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Schul- und Erziehungskultur als Prädiktoren für das Gewalthandeln von Schülern

Im Dokument Gewalt als soziales Problem an Schulen (Seite 195-200)

Wer ist Täter, wer ist Opfer und wer beides zugleich?

6. Schulkultur und ihre Auswirkung auf Gewalt

6.3 Schul- und Erziehungskultur als Prädiktoren für das Gewalthandeln von Schülern

Wie in der theoretischen Einführung zu diesem Kapitel dargelegt, kommt der Schulkultur eine hohe Bedeutung in bezug auf die Qualität und Entwicklung von Schule zu, so daß wir auch für die Gewaltthematik – trotz der zuletzt auf-geworfenen Fragen – von einer Relevanz dieses Einflußfaktors ausgehen (vgl.

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unser Theoriemodell, Abb. 6-). Um dies zu überprüfen, wurde untersucht, ob und welche Zusammenhänge sich zwischen Parametern der Schulkultur, wie sie im vorangegangenen Teil entwickelt und beschrieben worden sind, und Aspekten des Gewaltsyndroms feststellen lassen. Bei den Indizes für Gewalt halten wir uns ebenfalls an die bereits eingeführte Systematik, die Aspekte des Selbstreports als Täter oder Opfer, das Unbeteiligtsein umfaßt (vgl. Kap.

5), verzichten aber aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Darstellung der Ergebnisse für die Einstellungen zur Gewalt bzw. zu den Kompetenzen des Umgangs mit Gewalt, für die sich dieselben Antwortstrukturen ergeben. Die Ergebnisse der bivariaten Analyse sind in der folgenden Tabelle 6-5 zusam-mengefaßt.

Die hier dargestellten Korrelationen basieren auf aggregierten Daten, das heißt beispielsweise, daß der Faktor „harte Aggressionen“ nicht wie bei In-dividualdaten den Täterstatus ausdrückt, sondern ein bestimmtes Niveau der Belastung durch harte Aggressionen in bezug auf die jeweilige Klasse, der die Schüler angehören. Ebenso gibt der Faktor „Unbeteiligte“ die diesbezüglichen Bedingungen in den Klassen an und nicht das individuelle Unbeteiligtsein als Täter oder Opfer.

Die durchgehend hoch ausfallenden Korrelationsmaße und das Signifi-kanzniveau der festgestellten Zusammenhänge dokumentieren, daß ein evi-denter Zusammenhang von Schulkultur und Gewalt besteht. In den Klassen mit hohem Anteil des Unbeteiligtseins an Gewalt ist auch die Lehrerprofes-sionalität hoch, das Klassengefüge intakt, es bestehen überdurchschnittliche Beteiligungsmöglichkeiten für die Schüler, und die Schülerbefindlichkeit ist sehr positiv. Außerdem wird das mittel- und unmittelbar auf Gewalt bezogene Verhalten der Lehrer als wichtiger Einflußfaktor deutlich: Sowohl abwertendes als auch manifest-aggressives und etikettierendes Lehrerhandeln wirken ver-stärkend auf Gewalt. Zwar ergibt sich dieses Verhalten aus Interaktionen mit den Schülern und ist, da es sich um Korrelationen handelt, prinzipiell in beide Richtungen – als Aktion oder Reaktion – zu interpretieren. Da aber in Täter- wie in Opferperspektive gleichermaßen ein solches Lehrerhandeln registriert wird, kann man nicht sagen, daß dieses nur eine Reaktion auf Schüleraggres-sionen ist, sondern daß Lehrer zum Teil auch mit ihrem eigenen Verhalten zur Gewaltemergenz beitragen.

Neben dem auf Gewalt bezogenen Lehrerhandeln erweisen sich zwei weitere Bereiche als bedeutsame Indikatoren für alle hier untersuchten Merk-male der Gewaltemergenz: das Sozialgefüge der Klasse und zwei Aspekte der Schülerbefindlichkeiten, das Wohlfühlen in der Klasse und die Schulfreude.

Ansonsten sind die beiden folgenden Muster auffällig:

− Die meisten Parameter der Schulkultur wirken – sei es verstärkend, sei es präventiv – stärker auf die weicheren Gewaltformen als auf die härteren.

Dieses Phänomen hatten wir bereits bei den Einflüssen der familialen Sozialisation festgestellt.

Tab. 6­5: Zusammenhang zwischen Elementen der Schulkultur und Gewalt (Korrelationen)

