. Epkenhans verwies in diesem Zusammenhang auf die aktuell stattfindende Debatte um umstrittene Lieferungen von deutschen Panzern nach Saudi-Arabien. Eine differenzierte Sicht auf die Rüstungsindustrie solle gerade dieser Workshop versuchen zu vermitteln.

Daraus resultierend formulierte Epkenhans seine zentralen Fragestellungen: Wel- che Rolle kommt der Industrie tatsächlich im Prozess der Produktion von Rüs- tungsgütern zu? Stehen vornehmlich einzelne Unternehmensinteressen in der Rüs- tungspolitik im Vordergrund? Wie verhalten sich internationaler Export und nationale Politik zueinander?

Das erste Panel fand unter seiner Leitung statt und thematisierte die Rüstung der »Supermächte«. Beginnend stellte Holger H. Herwig (Calgary) die Genese und Weiterentwicklung eines Militärisch-Industriellen Komplexes (MIK) seit dem ame- rikanischen Unabhängigkeitskrieg in den USA dar. Herwig verdeutlichte zunächst, dass Militärhistoriker das Forschungsfeld der Rüstungsindustrie und die damit verbundene Diskussion um Militär und Industrie in Nordamerika eher Politolo- gen, Soziologen und Ökonomen bzw. Journalisten, hochrangigen Militärs und Be- amten überließen. Laut Herwig entstand der heute vorherrschende MIK weder im Zweiten Weltkrieg noch im Kalten Krieg ad hoc, er durchlief vielmehr eine konti- nuierliche Entwicklung. So hätte sein Ursprung tief verwurzelt in der militärischen Beschaffungspolitik seit dem Unabhängigkeitskrieg gelegen und wurde vorange- trieben durch eine wirtschaftliche Mobilisierung von Beginn des Ersten Weltkrieges bis hin zur Roosevelt-Regierung und darüber hinaus. Das kontinuierliche Zusam- menspiel zwischen Industrie und Militär sowie die Ziele und Vorstellungen einer

»Pax Americana« einzelner politischer Akteure formten den MIK bis heute maß- gebend. Herwig zufolge spiele der MIK in der aktuellen Debatte zur US-amerika- nischen Sicherheitspolitik dennoch keine aktive Rolle. Er sei vielmehr das Ergeb- nis komplexer Entscheidungen politischer, militärischer und wirtschaftlicher

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Akteure. Außerdem lenke er nicht, anders als häufig vermutet, die scheinbar ag- gressive, expansive oder intervenierende US-amerikanische Außenpolitik. Dies läge allein bei der Politik und dem Grad des Einflusses von Militär und Industrie in Fragen der nationalen Sicherheit, welcher durch die amerikanischen Wähler be- stimmt werde. Matthias Uhl (Moskau) analysierte in seinem Beitrag die Rüstung in der Sowjetunion nach 1945 und betonte zunächst die gute Aktenlage in der Er- forschung der sowjetischen Rüstungsgeschichte. Laut Uhl bestanden die Interes- sen seit Gründung der Sowjetunion darin, auf Grundlage leistungsfähiger Kom- petenzen, den Schutz des kommunistischen Vaterlandes zu gewährleisten, diesem Zweck galt bis dato auch die Entwicklung der Rüstungsindustrie. Während des Zweiten Weltkrieges verlagerten sich die Interessen der Rüstungsindustrie, wobei aus Effizienzgründen dem wirtschaftlichen Aspekt ein großer Stellenwert beige- messen worden sei. Uhl nannte exemplarisch dafür die Beschleunigung der Pro- duktion von Rüstungsgütern und das Verschwinden von bisher bestehenden Struk- turen in der Rüstungsindustrie. Daraus resultierend habe der Rüstungssektor zum Ende des Zweiten Weltkrieges zunehmenden Einfluss auf fast alle Bereiche von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gehabt. Es sei vielmehr durch eine Verschmel- zung der akademischen und militärischen Strukturen zu einem Militärisch-Indus- triell-Akademischen Komplex (MIAK) in der Sowjetunion gekommen.

