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Der verfassungspolitische Aspekt der Cross-Strait relations

Kapitel VI. Zusammenfassung und Schlussüberlegungen

1. Der verfassungspolitische Aspekt der Cross-Strait relations

Eine Gefahr für die Verfassungsordnung Taiwans ist ihr unklares Verhältnis zur Verfassungsordnung Chinas. Da Taiwans Verfassung, i. e. die Verfassung der

Republik China schon vor Ausbruch des Chinesischen Bürgerkriegs verabsiedet wurde, konnte der Verfassungstext nicht mit der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 beziehungsweise der Außerkraftsetzung dieser Verfassung auf dem Festland rechnen. Dies in Verbindung mit der Tatsache, dass Taiwan China weiterhin nicht als einen Staat anerkennt, macht es aus verfassungsrechtlicher Sicht ungewiss, wie und in welcher Form Taiwan eine Beziehung mit China aufbauen kann. Erst mit der Verfassungsänderung in Form einer Ergänzung von Zusatzartikeln im Jahr 1991 wurde dieses Problem verfassungsrechtlich angegangen.283

Weil Taiwan auch 1991 nicht bereit war, die Volksrepublik China anzuerkennen, wurde die Beziehung zu China in den Zusatzartikeln der Verfassung implizit als eine Sonderbeziehung gestaltet. Nach der Präambel der Zusatzartikel wurden diese Artikel in die Verfassung aufgenommen, „um die nationalen Erfordernisse im Vorfeld der Wiedervereinigung zu erfüllen.“284 Der Zusatzartikel 11 sah vor: „Rechte und

283 Additional Articles of the Constitution of the Republic of China (1. Mai 1991; zuletzt geändert am 10. Juni 2005), englische Übersetzung abrufbar unter:

http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll.aspx?PCode=A0000002 (Stand: 18. April 2017).

284 Neben der Notwendigkeit, die Rechtsnatur der Beziehungen über die Taiwanstraße zu klären, beziehen sich die „Erfordernisse“ hier auch auf den Bedarf, den Staat zu demokratisieren und zu normalisieren. Obwohl die Forderungen der Zivilgesellschaft nach Demokratisierung in den 80er Jahren lauter wurden und schließlich 1987 in der Gründung der ersten echten Oppositionspartei (der DPP) in Taiwans Nachkriegsgeschichte mündeten, galt die politische Ordnung Taiwans bis 1991 noch

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Pflichten zwischen den Bürgern des Festlandchina-Gebietes und den des freien Gebietes können durch Gesetze bestimmt werden.“

Das heißt, nach diesen Rahmenregelungen ist Taiwans endgültige

Wiedervereinigung mit China schon bestimmt. Bevor dem Tag der Chinesischen Einheit soll China als ein Sondergebiet der Republik China betrachtet werden. Als Folge dieser Sonderbeziehung -- anders als im Fall einer nomalen diplomatischen Beziehung -- werden die Regierungsverhandlungen mit China und die

Rechtsverhältnisse zwischen den taiwanesischen und chinesischen Bürgern durch Sondergesetze geregelt,285 wobei der Act Governing Relations between the People of

als autoritär. Ein wesentlicher Grund war, dass die Verfassung nicht vollständig umgesetzt werden konnte. Das Kriegsrecht, das 38 Jahre lang gegolten hatte, wurde 1987 aufgehoben, und die vorübergehenden Bestimmungen der Mobilisierungszeit zur Unterdrückung der kommunistischen Rebellion (eine Verfassungsänderung, die nur vier Monate nach Inkrafttreten der Verfassung im Dezember 1947 bereits in Kraft getreten ist und die die eigentliche Verfassung in ihren wesentlichen Bestandteilen für 43 Jahre eingefroren hat. Im Folgenden: Übergangsbestimmungen) wurden erst am 1.

Mai 1991, nämlich dem selben Tag, an dem die Zusatzartikel in Kraft getreten sind, aufgehoben. Im Namen dieses 43 Jahre langen Ausnahmezustands wurden sämtliche Parlamentswahlen ausgesetzt (mit der Ausnahme von Nachwahlen, die zur Besetzung freier Stellen gedacht waren). Die vorübergehenden Bestimmungen lösten auch die konstitutionellen Hindernisse für die Wiederwahlen Chiang Kai-sheks, der viermal in Folge als Präsident wiedergewählt wurde, dem dann sein Sohn Chiang Ching-kuo für weitere zwei Amtszeiten bis zu seinem Tod im Jahre 1988 folgte. Die Zusatzartikel ermöglichten nicht nur die Parlamentswahlen im Dezember 1992, sondern auch die Präsidentschaftswahl im Jahr 1996, in der die taiwanesischen Bürger zum ersten Mal in der Geschichte ihren Präsidenten direkt wählten.

285 Im engeren Sinne gab es vor 2014 keine Regierungszusammenarbeit zwischen Taiwan und China.

Da die beiden Seiten sich nicht als ein Land erkannten, wurden alle Vereinbarungen zwischen den beiden von den oben genannten zwei Nichtregierungsorganisationen SEF und ARATS ausgehandelt.

