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Ausgangspunkt: Mangelhafter Informationsstand in Taiwan

Kapitel VI. Zusammenfassung und Schlussüberlegungen

2. Der Mordfall der Brüder Du

3.1. Ausgangspunkt: Mangelhafter Informationsstand in Taiwan

Der Mordfall der Brüder Du zeigt deutlich die unsystematische

Informationsverarbeitung und den dadurch bedingten mangelhaften Kenntnisstand Taiwans von der verfassungsrechtlichen Realität Chinas. Dieses Informationsdefizit hat zur Folge, dass die Schutzmechanismen der Verfassungsordnung Taiwans gegenüber der Verfassungsordnung Chinas nicht ausreichen. Damit werden die Verfassungswerte Taiwans der Gefahr ausgesetzt, im Zuge von Kooperationen beider Länder umgangen zu werden.

Taiwan ist aufgrund seiner geografischen Lage unmittelbar von der Ausweitung des chinesischen Einflussbereiches betroffen. Es ist deshalb eine unerlässliche Aufgabe für Taiwan, Chinas rechtliche und politische Lage einzuschätzen, i. e., wie Demokratie, Menschenrechtsschutz und das Rechtsstaatsprinzip in China tatsächlich funktionieren.

Schon im Jahr 2000 gingen 24.44% der gesamten Exportverkäufe Taiwans nach China. Damit hat China die USA als größter Importeur taiwanesischer Waren abgelöst.

In den Folgejahren erhöhten sich Taiwans Exporte nach China in schnellem Tempo und kamen 2014 auf einen Anteil von 39.73% des Gesamtexports. Auch auf der Importseite hat China 2013 mit 17.99% der taiwanesischen Gesamteinfuhren Japan auf Platz zwei verdrängt und ist nun Taiwans wichtigster Handelspartner.

Dieser wirtschaftliche Bedeutungsgewinn Chinas geht einher mit dessen

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zunehmendem politischem Einfluss auf Taiwan. China hat immer schon Anspruch auf Taiwan erhoben und spricht nach wie vor von einem gemeinsamen Land mit Taiwan als chinesischer Provinz. Zugleich bleiben die Meinungen der Taiwaner zum Thema Wiedervereinigung mit China gespalten.290 Seine wachsende wirtschaftliche

Bedeutung ermöglicht es China, zunehmend Einfluss auf die öffentlichen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse in Taiwan auszuüben.

Im September 2008 erwarb der in China zu großem Reichtum gekommene taiwanesische Unternehmer Tsai Yan-Ming die China Times Media Group - den Mutterkonzern von China Times (eine der vier größten Tageszeitungen in Taiwan), der traditionsreichen China Television sowie dem TV-Kabelkanal CTI. Nach seiner Übernahme wurde dieses Medienkonglomerat zur einflussreichsten pro-chinesischen Stimme in Taiwan.

Der Hintergrund dieser Entwicklungen, das entscheidende Ereignis, das die derzeitige Strömung des immer intensiver gewordenen Zusammenspiels zwischen Taiwan und China fazilitiert hat, war allerdings der Sieg der Koumintang Partei bei der Präsidentenwahl. Nach dem Amtsantritt des Präsidenten Ma Ying-Jeou im Mai 2008, haben beide Seiten der Formosastraße nicht nur ein historisches Cross-Straits

290 Allerdings verschob sich das Verhältnis zwischen beiden politischen Lagern im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte deutlich zu Gunsten der Befürworter der Unabhängigkeit. Nach einer Langzeitstudie haben noch im Jahr 1992 66.6% der Befragten folgende Frage bejaht: “Stimmen Sie zu, dass sich die beiden Seiten der Formosastraße wiedervereinigen sollen, wenn sich Taiwan und China wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch angeglichen haben?” Nur 21.3% der Befragten verneinten diese Frage. Im Jahr 2011 waren die Zahlen umgekehrt: Nur 20.8% stimmten dieses Mal dafür, und 65.8% dagegen.

Naiteh Wu, Will Economic Integration Lead to Political Assimilation?, in: Chow (Hrsg.), National Identity and Economic Interest: Taiwan's Competing Options and Their Implications for Regional Stability, 2012, S. 187 (190).

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Economic Cooperation Framework Agreement (nachfolgend ECFA) unterschrieben, sondern zwanzig weitere unter dem Dach des ECFA stehende Abkommen geschlossen - darunter das oben genannte Abkommen über gegenseitige Rechtshilfe.

