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„Digitalisierung“ wird in wenigen anderen EU-Staaten so widersprüchlich gehandhabt, wie von der politischen Führung in Deutschland. Das hat weniger Auswirkungen auf die

49 Datenreport 2021 / WZB, Berlin

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private Unternehmerschaft (weil die sich selber hilft) als vielmehr auf fast alle Bereiche der hier angesprochenen Lebenswelt.

Der Wissenschaftliche Beirat Gesellschaft und Umwelt der Bundesregierung hatte im März 2018 eine Studie vorgelegt mit dem Titel „Worüber wir jetzt reden müssen“.

Nämlich u.a. über Pro und Contra von Digitalisierung und Wohlfahrt.50 Also z.B.:

Digitalisierung und moderne Wohlfahrt Medikation. Mehr Zeit für den einzelnen Menschen.

Gesammelten Daten können von allen, die sich Zugang verschaffen, ohne Patienten-Beteiligung systematisch analysiert werden; verstärken das Phänomen des gläsernen Menschen. Dafür liegen schon zu viele abschreckende Beispiele vor.

Digitalisierung steigert Produktivität – und hat damit auch das Potenzial, die Nachfrage anzukurbeln

Wozu noch erhöhte Nachfrage bei schon viel zu hoher Verschwendung und dadurch

Wohlfahrtsverlust wegen Übernutzung der Rohstoffquellen und Zerstörung der Erde?

Digitalisierung hilft militärische Eroberun-gen zu vermeiden, weil der Ausbau der digitalen Kommunikation und der massierte

„Datenklau“ gewaltige Gewinne

ermöglichen, während militärische und Handelskriege erheblich Kosten verur-sachen (das größte Beispiel für gefährlich teure militärische Kriege liefern die USA seit ihrem Vietnam-Krieg; das erfolgreichste schon jetzt eine Machtkonzentration in den USA (NSA, Facebook, Google, Amazon ....) und zunehmend in China (Fernsehsender CCTV, Nachrichtenagentur Xinhua und Volkszeitung Renmin Ribao, Alaba) ermöglicht.

Solche Pro- und Contra-Argumente lassen sich in einer langen Liste fortsetzen. Für die Bundesregierung reichte es, 2018 die Stelle einer Staatsministerin im Bundeskanzler-amt ohne wirkliche Koordinierungs- und Dynamisierungsfunktionen zwischen den Ministerien oder gar dem Staat insgesamt eingerichtet zu haben (Frau Bär, CSU). Im Kanzleramt wurde aber auch eine Abteilung Digitalpolitik eingerichtet. Mehrere Minister bilden das „Digital-Kabinett“. Dann gibt es noch den Digitalrat, der die Bundes-regierung berät. Der Chef des Kanzleramtes (H. Braun) ist für die Strategie Künstliche Intelligenz zuständig. Normale Intelligenz wäre bei Kabinettsmitgliedern, wie dem Ver-kehrsminister Scheuer schon ausreichend. Denn ausgerechnet der durch fachliche Unfähigkeit, dafür aber mit einem eindrucksvollen Maut-Skandal geschmückte Ver-kehrsminister (ebenfalls CSU) wurde offiziell auch zum Minister für Digitale

50 WBGU: Digitalisierung. Worüber wir jetzt reden müssen (Berlin, März 2018). Zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Studie lagen die Erfahrungen mit dem sehr eigenen Pandemie-Management durch Bundesregierung und Bundesländer noch nicht vor, wobei viele Bürger den Eindruck gewonnen hatten, die öffentlichen Verwaltungen waren noch sehr weit entfernt von sinnvoller Digitalisierung ihrer internen wie externen Kommunikation (z.B.

zwischen Gesundheitsämtern, Kliniken, Gesundheitsministerien...)

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tur ernannt.51 Im Übrigen hat praktisch jedes Ministerium seine eigene Digitalabteilung oder richtet eigene Kommissionen oder Projekte ein und trägt so zu einer beschämen-den Planlosigkeit und Dysfunktion des Staatswesens auch bei diesem Thema bei. Die Corona-Pandemie ab 2020 war dafür nicht die Ursache, sie hat dieses konzeptionelle Chaos nur deutlicher ans Licht gebracht.