Das zweite Panel, unter der Leitung von John Zimmermann (Potsdam), behan- delte die Probleme der mitteleuropäischen Mächte nach 1945. John Louth (London) stellte hierzu aus politikwissenschaftlicher Sicht die verteidigungspolitischen An- sprüche der britischen Regierung auf der einen und die industriellen Reaktionen der britischen Industrie auf der anderen Seite dar. Im Schwerpunkt ging er dabei auf aktuelle Debatten zur britischen Rüstungspolitik ein. Ein Entwicklungstrend sei die stärker werdende Gratwanderung zwischen nationalen Anforderungen der Sicherheitspolitik bzw. internationalen Bündnisverpflichtungen gegenüber Ein- sparungs- und Reduzierungsmaßnahmen des Verteidigungshaushaltes. Es sei Auf- gabe der Regierung, diese Diskrepanz auszugleichen, was in der Vergangenheit oftmals verfehlt wurde und zu gravierenden Fähigkeitslücken geführt habe. Da- rauf beziehend hielt er fest, dass sich der Fokus der Rüstungs- und Verteidigungs- industrie zukünftig, aufgrund ausbleibender Staatsaufträge, eher auf den interna- tionalen Wettbewerb ausrichten müsse, um neuen Anforderungen gerecht zu werden und bestehende Verpflichtungen weiterhin gewährleisten zu können. Flo- rian Seiller (Mainz) befasste sich mit der Rüstungspolitik Frankreichs, im Zwiespalt zwischen nationaler Unabhängigkeit und Europäisierung. Er gab zunächst einen Ausblick auf die aktuelle Situation der Rüstungsindustrie Frankreichs, die vor allem durch eine Spitzenposition im internationalen Waffenhandel sowie im Ex- port von Luft- und Raumfahrttechnik charakterisiert ist. Seiller formulierte eine chronologische Entwicklung der französischen Rüstungsindustrie nach dem Zwei- ten Weltkrieg, von einer Verstaatlichung der Rüstungsunternehmen nach 1945, zur Eliminierung des innerstaatlichen Wettbewerbs, bis hin zu einer Privatisierung der Rüstungswirtschaft in den Neunzigern. Trotz der Umstrukturierung der Rüstungs- industrie behalte sich der Staat Kontrollinstrumente wie Aktienhaltung oder die Generaldelegation für Rüstung, die als Mittler zwischen den Unternehmen und dem Rüstungsapparat steht und Rüstungsprogramme koordiniert, vor. Somit herr- sche eine enge Verbindung zwischen Staat und Rüstungsindustrie, die Seiller als Militärmerkantilismus bezeichnete. Abschließend stellte er heraus, dass der Rüs- tungszweig in Frankreich nach wie vor eine Schlüsselfigur als Arbeitsgeber dar-

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stelle, obwohl sich auch hier starke Disparitäten zwischen rüstungspolitischen In- teressen und industriepolitischer Notwendigkeit auf die Exportzahlen der Grande Nation auswirken.

Rudolf Schlaffer (Potsdam) eröffnete das dritte Panel, welches die Entwicklung der Rüstungsindustrie in der DDR und der BRD bis 1990 sowie der Bundesrepu- blik behandelte. Torsten Diedrich (Potsdam) erläuterte in diesem Themenkomplex die Rüstungsindustrie der DDR, die ständigen Schwankungen zwischen der Dar- stellung einer Hochburg von Aufrüstung im Pakt und der Leugnung der Militari- sierung im SED-Staat unterlegen gewesen sei. Die DDR, als integraler Bestandteil des strategischen Offensivkonzepts des Ostblocks, sei stets bemüht gewesen, die enormen Rüstungsvorgaben der Sowjetunion zu erfüllen. Doch die Außenhandels- belastungen durch die UdSSR, beispielsweise der Urananbau auf Kosten der DDR, auch die in ihren volkswirtschaftlichen Möglichkeiten begrenzte Industrie hätten die ostdeutsche Volkswirtschaft in ihrer Gesamtheit sehr stark belastet und er- schwerten somit die Sicherstellung der Landes- und Bündnisverteidigung erheb- lich.

