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Kapitel 2 Kollisionsnormen: Methoden der Entwicklung

B. Sonderanknüpfung

Der im Bereich der "règles d'application immédiate" oder "Eingriffsnormen" vorherr-schend verwendete Ansatz beim Gesetz erfragt den räumlichen Anwendungswillen der positivrechtlichen Sachnorm bzw. Sachnormgruppe (Fragestellung vom Gesetz her).

51 Charakteristikum des Prinzips der engsten Verbindung ist eine grundsätzliche Einbeziehung und abwä-gende Betrachtung verschiedener kollisionsrechtlicher Interessen als Anknüpfungskriterien.

Uneinigkeit herrscht bei der Benennung der grundsätzlich in die abwägende Betrachtung einzubeziehen-den sowie der im Falle des Widerstreits der Aspekte ausschlaggebeneinzubeziehen-den Anknüpfungskriterien; zusam-menfassend Bayer, Beherrschungsvertrag, S.38 f., S. 56 ff.. Streitig ist insbesondere die (mittelbare) Einbeziehung materiellrechtlicher Wertungen: Inhalt und Zweck der Sachregel(ungen), sachrechtliche, also materiellprivatrechtliche Interessen. Materiellrechtliche Wertungen, d. h. die durch die Sachnorm geschützten Interessen, können auch im "klassischen Kollisionsrecht" mittelbar, d. h. als Material für die kollisionsrechtliche Wertung, bei der Entwicklung der Kollisionsnorm berücksichtigt werden; vgl. insb.

Schurig, Kollisionsnorm, S. 98 ff.; Koppensteiner, Internationale Unternehmen, S. 94 f.; Neuhaus, Grundbegriffe, S. 44 ff.; a. A. MüKoBGB/EGBGB/Einleitung- Sonnenberger, Rn. 85. Streitig ist ebs., ob bei Widerstreit grundsätzlich in die abwägende Betrachtung einzubeziehender Anknüpfungskriterien eine Abwägung im Einzelfall erfolgt oder eine allgemeine Rangordnung einzuhalten ist. Vorzugswürdig erscheint, die verschiedenen Anknüpfungskriterien jeweils abzuwägen und nach Möglichkeit auszuglei-chen (Neuhaus, Grundbegriffe, S. 170). Eine abstrakte allgemeine Rangordnung insbesondere zwisauszuglei-chen formalen und materialen Anknüpfungskriterien (Begriffsdefinition bei Neuhaus, Grundbegriffe, S. 160 ff.) ist im Hinblick auf ihre fallabhängig unterschiedliche relative Gewichtigkeit wenig sachdienlich.

52 Als Anknüpfungsmoment (Teil 1 Kapitel 1 B. I. 1. b.) kann der Gesetzgeber die Generalklausel der

"engsten Verbindung" aufgrund ihrer Unbestimmtheit nur selten einsetzen. Im EGBGB verwenden nur wenige Normen ausdrücklich dieses Kriterium der Anknüpfung als Anknüpfungsmoment: Beispiele sind die Ausweichklauseln der Art. 28 V u. Art. 30 II EGBGB.

53 Diese Definition ordentlicher Anknüpfung entspricht wieder der vorherrschenden Annahme, nur der Ansatz beim Sachverhalt erlaube eine Anknüpfung gemäß der engsten Verbindung.

Rechtstheoretisch fragwürdig wird der Ansatz beim Gesetz vorherrschend mit der Fra-ge nach dem räumlichen Anwendungswillen einer Sachnorm bzw. Sachnormgruppe des positiven Rechts gleichgesetzt und die Fragestellung vom Gesetz her wie folgt präzisiert: Welche Fälle will die sich aus dem Sachverhalt ergebende Rechtsnorm re-geln? Will sie auf den Sachverhalt nach ihrem Sinn und Zweck angewandt werden?

