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Die vierte Phase (2009–Gegenwart): Hervortreten der

Kapitel VI. Zusammenfassung und Schlussüberlegungen

2. Die Entwicklungsgeschichte des Minimums von Homogenität

2.4. Die vierte Phase (2009–Gegenwart): Hervortreten der

Beitritt

Erweiterung

Eine Herausforderung in der gegenwärtigen Phase der EU-Erweiterung ist der mögliche Beitritt der Türkei. Wenn die EU die Türkei aufnimmt, wird diese gemessen an ihrer Bevölkerungszahl der zweitgrößte Mitgliedstaat in der Union sein. Bliebe die Gestaltung des Entscheidungsprozesses der Union danach unverändert, würde die Türkei aufgrund ihrer Bevölkerungszahl erheblichen Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess Europas bzw. die EU-Gesetzgebung haben. Würde es hingegen den Mitgliedstaaten in den laufenden Beitrittsverhandelungen gelingen, die Türkei nach einem Beitritt weiterhin aus den wichtigen EU-Entscheidungsprozessen auszuschließen, würde dadurch dem Recht der türkischen Bürger als EU-Bürger auf demokratische Beteiligung eine problematische Schranke auferlegt, und folglich der Grundsatz der Demokratie erschüttert.67

67 Kirstyn Inglis, Evolving Practice in EU Enlargement: With Case Studies in Agri-Food and Environment Law, 2010, S. 54.

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Konsolidierung

Was die Verfassungsordnung der EU anbelangt, so wurde die bekannteste Krise der letzten Jahre von Ungarn ausgelöst. Mit seiner neuen Verfassung von 2012, dem Grundgesetz Ungarns, und den folgenden Verfassungsänderungen, insbesondere der vierten Änderung von 2013, verwandelte sich Ungarn in eine illiberale Demokratie.

Im Grundgesetz Ungarns wird unterschieden zwischen “one single Hungarian nation” (Art. D) und “the nationalities living with us” (National Avowal). Das ist eine Unterscheidung, die dem Art. 2 EUV widerspricht, wonach eine Gesellschaft ohne jegliche Ausgrenzung gefordert wird.68 Darüber hinaus fordert das Grundgesetz Ungarns für viele Sachverhalte, dass die Einzelheiten des Grundrechtsschutzes und wichtige institutionelle Gestaltungen durch sogenannte “cardinal Acts” zu bestimmen sind. Das Zustandekommen solcher Gesetze benötigt eine Zweidrittelmehrheit der Nationalen Versammlung (Art. T (4)). Das bedeutet, dass zahlreiche „cardinal Acts“, die die jetztige nationalistische Super-Mehrheit verabschiedet hat, nicht so einfach von einer zukünftigen Regierung, die nicht über eine Super-Mehrheit in der Nationalen Versammlung verfügt, wieder geändert werden können — ein erhebliches Hindernis für den demokratischen Prozess.69 Dazu hat die vierte Änderung zum Grundgesetz Ungarns die Rechtskraft aller Entscheidungen des Verfassungsgerichts Ungarns, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes Ungarns am 1. Januar 2012 getroffen wurden, aufgehoben.70 Diese Klausel hat die Stellung des einst einflussreichen und liberalen

68 Editorial comments, Hungary’s New Constitutional Order and “European Unity”, Common Market Law Review 49 (2012), 871 (874).

69 Editorial comments, ebd., S. 875.

70 Art. 19 (2), Fourth Amendment to the Fundamental Law of Hungary: “Point 5 of the Fundamental

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Verfassungsgerichts stark geschwächt.

Die EU hat darauf lediglich mit vereinzelten und isolierten Gegenmaßnahmen reagiert. Zwar bietet Art. 7 EUV die Möglichkeit, Sanktionen gegen einen

Mitgliedstaat, der die europäischen Werte „schwerwiegend und anhaltend“ verletzt hat, zu verhängen. Aufgrund der hohen Hürde, die Art. 7 für die Aktivierung des

Sanktionsverfahrens setzt, sowie des Widerstands der Europäischen Volkspartei — der größsten Partei im Europäischen Parlament — gegen Sanktionen, blieb dieser

Mechanismus im Fall Ungarns jedoch unbenutzt.71 Stattdessen verklagte die

Kommission Ungarn im Zuge der Verabschiedung dreier neuer ungarischer Gesetze wegen möglichen Verstoßes gegen EU-Rechte.

Da die Kommission ihre Angriffsziele vorsichtig gewählt hatte, war das Ergebnis dieser Taktik fruchtbar. Der EuGH kam in seinen Urteilen zu dem Ergebnis, dass Ungarn mit der Verabschiedung zweier dieser Gesetze die ihm obliegenden Pflichten aus EU-Recht nicht erfüllte.72 Hinsichtlich des dritten von der Kommission

Law shall be replaced by the following provision: ‘5. Constitutional Court rulings given prior to the entry into force of the Fundamental Law are hereby repealed. This provision is without prejudice to the legal effect produced by those rulings.’”