Dieter Kollmer (Potsdam) stellte die andere Seite des geteilten Deutschlands dar und beschrieb die bundesdeutsche Rüstungsgüterbeschaffung seit Gründung der Bundeswehr. Diese habe nach einer zehnjährigen Pause nach dem Zweiten Welt- krieg quasi einen Neustart mit zunächst langsamen Entwicklungsschritten erfah- ren. Der Nachkriegsboom konzentrierte sich laut Kollmer vorrangig auf den zivi- len Sektor und blieb weitestgehend ohne Auswirkungen auf die Rüstungsindustrie.

Folglich konnte die durch die Politik angestrebte hohe Aufbaugeschwindigkeit nur durch intensiv betriebene öffentliche, größtenteils internationale Ausschreibungen vorangetrieben werden. In den 1960er Jahren wurde dann statt Quantität in Mate- rial und Gerät eher auf eine Qualitätsarmee gesetzt. Durch die volkswirtschaftliche Rezession Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahren seien die Rüstungs- bestrebungen verstärkt worden, haben sie in Zeiten des wirtschaftlichen Ab- schwungs doch ein lukratives Geschäft dargestellt. Die technische Modernisierung der Streitkräfte und die ständige Anpassung an neue NATO-Strategien seien ein Garant für eine kontinuierlich wachsende Auftragslage gewesen und führten so- mit zu einer Etablierung der bundesdeutschen Rüstungsindustrie. Mit der deut- schen Einheit, der Zusammenführung der beiden deutschen Streitkräfte und der Friedensdividende reduzierten sich die Ausgaben des Bundesministeriums der Verteidigung für Wehrmaterial auf ein Minimum. Erst durch die Aufnahme neuer Aufgaben wie der Auslandseinsätze sei die Rüstungsindustrie erneut angestoßen worden und habe sich strukturell an moderne Zeiten und wirtschaftlich auch durch die freihändige Vergabe von Projekten an die neuen Herausforderungen anpassen können. Abschließend formulierte Kollmer die These, dass das Verfahren der frei- händigen Vergabe bereits in den 1950er Jahren genutzt wurde, sich aber erst jetzt mit einer Bundeswehr als Einsatzarmee etablieren konnte, da es bei der Beschaf- fung von Rüstungsgütern mittlerweile auch um die körperliche Unversehrtheit der Bundeswehrsoldaten geht.

Stefanie van de Kerkhof (Mannheim) betrachtete Deutschland während des Kal- ten Krieges auf dem europäischen Rüstungsmarkt und machte sich im Zuge ihrer Ausführungen an eine Bestandsaufnahme aus Unternehmensperspektive. Zu- nächst wies sie darauf hin, dass die Geschichte der Rüstungsmärkte ein großes De- siderat der Forschung sei, da der Umfang des internationalen Rüstungsmarktes allgemein schwer zu ermitteln sei. Dies verdeutliche sich vor allem in einer man-

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gelnden Operationalisierbarkeit und schwer zugänglichen bzw. fehlenden statisti- schen Auswertung z.B. zu Rüstungsumfang, Kriegswaffenexporten oder Gewin- nen von Rüstungsunternehmen. Van de Kerkhof verwies aber auch auf die Betrachtung der allgemeinen Struktur des Rüstungsmarktes, die sich als sehr hilf- reich für die Forschung erweise. Die Struktur zeichne sich vor allem durch Maß- schneiderei, im Sinne langer Forschungs- und Entwicklungszeiten von Waffensys- temen, beschränkte Konkurrenz auf nationalen und internationalen Märkten sowie Lobbyismus und Exportsteigerung als Krisenstrategie bei regelmäßig wiederkeh- renden Absatzeinbrüchen, aus. Ein europäischer oder internationaler Vergleich des Rüstungsmarktes sei momentan – so van de Kerkhof – nicht möglich, dazu be- dürfe es zunächst einer ausführlicheren Grundlagenforschung.