Erst im Rahmen der 21. APEC-Wirtschaftsführer-Sitzung zwischen dem 7. und 8. Oktober 2013 fanden der Vorsitzende des taiwanesischen Festlandsrates und sein Amtskollege des chinesischen Staatsrates der Taiwan-Angelegenheiten in einer Hotellobby zusammen und begrüßten sich gegenseitig mit ihren offiziellen Titeln. Erst am 11. Februar 2014 hielten die Vorsitzenden dieser beiden Behörden eine historische erste intergouvernementale Sitzung in Nanjing, China.

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the Taiwan Area and the Mainland Area (Inkrafttreten im Jahr 1992, nachfolgend der Cross-Strait Relation Act) als Kernstück der Rechtsvorschriften gilt.

Dieser Rechtsrahmen erwies sich jedoch als unzureichendes Mittel, um die Verfassungsidentität Taiwans gegen mögliche negative Auswirkungen der KMT-Nähepolitik zwischen 2008 und 2016 abzuschirmen. Hinsichtlich des

innerstaatlichen Ratifikationsverfahrens für Abkommen zwischen Taiwan und China, die das wichtigste Instrument für den Aufbau von Beziehungen über die Taiwanstraße darstellen, ist in Artikel 5 Absatz 2 des Cross-Strait Relation Act lediglich vorgesehen:

Wenn zur Durchführung des Abkommens Gesetzesänderungen oder Neuregelungen durch Gesetz erforderlich sind, legt die zuständige Verwaltungsbehörde das Abkommen über den Exekutive Yuan dem Legislative Yuan innerhalb von 30 Tagen nach der Unterzeichnung zur Prüfung vor; wenn die Durchführung des Abkommens keine

Gesetzesänderungen oder Neuregelungen durch Gesetz erfordert, so legt die zuständige Verwaltungsbehörde das Abkommen dem

Exekutive Yuan zur Genehmigung und dem Legislative Yuan zu Protokoll vor.286

Der Grundgedanke dieser Bestimmung ist der Schutz der

Gesetzgebungskompetenz des Legislative Yuan (der offizielle Name des

taiwanesischen Parlaments). Wenn ein Abkommen zwischen Taiwan und China Gesetzesänderungen oder Regelungen durch neues Gesetz erfordert, so hat das

286 Act Governing Relations between the People of the Taiwan Area and the Mainland Area (31. Juli 1992; zuletzt geändert am 17. Juni 2015), englische Übersetzung abrufbar unter:

http://law.moj.gov.tw/Eng/LawClass/LawAll.aspx?PCode=Q0010001 (Stand: 18. April 2017).

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Legislative Yuan das Recht zu entscheiden, ob es das Abkommen akzeptiert oder nicht.

Im Gegensatz dazu, wenn keine Gesetzesänderungen oder gesetzliche Neuregelung erforderlich ist, ist das Legislative Yuan nur zu unterrichten.

Aufgrund der Tatsache, dass KMT nach 2008 erneut die absolute Mehrheit im Legislativ Yuan stellte, wurde die Entscheidung, welches der beiden Verfahren anzuwenden war, in den meisten Fällen de facto vom Executive Yuan (der offizielle Name der taiwanesischen Regierung) getroffen. Seine Entscheidungen in dieser

Hinsicht sind mit zwei Ausnahmen auf keine Einwände des Legislative Yuan gestoßen:

Eine Ausnahme betrifft das Luftverkehrsabkommen, die andere das sehr umstrittene CATS (Cross-strait Agreement on Trade in Services). In diesen beiden Fällen war das Exekutive Yuan der Meinung, dass die bloße Unterrichtung des Legislative Yuan ausreiche. Erst auf starken Druck der Zivilgesellschaft hin entschied sich das Legislative Yuan schließlich doch noch für die Durchführung des

Ratifizierungsverfahrens.

Die Unzulänglichkeit dieser lockeren parlamentarischen Kontrolle war

offensichtlich. Das Abkommen über Zusammenarbeit der Kriminalitätsbekämpfung und gegenseitige Rechtshilfe (Inkrafttreten in Taiwan am 30. April 2009; nachfolgend das Abkommen über gegenseitige Rechtshilfe) war eines dieser Abkommen, von dessen Unterzeichnung das Legislative Yuan lediglich unterrichtet wurde. Die Auswirkungen dieses Abkommens auf die Strafprozessordnung (nachfolgend StPO) Taiwans wurden daher nicht gründlich untersucht, was dazu führte, dass im Mordfall der Brüder Du das Oberste Gericht die StPO ohne ausreichende Informationen die Qualität der strafrechtlichen Ermittlungen Chinas bewertete. Infolgedessen wurde das äußerst wichtige Recht eines Angeklagten, Zeugen zu befragen, durch die

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Entscheidung des Gerichtshofs eingeschränkt.