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1.3.1 Meyers liberal-habermasianisches Modell von Kommunika-tion

Mit seiner Kritik an der „Kolonialisierung der Politik durch die Medien“ (2001) befin-det sich der Politikwissenschaftler Thomas Meyer in einem ungewöhnlichen Spagat zwischen den üblicherweise als entgegengesetzte Idealtypen charakterisierten libe-ralen und deliberativen Kommunikationsmodellen.

Einerseits betont er die klassischen liberalen Aufgaben der Medien in der Demokra-tie: Transparenz, Kontrolle und Interessenvermittlung zwischen Bürger und Politik.

Andererseits kritisiert er, dass Massenmedien unter Marktbedingungen und Unter-haltungszwang diese Funktion nicht mehr erfüllten. Die Medienästhetik (vor allem des Fernsehens) kann der Vermittlung von politischen Inhalten massiv im Wege stehen und Interesse an Politik entgegenwirken. Medien wollen unterhalten, nicht informieren und dieser Trend verstärkt sich seit Jahrzehnten. Andererseits versagen auch politische Parteien in ihrer Aufgabe als Interessenvermittler, ebenso wie die Zivilgesellschaft, die durch den Einfluss der Medien gelähmt sei:

Das Modell einer über lange Fristen hinweg im Gespräch mit vielen zivil-gesellschaftlichen Instanzen sich verständigenden Partei, die allmählich zu ausgereiften Beschlüssen und Programmen gelangt, in deren Rahmen sich die öffentlichen Spitzenakteure der Parteien in den Formen ihrer symbolischen Verkörperung und bei der Umsetzung konkreter Politiken bewegen müssen, wird in Praxis nun eher zum Hemmnis für medienge-rechtes Agieren. (Meyer 2001, 44)

Politik orientiere sich daher mehr und mehr an den Vorgaben der Medien, neige zu Inszenierung und symbolischer Politik und vernachlässige wichtige Aufgaben.

Als Lösung dieses Dilemmas hofft Meyer wie Habermas (1990) auf den Einfluss von Bürgerforen der Zivilgesellschaft, deren deliberative Kommunikation den

Massen-medien Themen aufzwingen und die Filtersysteme und Auswahlkriterien modifizie-ren könnten. Durch direkte Kommunikation als Deliberation würden soziale Bindun-gen erneuert, Identitäten geschaffen und Scheinwelten der Medien entlarvt (Meyer 2001, 200-207).

Für das Thema dieser Arbeit bedeuten diese Erkenntnisse, die spezifischen Eigen-schaften moderner Massenmedien besonders berücksichtigt werden müssen. Ei-nerseits sind Massenmedien nicht zwangsläufig und ausschließlich dazu geeignet, Interessen zu vermitteln, Informationen zu verarbeiten und Identitäten zu schaffen.

Sie können nicht die zivilgesellschaftlichen Formen der Interessenvermittlung, vor allem durch politische Parteien, ersetzen. Andererseits muss sich Politik an den Selektionskriterien der Medien orientieren, wenn sie überhaupt vermittelt werden will – diese reflektieren legitime Informations-Interessen des Bürgers. Entscheidungs-verfahren müssen nicht nur öffentlich, transparent und nachvollziehbar sein, son-dern sich widersprechende Positionen, Parteien und Person müssen eindeutig un-terscheidbar und damit wählbar sein.

1.3.2 Giesens kultursoziologisch-konstruktivistisches Identitäts-Modell

Eine Position zwischen den Pessimisten und der post-habermasianischen Schule nimmt dagegen der Soziologe Bernhard Giesen ein. Mit der Pessimistischen Schule stimmt er überein, dass eine kollektive Identität konstitutive Voraussetzung legitimer Herrschaft und öffentlicher Kommunikation in Europa ist. Andererseits findet er wie die Post-Habermasianer Hinweise auf die Verstärkung transnationaler öffentlicher Kommunikation und die Entwicklung einer europäischen Identität.

Politische Herrschaft benötigt immer die Legitimation durch Instanzen von außen – etwa einen Auftrag Gottes, die Verpflichtung einer großen Tradition oder das Ver-sprechen einer künftigen Erlösung. In modernen Gesellschaften übernimmt diese Funktion die Vorstellung eines souveränen Volkes, das als unüberbietbarer Bezug allen politischen Handelns besteht. Diese Annahme einer kollektiven Identität des Volkes ist die „konstitutive Illusion des modernen politischen Handelns“ (2002, 69):

Erst durch eine gemeinsame Mission wird das Volk zum Akteur. Dass es sich dabei um eine notwendige Selbsttäuschung handelt, bleibt verborgen und erschließt sich nur dem kritischen Beobachter. Diese konstruierte Identität verursacht eine ständige Spannung zwischen der politischen Repräsentation des Volkswillens und dem ima-ginären „wirklichen“ Volkswillen. Aus dieser Spannung erwächst ein ständiger Druck zur Korrektur unangemessener Repräsentation – demokratische

Auseinanderset-zung. Fehlt die kollektive Identität, so fehlt der konstitutive Bezugspunkt, um Herr-schaft zu legitimieren (Giesen 1999).