Das vierte Panel, unter der Leitung von Markus Pöhlmann (Potsdam) behandelte die kleinen, traditionellen »Rüstungsschmieden« Europas. Niklas Stenlas (Stock- holm) thematisierte den Aufschwung und Rückgang der schwedischen Rüstungs- industrie nach 1945. Er verwies dabei auf eine entscheidungspolitische Einheit von Teilen der Regierung, des Militärs, der Rüstungsindustrie und den Gewerkschaften, die bereits während und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer rasanten Entwick- lung der schwedischen Rüstungsindustrie geführt habe. Während des Kalten Krieges, so Stenlas, nahm Schweden eine eher neutrale Rolle ein, was den Import aus blockgebundenen Staaten erschwerte. Dies habe zur Folge gehabt, dass durch die Entwicklung und Herstellung eigener Waffensysteme überproportionale Kos- ten entstanden. Weltpolitische Entwicklungen vor und während der 1970er Jahre, wie die Détente der Supermächte oder Anti-Kriegsbewegungen, aber vor allem die immensen Investitionskosten, haben zu einem stetigen Rückgang eines MIK in Schweden geführt. Seit 1990 engagiere sich Schweden folglich stärker in der inter- nationalen Zusammenarbeit und dem System der europäischen kooperativen Ver- teidigungsindustrie.

Peter T. Baltes (Zürich) stellte die Rüstung in der Schweiz nach 1945 aus ökono- mischer Sicht dar. Auch er bezog sich schwerpunktmäßig auf aktuelle Debatten zur Thematik. Dabei führte er vor allem die traditionelle und moderne Sichtweise auf den MIK aus, der ein »Iron Triangle« aus Politik, Militär und Rüstungsindus- trie bilde und als externen Akteur den Steuerzahler einbeziehe. Innerhalb dieses Konstrukts herrschen Informationsasymmetrie und Koordinationsprobleme, zum Beispiel in Fragen der Kostenexplosion bei Forschung und Entwicklung von Rüs- tungsgütern oder des anspruchsvollen Forderungskataloges der Militärs in Hin- blick auf die Fähigkeiten eines Waffensystems. Hier setzte Baltes Kernthese an. In- formationsasymmetrien fielen durch das Milizsystem geringer aus, da ein großer Teil der Bürger zeitweise als Soldat seinen Dienst verrichte und fiskalische Fragen weniger zu Spannungen führten. Eine Einschränkung bestehe hier aber in der Neu- tralitätsposition der Schweiz, die ähnlich wie Schweden, auf Unabhängigkeit und die Entwicklung eigener Waffensysteme setze, was erneut mit erheblicher Kostenin- effizienz verbunden sei.

Erwin Schmidl (Wien) behandelte die Rüstung Österreichs nach 1945. Er distan- zierte sich zunächst von der Existenz eines MIK in Österreich, fügte aber an, dass es durchaus Querbeziehungen zwischen staatlichen und wirtschaftlichen Akteuren gäbe. Darüber hinaus gab Schmidl an, dass die Forschungen zur österreichischen Rüstungsgeschichte eher begrenzt seien, da sich beispielsweise Fachliteratur ver- einzelt eher auf den Modellbau beziehe und daraus keine fundierten wissenschaft- lichen Schlüsse gezogen werden könnten. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe Ös-

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terreich eine eher neutrale und blockfreie Position angestrebt. Das Wiener Verteidigungsministerium habe dabei sowohl von den USA als auch von den Staa- ten des Warschauer Paktes die Ausrüstung angekauft, um die Streitkräfte auszu- statten. Die eigene Produktion sei durch enge Beziehungen zwischen militärischen Bedarfsträgern und Industrie geprägt gewesen, wurde aber nur durch geringe fi- nanzielle Mittel gefördert. Da es für einen Kleinstaat wie Österreich schwer sei, komplexe Rüstungsgüter zu produzieren und zu exportieren, konzentriere man sich eher auf die Entwicklung von Nischenprodukten wie Minensuchgeräte oder Kommunikationstechnik.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der Workshop vielfältige Einblicke in die Rüstungsgeschichte, aber auch in aktuelle Debatten über Rüstungspolitik lieferte. Die verschiedenen Beiträge verknüpften sehr facettenreich historische, poli- tische aber auch wirtschaftliche Erkenntnisse und verdichteten sich zu einem ers- ten Bild innerhalb des Themenkomplexes. Der Grundstein für weitere Projekte in diesem Zusammenhang konnte auf diese Weise gelegt werden. Der enorme Dis- kussionsbedarf, der den Workshop zusätzlich konstruktiv nährte, ist sicherlich ein Indiz dafür, dass die Thematik Rüstungsgeschichte in zukünftigen historiogra- fischen Untersuchungen und Forschungsvorhaben dringend einer weiteren Ver- tiefung bedarf.