Der räumliche Anwendungsbereich materiellen Rechts entspricht nach dieser Ansicht dessen räumlichem Anwendungswillen. Ermittelt wird dieser räumliche Anwendungs-wille durch teleologische Auslegung der Inhalte und Regelungszwecke der Sachnorm bzw. Sachnormgruppe des positiven Rechts mittels Bestimmung der jeweils durch das Sachrecht geschützten materiellrechtlichen Interessen. Die Fragestellung vom Gesetz her wird konkludent automatisch mit dem Prinzip des Anwendungswillens von Rechts-sätzen als Anknüpfungsprinzip verbunden.54

I. Prämisse: Exklusivität der Rechtsordnungen I. Prämisse: Exklusivität der Rechtsordnungen I. Prämisse: Exklusivität der Rechtsordnungen I. Prämisse: Exklusivität der Rechtsordnungen

Der Ansatz beim Gesetz hat die Annahme einer inhaltlichen Exklusivität der Rechts-ordnungen oder zumindest einzelner ihrer Sachregeln zur Prämisse. Sachnormen bestimmten Inhalts werden als international zwingend, nicht fungibel betrachtet.

Ziel auf "international zwingende" Anknüpfungsmaterien55 bezogener Kollisionsnormen ist die inhaltsgleiche Durchsetzung des materiellen Rechts im internationalen Sachver-halt. Inhalt und Zweck dieses international zwingenden Sachrechts bestimmen exklusiv und unmittelbar den Tatbestand entsprechender Kollisionsnormen.

II. Kollisionsno II. Kollisionsno II. Kollisionsno

II. Kollisionsnorm: struktureller Aufbaurm: struktureller Aufbaurm: struktureller Aufbaurm: struktureller Aufbau 1. Tatbestand

a. Anknüpfungsgegenstand

Aus dem Ansatz beim Gesetz folgt für die Zuweisung international zwingenden Sach-rechts nach überwiegender Ansicht eine Kollisionsnorm mit diesem Sachrecht als An-knüpfungsgegenstand. Eine vom Gesetz aus entwickelte Kollisionsnorm bezweckt nach dieser Ansicht die räumliche Zuordnung einer bestimmten Sachnorm(gruppe).

54 Z. B. Kropholler, IPR, S. 18 ff.; a. A. Schurig, Kollisionsnorm, S. 90: "Diesen Gegensätzen zwischen beiden „methodischen Ansätzen“ liegt ... eine stillschweigende Gedankenverbindung zugrunde, die man als einen gewissen „Kurzschluß“ bezeichnen könnte. Es werden nämlich ohne weiteres auf einen Nenner gebracht auf der einen Seite der Ansatz beim „Sachverhalt“ („Lebensverhältnis“, „Rechtsverhältnis“) mit der „multilateralistischen“ Methode „gezielter“ Kollisionsgrundnormen (und vornehmlich allseitiger Kollisi-onsnormen), auf der anderen Seite der Ansatz beim Gesetz mit der Suche nach dessen eigenem Anwen-dungswillen und damit mit der „unilateralistischen“ Methode globaler ungezielter Kollisionsgrundnormen (unter bevorzugter Benutzung von auf „Einseitigkeit“ reduzierten Kollisionsnormen)."

55 Dies gilt z. B. für die Unterscheidung zwischen "bloß ordnenden" und "politischen", d. h. von einem gezielten rechtspolitischen Interesse des gesetzgebenden Staates bestimmten Sachregeln.

Anknüpfungsgegenstände entsprechender Kollisionsnormen werden demgemäß auf Basis einer Analyse des Regelungszwecks einer einzelnen Sachnorm56 oder einer ganzen Sachnormgruppe57 gebildet.

b. Anknüpfungsmoment

aa. Prinzipien - Kriterien

Als Determinanten für die Wahl eines konkreten Anknüpfungsmoments bei der Ent-wicklung einer Kollisionsnorm der Sonderanknüpfung können unterschieden werden58:

Anknüpfungsprinzipien zur abstrakten Definition sachgerechter Anknüpfung: hier als "Prinzip des Anwendungswillens von Rechtssätzen" und

Anknüpfungskriterien zur Ermittlung der sachgerechten Anknüpfung im Einzelfall:

hier als Regelungszweck(e) der Sachnorm bzw. Sachnormgruppe des positiven Rechts gemäß der jeweils geschützten materiellrechtlichen Interessen.