Zwar hatte man - ähnlich wie im Wirecard-Skandal - im Kanzleramt Anfang 2019 auch die Nachricht der Agentur Reuters darüber nicht gelesen, dass Norwegens Spionage-Abwehr die eigene Regierung nachdrücklich vor Huawei gewarnt hatte, u.a. mit dem Hinweis, daß der Gründer von Huawei ein Ingenieur in militärischen Diensten war und weiterhin Mitglied der Kommunistischen Partei ist. Und dass “an actor like Huawei could be subject to influence from its home country as long as China has an intelligence law that requires private individuals, entities, and companies to cooperate with China.”52 Aber dann hatte Innenminister Seehofer (nicht Digitalminister Scheuer oder gar IT-Staatsministerin Bär) das „IT-Sicherheitsgesetz 2.0“ am 23.4.2021 durch den Bundestag verabschieden können. Darin kommt zwar der Name Huawei nicht vor. Aber :

BSI wird als Deutschlands zentrale Cybersicherheitsbehörde gestärkt: Das Bundes-amt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) erhält verstärkte Kompetenzen bei der Detektion von Sicherheitslücken und der Abwehr von Cyberangriffen.

Cybersicherheit in den Mobilfunknetzen: Das Gesetz enthält eine Regelung zur Un-tersagung des Einsatzes kritischer Komponenten zum Schutz der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit in Deutschland. 53

Beide gesetzliche Regelungen erleichtern in erster Linie das Ausbremsen von Huawei beim Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland.

Insgesamt überschlugen sich im Frühjahr 2021 die Ankündigungen über IT-Initiativen der Bundesregierung – schließlich gibt es viel kritische Diskussionen im ganzen Land und 2021 finden insgesamt 6 Wahlen statt. Gerade die bedrängten CDU-CSU-Minister dräng-ten daher vor:

 Die Bundesregierung hat das Ziel, Deutschland zum Leitmarkt für 5G zu entwickeln

 Anfang 2020 hat die Bundesregierung schon die Digitalinitiative „Deutschland spricht über 5G“ ins Leben gerufen. Ein dazu eingerichtetes Dialogbüro werde der Kontakt- und Anlaufpunkt sowie die Koordinierungsstelle der Initiative sein

 Das Landwirtschaftsministerium (Klöckner) hat das Konzept „Zukunftsbetriebe und Zukunftsregionen“ entworfen, um 5G-Anwendungen im Sinne einer nachhaltigen, digitalen und mit der Wertschöpfungskette in den ländlichen Räumen vernetzten Landwirtschaft zu ermöglichen. Und hat mit dem Ministerium für Verkehr und

51 die intransparenten Absprachen zwischen Minister Scheuer und den von ihm beauftragten Maut-Unternehmen bedeuten einen geschätzten Schaden von 500 Mio Euro für den Staats-haushalt (d.h., die Bundesbürger). Allein das Schiedsverfahren zur genaueren Eingrenzung des Skandals hatte bis Mitte April 2021 schon über 7 Mio Euro Kosten verursacht. Und der Minister ist weiterhin Mitglied im Merkel-Kabinett

52 Reuters (6.2.2019) in der Nachricht: “Hackers working on behalf of Chinese intelligence breached the network of Norwegian software firm Visma to steal secrets from its clients, cyber security researchers said, in what a company executive described as a potentially catastrophic attack.”

53 Pressemitteilung BMI, 23.04.2021: Bundestag verabschiedet IT-Sicherheitsgesetz 2.0

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digitale Infrastruktur (Scheuer) und dessen Mobilfunkrichtlinie sowie mit dem 5G-Innovationswettbewerb abgestimmt

 Die Forschungsförderung geht jetzt darüber hinaus, um 6G zu entwickeln.54

Bei diesem letzten Punkt wären die meisten Schulen in Deutschland froh, wenn sie wenigstens 4G für ihren „digitalisierten Unterricht“ nutzen könnten; und manche Behör-de würBehör-den beim Datenaustausch auch gerne ihr Faxgerät gegen ein digitales Endgerät eintauschen, besonders in Pandemie-Zeiten.