Mit Bedacht auf die acht Jahre Amtszeit eines Präsidenten aus der Democratic Progressive Party (nachfolgend DPP) zwischen 2000 und 2008, die die KMTs Herrschaft über Taiwan seit Ende der japanischen Kolonialzeit im Jahr 1945 kurzfristig unterbrochen haben und DPPs Entschlossenheit deutlich gezeigt haben, dass sie Taiwan schlicht als einen unabhängigen Staat regieren wollte und konnte, hat KMT ihre politische Agenda der Wiedervereinigung beschleunigt, sobald sie 2008 den Präsidentenposten zurückgewonnen hat.

Dieser Schritt erwies sich allerdings als kontrovers. Während die Mehrheit der taiwanesischen Bürger die potenzielle wirtschaftliche Möglichkeiten begrüßten, waren sie auch besorgt über die zu erwartende politische Nebenwirkungen dieser voreiligen Annäherungspolitik. Das Eintreffen im November 2008 in Taiwan der chinesischen Delegation für ECFA-Verhandlungen, welches auch das erste Mal war, dass ein Chef der ARATS (Association for Relations Across the Taiwan Straits, eine nichtstaatliche Einrichtung unter der Kontrolle vom Staatsrat Chinas und der

Ansprechpartner der taiwanesischen Straits Exchange Foundation) taiwanesischen Boden betrat, hat Massenproteste ausgelöst. Die delikate politische Andeutung dieses Besuches zeigte sich in der Tatsache, dass Präsident Ma dafür kritisiert wurde, dass er nicht auf seinen Amtstitel, Präsident der Republik China (Republic of China, R.O.C., Taiwans offizieller Name) bestand, als er den Chef der ARATS Chen Yun-Lin

empfing, wer ihn stattdessen Herrn Ma nannte.

Im März 2014 wurde KMTs Bestreben zur Ratifizierung des Cross-strait

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Agreement on Trade in Services (nachfolgend CATS, ein anderes Abkommen unter dem Dach des ECFA) angehalten von 400 Studenten, die zum ersten Mal in Taiwans Geschichte das Parlament besetzten, und 500 tausend Bürger, die kurz danach vor dem Präsidentenpalast demonstrierten und ihre Solidarität mit den Studenten zeigten.

Die Hauptbedenken dieser Demonstranten seien, z. B., dass das Einlassen chinesischer Verlage auf dem taiwanesischen Buchmarkt kleinen taiwanesischen Verlage vernichten und damit freie Meinungsäußerung unterdrücken würde, und dass die Öffnung der Telekommunikations- und Datenspeicherungsdienste zum

chinesischen Wettbewerb die nationale Sicherheit gefährden würde.

Da KMT zwischen 2008 und 2016 sowohl den Präsidenten als auch die Mehrheit im Parlament stellte, war die parlamentarische Kontrolle über die Handlungen der Regierung in dieser Zeit eher schwach ausgeprägt. Es ist ein übliches Phänomen der modernen Demokratie, dass die parlamentarische Kontrolle tendenziell schwach ist, wenn die gleiche Partei sowohl die Exekutive als auch die Legislative kontrolliert.

Deshalb liegt es auf der Hand, dass Taiwan einen Mechanismus etablieren muss, der umfassende Information zur rechtstaatlichen und menschenrechtlichen Praxis Chinas und deren Berührungspunkte mit den verfassungsrechtlichen Werten Taiwans bietet.

Unabhängig davon, welche Partei Regierung und Parlament stellt, liegt es im fundamentalen Interesse Taiwans, sorgfältig die möglichen Auswirkungen seiner Annäherungsschritte an China zu kalkulieren.

Die durch diesen Mechanismus gesammelten Informationen und die damit durchgeführte Bewertung würden der Exekutive, der Legislative und der Judikative zur Verfügung stehen, die durch dieses Hintergrundwissen in die Lage versetzt würden, mit China zu verhandeln, einen geeigneten Rechtsrahmen für die

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Taiwan-China-Beziehungen zu schaffen sowie in gerichtlichen Verfahren mit

„Cross-Strait“-Dimensionen Urteile auf Grundlage ausreichender Informationen zu fällen. Darüber hinaus sollen diese Informationen allgemein zugänglich sein, so dass die breite Öffentlichkeit mit Hilfe dieses Mechanismus in der Lage ist, die Regierung in Fragen der Taiwan-China-Beziehungen zu kontrollieren.