Kollektive Identität ist für Giesen aber auch die Voraussetzung für öffentliche Kom-munikation: Kommunikation über Medien ist immer ein Gespräch mit Nicht-Anwesenden. Kollektive Identität eines unsichtbaren Publikums ist der Ersatz für ein anwesendes Gegenüber. Der Sprecher muss sich das Publikum als relativ homoge-nes Ganzes vorstellen, um die wahrscheinlichen Reaktionen abschätzen zu können:

Soll die Kommunikation nicht ins Leere laufen und versiegen, so muss sich der Sprecher dieses Gegenüber im Unterschied zu Außenstehenden vorstellen können. Er muss sich vorstellen können, dass dieses imagi-nierte Publikum, an das er sich wendet, seine Äußerung verstanden hat, ihm unsichtbar bestätigend zunickt, ihn sozusagen zur Weiterrede auffor-dert. (Giesen 2002, 71)

Da eine Bestätigung bei medialer Kommunikation nur mit großer Verzögerung ein-setzen kann, muss eine weitaus größere Konsensfiktion vorausgesetzt werden. Die Entstehung einer solch starken kollektiven Identität und damit auch eines identitäts-konstruierenden öffentlichen Diskurses ist in Europa demnach in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Andererseits berichtet Giesen über kulturelle, auf Europa bezogener Identitäten, die seit dem sechzehnten Jahrhundert meist von Intellektuellen konstruiert wurden: Eu-ropa als klassizistische Ästhetik, EuEu-ropa als lateinisches Kaisertum, EuEu-ropa als ko-loniale Mission, Europa als Aufklärungsbewegung. Auch hier weist er darauf hin, dass das, was sich als kontinuierliche Tradition ausgibt, die nachträgliche, kontra-faktische Vorstellung einer Geschichte ist, die eigentlich durch Diskontinuitäten und Gegensätzlichkeiten geprägt war. Dennoch existiert das kulturelle Konstrukt eines Europa als Gegensatz zu der Welt von Macht und Geld.

Dieses konstruktivistische Element in Giesens Theorie hat noch eine postmoderne Wendung: Selbst wenn Identitäten als Illusion entlarvt sind, sollten wir uns verhal-ten, als wären sie wirklich existent – um Sozialität zu rechtfertigen, Ordnung zu er-möglichen und Chaos zu vermeiden. Die adäquate Geisteshaltung des Desillusio-nierten ist Skepsis und Ironie (Giesen 2004).

Wie die Post-Habermasianer – wenn auch weitaus zurückhaltender – findet Giesen Hinweise auf eine dichter werdende europäische Öffentlichkeit und Ansätze der Konstruktion einer europäischen Identität. Selbst die moderne Vorstellung eines autonom handelnden Volkes, eines demos als Souverän mit Mission, kommt nicht gänzlich ohne die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte aus (Giesen 1999).

Die Erinnerung an eine den demos konstituierende Revolution findet in Europa je-doch im nationalen Rahmen statt. Helden wurden meist erst im Kampf gegen ande-re europäische Nationen zu Helden und taugen daher nicht als Europäer. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden solche Erinnerungen jedoch zunehmend von Erinnerung

an die Opfer von Krieg und Gewalt verdrängt. Aus der gegenseitigen Respektbe-kundung, Trauer um die Opfer und dem Schwur, es nicht wieder zu einem solchen Ausbruch von Gewalt kommen zu lassen, können leichter transnationale Identitäten entstehen.

Verstärkt werde dieser Trend durch eine Verdichtung der transnationalen Öffentlich-keit in Europa. Rituelle Formen von Schuldbekenntnissen nach dem Vorbild des Kniefalls Willy Brandts vor dem Denkmal für die Aufständischen des Warschauer Ghettos 1970 verbreiteten sich immer weiter und trugen zu Versöhnung und Ver-ständigung bei, weil sich alle Öffentlichkeiten unter ständiger Beobachtung europäi-scher Massenmedien befanden. Erinnerung an die Opfer und Schuldbekenntnisse der Täter waren die einzigen akzeptablen Formen des Umgangs mit der Vergan-genheit und wurden zu einer europäischen Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeit konnte nur unter der Bedingung ständiger internationaler Verflechtung in der Euro-päischen Union entstehen. Ausdruck einer solchen Identität sind z.B. die Reaktio-nen auf die Regierungsbeteiligung Jörg Haiders in Österreich.

Giesen bleibt jedoch skeptisch: Kollektive Identitäten ließen sich durch die gemein-same Erinnerung an die Opfer nicht positiv konturieren. Sie beruhten nicht auf kultu-reller Ähnlichkeit, sondern der zunehmenden internationalen Verflechtung und sind damit nichts genuin europäisches (Giesen 2002). Allerdings könne ein neuer Uni-versalismus entstehen, als Mission, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Dieser lasse sich schon ansatzweise etwa in Deutschland beobachten (Giesen 2004).

Interessant für diese Arbeit ist vor allem die Verbindung von öffentlicher Kommuni-kation und kollektiver Identität in Giesens Theorie. Weder muss ein demos schon vorhanden sein, damit transnationale Kommunikation zunehmen kann, noch ist jede Kommunikation ein Indiz für das Entstehen von Öffentlichkeit. Besonders die Sensi-bilität für die symbolische Dimension, für das implizite Konstruieren von Ähnlichkeit und Gemeinschaftlichkeit kann aufschlussreiche Ergebnisse erzeugen.