Gerechtigkeit im IPR gemäß dem Prinzip des Anwendungswillens von Rechtssätzen soll durch Zuweisung einer bestimmten Sachnorm oder Sachnormgruppe verwirklicht werden. Gerecht und dem Fall angemessen ist eine bestimmte sachliche Lösung (die sachlich richtige Lösung), nicht die Anwendung einer bestimmten Rechtsordnung, die dem Fall durch sachliche oder persönliche Verbindungen am nächsten steht. Die Aus-gestaltung des Anknüpfungsmoments der Kollisionsnorm ist von der Suche nach dem positiven oder negativen "Anwendungswillen" der jeweils in Frage stehenden (auslän-dischen oder inlän(auslän-dischen) Sachnorm(gruppe) bestimmt. Materiellem Recht zumindest der als "Eingriffsnormen" bezeichneten Art soll ein positiver oder negativer räumlicher Anwendungswille für grenzüberschreitende Lebenssachverhalte entnommen werden.59

56 Anknüpfungsgegenstand der zu einer "règle d'application immédiate" immanent gehörigen eigenen stillschweigenden Kollisionsnorm ist der materielle Teil dieser "règle d'application immédiate". Bei gedank-licher Aufspaltung der Struktur der "règles d'application immédiate" in ihren materiellrechtlichen und ihren kollisionsrechtlichen Teil, d. h. in die ihr immanente Sachnorm und Kollisionsnorm, kann von einer interna-tionalprivatrechtlichen Zuweisung einer konkreten Sachnorm durch Schaffung eines inhaltsgleichen kollisi-onsrechtlichen Anknüpfungsgegenstands gesprochen werden. Anknüpfungsgegenstand einer als "règle d'application immédiate" bezeichneten Kollisionsnorm ist mithin eine einzelne Sachnorm des positiven Rechts; vgl. die Ausführungen zu Teil 1 Kapitel 1 B. II. (Kollisionsnormcharakter der "règle d'application immédiate" als Sachnorm mit eigener stillschweigender einseitiger Kollisionsnorm).

57 Bei bereits kritisierter Herleitung der "règles d'application immédiate" aus dem Regelungszweck einer ganzen Sachnormgruppe (Neuhaus, Grundbegriffe, S. 106; Kropholler, IPR, S. 17 ff.; vgl. bereits Teil 1 Kapitel 1 B. II. 2.) wird teilweise die Herausarbeitung von Kollisionsnormen für ganze Sachnormgruppen bestimmten "politischen" Inhalts aus den Einzelfällen der "application immédiate" als Aufgabe der Wissen-schaft bezeichnet (Neuhaus, Grundbegriffe, S. 106: "Wir möchten wissen, für welche Art von Sachnormen üblicherweise besondere Anwendungsregeln gelten, und auch, welche Inlandsbeziehungen bei verschie-denen Typen jener Sachnormen bestehen müssen, damit ihre Anwendung gerechtfertigt ist.").

58 Vgl. dazu bereits oben Teil 1 Kapitel 1 B. I. 1. b. aa., Kapitel 2.

59 Dies entspricht der Errichtung eines unilateralistischen Teilsystems für eine bestimmte Art von Sach-normen im IPR (Kegel/Schurig, IPR, S. 324 f.).

Kennzeichnend für das Prinzip des Anknüpfungswillens von Rechtssätzen (räumlicher Anwendungswille materiellen Rechts) ist die Ermittlung der Inhalte und Regelungszwe-cke der Sachnorm(gruppe)60 des positiven Rechts mittels Bestimmung der jeweils ge-schützten materiellrechtlichen Interessen. Bei Kollisionsnormen gemäß dem Anwen-dungswillen materiellen Rechts bestimmt exklusiv und unmittelbar der Regelungsgehalt des zuzuweisenden Sachrechts die Bildung des konkreten Anknüpfungsmoments.