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Janine Doerry

»Captivité de guerre au XXième siècle. Des archives, des histoires, des mémoires«. Internationale Tagung des Institut historique du temps présent (IHTP), des Centre national de la recherche scientifique (CNRS), des Institut de Recherche Stratégique de l’École Militaire (IRSEM) und der London School of Economics and Political Science (LSE), 17. bis 18. November 2011 in Paris

»Sage mir, wie du die Kriegsgefangenen behandelst, und ich sage dir, was für ei- nen Krieg du führst«. Mit dieser Zuspitzung unterstrich Henry Rousso (Paris) in seiner Zusammenfassung der Tagung »Kriegsgefangenschaft im 20. Jahrhundert.

Archive, Geschichten, Erinnerungen« die gewachsene Bedeutung humanitärer Maßstäbe für die Beurteilung kriegerischer Konflikte.

Die beiden Veranstalter Anne-Marie Pathé (Paris) und Fabien Théofilakis (Paris/

Augsburg) hatten das zunehmende gesellschaftliche Interesse am Thema Kriegs- gefangenschaft und die Verfügbarkeit neuer Quellen zum Anlass genommen, ein anspruchsvolles Tagungsprogramm zu kulturellen, rechtlichen und sozialen Aspek- ten der Gefangenschaft zusammenzustellen1.

Im Eröffnungsvortrag betonte John Horne (Dublin), dass nicht von der einen Ge- fangenschaft, sondern von Gefangenschaften im Plural gesprochen werden müsse, bevor er an die sukzessive Weiterentwicklung internationaler Konventionen zur Regulierung der Gefangenenbehandlung in kriegerischen Konflikten seit 1864 er- innerte. Als zentrale Kriterien zur Differenzierung des Schicksals der Gefangenen benannte er deren Nationalität, die herrschende Rassen- oder Klassenideologie, die Umstände ihres Arbeitseinsatzes sowie die Verhältnisse in regelwidrigen Krie- gen und Widerstandskämpfen.

Die erste Tagungssektion, in deren Mittelpunkt die kulturellen Aktivitäten in Kriegsgefangenen- und Zivilinternierungslagern standen, thematisierte zunächst Strategien männlicher Kriegsgefangener, ihr maskulines Selbstverständnis aufrecht zu erhalten. Iris Rachaminov (Tel Aviv) untersuchte diese Praktiken für die Kriegs- gefangenenlager des Ersten Weltkrieges einerseits anhand der männlichen Frau- endarsteller der Lagertheater, andererseits anhand familienartiger Gemeinschaften, in denen sich Kriegsgefangene verschiedener Altersgruppen zusammenfanden.

Die Versuche der Männer, mittels Theaterrepräsentationen und häuslicher Gemein- samkeit an ihre frühere Lebensführung anzuknüpfen, hätten letztlich Geschlech- tergrenzen und heterosexuelle Normvorstellungen infrage gestellt. Rachaminov plädierte dafür, zu untersuchen, wie sich diese Grenzerfahrungen auf die Restruk- turierung von Familien nach der Rückkehr der Gefangenen auswirkten. In seinem Referat zeigte Matthias Reiß (Exeter), dass die deutschen Kriegsgefangenen des Afrika-Korps während des Zweiten Weltkriegs ebenfalls auf die kulturelle Res- source Theater zurückgriffen, um heterosexuelle Normalität zu inszenieren und so ihre Maskulinität unter Beweis zu stellen. Die drei folgenden Beiträge wende- ten sich den Spuren intellektueller und künstlerischer Tätigkeiten in Lagern des Zweiten Weltkrieges zu: Peter Schöttler (Paris/Berlin) ging am Beispiel Fernand Braudels auf die vielfältigen intellektuellen Aktivitäten in den Kriegsgefangenen- lagern ein und unterstrich, dass Braudel in der Gefangenschaft nicht nur Überle- gungen zum sechzehnten Jahrhundert, sondern auch zur Zeitgeschichte – wie in

Referenzen

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