Beim digitalen Vergleich innerhalb der EU bleibt trotz aller Ankündigungen aus dem Bundes-kabinett der Unterschied zwischen den skandinavischen Ländern Dänemark-Finnland-Schweden einerseits und Deutschland andererseits sehr deutlich. Beide Seiten liegen zwar in allen Bereichen über dem EU-Durchschnitt, aber in Deutschland ist das Gros der Bevölkerung z.B. erheblich geringer mit Behörden elektronisch vernetzt als in Skandi-navien oder dem „skandinavischen“ Estland. Die DESI–Erhebungen der EU-Kommission weisen regelmäßig auf das große Gesamtpaket der Digitalisierung hin und präsentieren in einem Länder-Ranking, wie sehr sich EU-Mitglieder in den Bereichen Konnektivität, Know-how, Internetnutzung, Integration digitaler Technologien und E-Government ent-wickeln. Absolut in Führung liegen Dänemark, Finnland, Schweden. Deutschland folgt in deutlichem Abstand. Die skandinavischen Stärken – Breitbandausbau, Vernetzte Politik und Verwaltung – erweisen sich dabei weiterhin als die größten Schwächen Deutsch-lands. Die skandinavischen Länder liegen danach in allen gemessenen Segmenten der digitalisierten Wirtschaft und Gesellschaft oberhalb Deutschlands, aber besonders bei

„Connectivity“ und bei „digital public services“.55

Die Staatspräsidentin des kleinen, „skandinavischen“ Estland, am Rande Europas, kom-mentierte die Digitalisierung in Deutschland einerseits mit Stolz auf ihr eigenes Land, andererseits mit ungläubiger Verblüffung und bemüht als Beispiel elektronisch lesbare Personalausweise: „Wir haben unsere digitale ID-Karte im Jahre 2000 eingeführt. Es hat

54 Presseinformation Bundestag, 8.4.2021 (https://www.bundestag.de/presse/hib/832918-832918): Ausbau des Mobilfunkstandards 5G

55 DESI-Grafik übernommen aus: EU-Kommission: DESI https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi

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dann 6 bis 7 Jahre gedauert, bis eine kritische Masse von Bürgern sie eingesetzt hat. In Deutschland hat man erst vor Kurzem begonnen, die E-Ausweis-Funktionen einzuführen.

Wir reden also über einen Abstand von knapp 20 Jahren.“56

Ob Digitalisierung und Künstliche Intelligenz eingesetzt werden müssen, um durch Bitcoin-Spekulationen über Nacht zum Millionär zu werden, läßt sich ebenso hinter-fragen, wie die Sinnhaftigkeit eines elektronischen Börsenplatzes, wie NESDAQ in New York, den Skandalbanken, wie Goldman Sachs, zu milliardenschwerem Betrug nutzen konnten. An allzu vielen Stellen bleibt Digitalisierung mit seiner derzeitigen Intrans-parenz (nicht nur wegen Dark-Net) ein gewaltiger Stolperstein für zukunftsfähige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung. Ex-Präsident Trump hatte dies mit sei-nen Twitter-Orgien und der Legitimierung von fake-news überdeutlich werden lassen.

Aber Digitalisierung nutzen, um ein sozial und ökologisch destruktives Wirtschafts-system vom Neoliberalismus hinüber zur Kreislaufwirtschaft zu begleiten – das dürfte sehr hilfreich sein. Die angesprochenen Innovationen von zukunftsfähiger Stadtplanung und Bürgerbeteiligung dürften mit Hilfe elektronischer Systeme, wie „Connectivity“

und „digital public services“ ganz sicher auch in Deutschland Fortschritte in die richtige Richtung ermöglichen. Nur muß sich dazu vor allem die Bürgergesellschaft selber ermutigen. Die konservativen Regierungen der 2000er Jahre haben sich zu sehr in ihrer Sprechblasen-Welt festgesetzt oder sind moderne Diktaturen.

Mehr denn je gilt daher das Motto des WSF von Porto Alegre 2003:

„eine andere Welt ist möglich“ – nur nicht mit Merkel oder Putin oder Erdogan oder Bolsonaro ...

Weltsozialforum 2003, Porto Alegre:

die einen brauchen dringend den Wandel

die anderen zeigen, wie er möglich wird: auf der Basis gewaltfreier Kommunikation

56 Kersti Kaljulaid in einem SPIEGEL-Interview (20.4.2019): „Wir Esten glauben an freie Märkte“

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