bb. Methode: Sonderanknüpfung

Die Anknüpfung gemäß dem Prinzip des Anwendungswillens von Rechtssätzen (re-gelmäßig mittels eines unilateralen Anknüpfungsmoments) wird in Abgrenzung zur Anknüpfung gemäß der engsten Verbindung als Sonderanknüpfung bezeichnet.61 Ein so verstandener Begriff der Sonderanknüpfung verweist auf:

die Anwendung einer (Sonder)Kollisionsnorm,62

materielles Recht (Rechtssatz/Rechtssatzgruppe) als Anknüpfungsgegenstandund eine Anknüpfung nach dem Prinzip des Anwendungswillens von Rechtssätzen.

In diesem Sinn "sonderanknüpfende" Kollisionsnormen werden nachfolgend als Kollisi-onsnormen der Sonderanknüpfung63 oder als unilateralistisch bezeichnet.

2. Rechtsfolge

Konkrete Rechtsfolge der Kollisionsnorm der Sonderanknüpfung ist die Entscheidung über die Anwendung einer Sachnorm(gruppe) auf den internationalen Sachverhalt.

60 Die Ermittlung des räumlichen Anwendungswillens einer Sachnorm aus deren speziellem Inhalt scheint möglich, wenn auch als einziges beachtliches Kriterium der Durchsetzung einer Sachnorm im internationa-len Sachverhalt fragwürdig und noch Gegenstand späterer Untersuchungen. Die Bestimmung des räumli-chen Anwendungswillens einer Sachnormgruppe gemäß dem gemeinsamen "politisräumli-chen" Regelungs-zweck (staatliche Interessen, Gründe der Ethik, politische Zwecke etc.) ist methodisch inadäquat.

61 Wengler, ZvglRW 1941, 173. Im Schrifttum verbreitet ist die Formulierung, die Sonderanknüpfung gehe von der Rechtsnorm aus und frage, ob sie auf den Sachverhalt angewandt werden wolle (Junker, IPR, S. 76). Kritisch zu beachten ist auch hier die vorherrschende, aber zweifelhafte obligatorische Verknüp-fung des Ansatzes beim Gesetz mit dem Prinzip des Anwendungswillens von Rechtssätzen.

Gegensätzlich dazu geht die Methode der Anknüpfung vom Sachverhalt aus und fragt, zu welcher Rechtsordnung die engste Verbindung besteht (Junker, IPR, S. 79); differenzierend Koppensteiner, Internationale Unternehmen, S. 146 ff., der zwischen einer Sonderanknüpfung von Teilfragen aufgrund traditioneller, an die engste Verbindung anknüpfender Kollisionsnormen als Ergebnis einer bestimmten Qualifikationsentscheidung und der hier gemeinten Sonderanknüpfung, die aus dem internationalen Geltungsanspruch bestimmter Sachnormen abgeleitet wird, unterscheidet. In diesem Sinne unterscheidet er folgerichtig zwischen Qualifikation und Sonderanknüpfung.

62 Keine Sachrechtsanwendung unabhängig vom IPR; vgl. dazu bereits Teil 1 Kapitel 1..

63 Als spezielle Anknüpfung materiellen Rechts hat die Sonderanknüpfung in ihrer aktuellen Ausprägung ihren historisch-methodischen Ursprung in der positiven Funktion des "ordre public". Die Lehre vom "ordre public" befasste sich zunächst vorrangig mit dessen positivem Effekt. Eigenes Recht, welches diesem Kernbereich des "ordre public" zugehörig ist, wird gegenüber an sich anwendbarem ausländischem Recht zwingend durchgesetzt. Dieser positive "ordre public" ist heute weitgehend einer Schaffung besonderer Kollisionsnormen für besondere Sachregelungen, insbesondere für die sogenannten "Eingriffsnormen", gewichen, weil inzwischen die Überzeugung vorherrscht, dass keine Sachnorm wegen ihres "politischen"

Gehalts stets und unmittelbar anwendbar ist; vgl. Kegel/Schurig, IPR, S. 150 ff., 308 ff..

C. Verhältnis der Methoden zur Entwicklung von