71 Bojan Bugarič, Protecting Democracy and the Rule of Law in the European Union: The Hungarian Challenge, LSE "Europe in Question" Discussion Paper Series, LEQS Paper No. 79/2014, 2014, S. 4, 16.

72 Europäischer Gerichtshof, Kommission gegen Ungarn, 6. November 2012 – C-286/12, die digitale Sammlung (Allgemeine Sammlung) November 2012, abrufbar unter:

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62012CJ0286 (Stand: 18. April 2017); Europäischer Gerichtshof, Kommission gegen Ungarn, 8. April 2014 – C-288/12, die digitale Sammlung (Allgemeine Sammlung) Aril 2014, abrufbar unter:

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:62012CJ0288 (Stand: 18. April 2017).

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beanstandeten Gesetzes lenkte Ungarn noch vor Klageerhebung ein und änderte die kontroversen Bestimmungen.

Zwar war das Vorgehen der Kommission erfolgreich. Dabei wurde jedoch versäumt, das eigentliche Problem direkt aufzugreifen. Z. B., in Kommission gegen Ungarn (Rs. C-286/12) wurde Ungarn vom EuGH verurteilt, weil die ungarischen Rechte über die Altersgrenze, die zur zwingenden Beendigung des Dienstes der Richter und Staatsanwälte führen, eine Diskriminierung aufgrund des Alters

darstellten.73 Folglich verabschiedete das ungarische Parlament ein neues Gesetz, in dem unter anderem geregelt ist, dass sämtliche Richter und Staatsanwälte, die

zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden waren, ohne Anrufung eines Gerichts wieder auf ihre Stelle zurückkehren können. Darüber hinaus werden sie für

entgangene Gehaltszahlungen entschädigt. Nach Ansicht der Kommission hatte Ungarn mit dieser Gesetzgebung sein innerstaatliches Recht mit der

Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie wieder in Einklang gebracht.74 Es gab jedoch Indizien dafür, dass eine nicht unbedeutende Zahl von Richtern dafür entschieden hatte, nicht auf ihre Stelle zurückzukehren.75 Mit anderen Worten: Obwohl die

73 Europäischer Gerichtshof, Kommission gegen Ungarn, oben Fn. 72, C-286/12.

74 Kommission, Pressemitteilung: EU-Kommission stellt Vertragsverletzungsverfahren wegen Senkung des Rentenalters für ungarische Richter ein, 20. November 2013, abrufbar unter:

http://europa.eu/rapid/press-release_IP-13-1112_de.htm (Stand: 18. April 2017).

75 Nach Angabe der Kommission wurden 274 Richter und Staatsanwälte in die Frühpension erzwungen (Kommission, ebd.). Nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes haben laut einem Bericht des

Außenministeriums der Vereinigten Staaten 56 Richter Entschädigung verlangt und erhielten, und dafür entschieden, nicht auf ihre Stelle zurückzukehren. Bureau of Democracy, Human Rights and Labor of the U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2014: Hungary, 2014, S.

13, abrufbar unter:

https://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/2014humanrightsreport/index.htm?year=2014&dlid=236532

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ungarische Regierung den Rechtsstreit verloren hatte, war es ihr jedoch gelungen, einen nicht unerheblichen teil des hohen Richteramtes umzubesetzen.76

Die Verfassungsordnung Ungarns als Ganze war gefährdet, und ein Schwächung der nationalen Verfassungsordnung jedes einzelnen Mitgliedstaats ist wiederum schädlich für die Verfassungsordnung Europas als Ganze.77 Die gesetzliche Grundlage der Klagen der Kommission, nämlich Art. 258 AEUV, ist ein Rechtsmittel gegen einzelne Abweichungen eines Mitgliedstaats von seinen Vertragsverpflichtungen, nicht aber gegen den allumfassenden Rückbau einer nationalen Verfassungsordnung.78 Da im Fall Ungarns die Anwendung des Art. 7 EUV, d. h., die Anwendung der einzigen Maßnahme gegen eine veritabele Krise der nationalen Verfassungsordnung, aus politischen Gründen unmöglich war, zeigte die EU, dass sie solchen Krisen nicht adäquat begegnen kann.

Diese missliche Lage steht in scharfem Kontrast zur großen Fähigkeit der Union, in der Phase der Beitrittsvorbereitungen die Kopenhagener Kriterien möglichst streng durchzuführen. Die zugrundeliegende Ursache dieses Unterschieds ist eine Diskrepanz zwischen den Schutzmaßnahmen für die europäischen Kernwerte vor und nach einem Beitritt. Die Inkongruenzen befinden sich sowohl in der Überwachungspraxis, als

(Stand: 18. April 2017).

76 Kim Lane Scheppele, Enforcing the Basic Principles of EU Law Through Systemic Infringement Actions, in: Closa/Kochenov (Hrsg.), Reinforcing Rule of Law Oversight in the European Union, 2016, S. 105 (109–110).

77 Bugarič, oben Fn. 71 (22).

78 Editorial comments, oben Fn. 68 (882).

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auch in den Sanktionsmechanismen.79

3. Kopenhagen Kriterien und Art. 7 EUV als Schutzmechanismen