Didaktische Kompetenz -.57** -.41** -.19** .04** .50** -.64** -.31**

Pejoratives Lehrerhandeln .56** .48** .27** .18** -.50** .50** .25**

Aggressives Lehrerhandeln .68** .64** .39** .15** -.58** .64** .52**

Etikettierendes Lehrerh. .55** .60** .44** .34** -.54** .54** .56**

Förderkompetenz -.42** -.27** -.06** .13** .32** -.50** -.15**

Gerechtigkeit -.45** -.37** -.14** .03** .37** -.48** -.33**

Diskursorientierung -.45** -.37** -.14** .02** .38** -.50** -.24**

Schülerorientierung -.43** -.31** -.08** .04** .37** -.43** -.18**

Klassenkohäsion -.31** -.30** -.15** -.14** .29** -.28** -.29**

Konkurrenz in der Klasse .26** .28** .21** .28** -.24** .13** .23**

Desintegration .46** .45** .31** .32** -.41** .35** .37**

Partizip. Unterrichtsebene -.42** -.22** .01** .08** .30** -.44** -.04**

Partizipation Schulebene -.40** -.18** -.03** .11** .27** -.36** -.10**

Schulraumqualität -.29** -.27** -.09** -.09** .23** -.19** -.29**

außerschulische Angebote -.23** -.18** -.05** -.01** .19** -.20** -.12**

Schulfreude -.55** -.49** -.29** -.17** .48** -.54** -.43**

Schulangst -.31** -.26** -.16** .08** .28** -.31** -.36**

Leistungsdruck .26** .11** -.03** -.15** -.19** .29** -.14**

Sinn des Lernens -.53** -.38** -.15** .09** .41** -.61** -.33**

Wohlfühlen in Klasse -.33** -.43** -.28** -.39** .30** -.32** -.42**

Lehrerintervention -.27** -.32** -.18** .00** .15** -.42** -.22**

* p < .05; ** p < .01

weitere Aggressionen (Täter) härtere Aggressionen (Täter) Opfer sach- bezogener Gewalt Opfer perso- nenbezogener Gewalt Unbeteiligte schuldeviantes Verhalten delinquentes Verhalten

− Mit Ausnahme der drei Bereiche, die auf alle Facetten von Gewalt wir-ken (gewaltbezogenes Lehrerhandeln, Klassensituation, schulklimatische Aspekte der Schülerbefindlichkeiten) ist die Effektstärke der Schulkultur deutlich höher in bezug auf den Täterstatus als in bezug auf den Opfer-status.

Um diese Unterschiede zu verdeutlichen wurden die Kategorien weichere und härtere Aggressionen zum Indikator „Täterbelastung einer Klasse“ und die beiden Kategorien Opfer sachbezogener und personenbezogener Gewalt zum Indikator „Opferbelastung in einer Klasse“ zusammengefaßt. Die folgende Ta-belle 6-6 zeigt die Aspekte der Schulkultur, die am deutlichsten in bezug auf die Täter- bzw. Opferbelastung einer Klasse diskriminieren.

Tab. 6­6: Einfluß ausgewählter Aspekte der Schulkultur auf die Täter- und Opferbelastung einer Klasse

Täter-Opfer-Belastung

Schulkultur Täter Opfer

Didaktische Kompetenz -.48** -.05

Gerechtigkeit -.41** -.04

Förderkompetenz -.37** .02

Diskursorientierung -.46** -.02

Schülerorientierung -.37** -.01

Partizipation im Unterricht -.30** .06

Partizipation in der Schule -.27** .06

Außerunterrichtliche Angebote -.27** -.04

Lehrerintervention -.29** -.07

** p < .01

Die Daten belegen, daß die allgemeinen Aspekte der Schulkultur, wie die Lehrerprofessionalität, das Verhältnis der Lehrer zu den Schülern, die Parti-zipationsmöglichkeiten und das außerunterrichtliche Angebot einen großen Einfluß auf die Täterbelastung in den Klassen haben. Im Hinblick auf Prä-ventionsstrategien kann man daraus ableiten, daß eine Verbesserung der Lernkultur und der Schulkultur insgesamt einen geeigneten Ansatzpunkt für Präventions- und Interventionsstrategien darstellen. Die zuletzt vorgestellten Daten zeigen aber ebenso deutlich, daß Strategien der Entwicklung von Schul- und Lernkultur – so geeignet sie sind, Gewaltemergenz insgesamt zu begeg-nen – wenig in bezug auf den Opferstatus bewirken. Offenbar ist dieser Status

biographisch nachhaltiger durch eine Kontinuität der Sozialisations- und Op-fererfahrungen geprägt, die mit entsprechenden Persönlichkeitseigenschaften konvenieren, als dies für die Täterrolle zutrifft. Hinzu kommt, daß die Täter als Störenfriede von den Lehrern schnell erkannt sind und man ihrem Treiben Einhalt gebieten kann, während die Opfer schulischer Gewalt von den Lehrern häufig gar nicht erkannt werden, weil sie im Sozialverhalten wenig auffällig sind, vielleicht sogar zu den besseren Schülern gehören und sich mit ihrem geringen Selbstwertgefühl eher im Hintergrund halten (vgl. Kap. 5 und 8).

So gesehen ist es auch nicht verwunderlich, daß die Lehrerintervention bei Gewalt zwar die Täter-, nicht aber die Opferbelastung einer Klasse eindämmt.

Die Konsequenz für Prävention und Intervention lautet, daß eine Doppelstra­

tegie erfolgen muß, die einerseits auf eine Optimierung von Schulqualität im Bereich von Unterricht und Schule insgesamt zielt und geeignete Kommunika­

tionsformen mit auffälligen Schülern einschließt, andererseits opferbezogene Maßnahmen einbeziehen muß, die eher auf der Individual­ und der Klassene­

bene anzusiedeln sind. Dafür spricht auch die relativ starke Auswirkung der Variablen zur Beschreibung der Qualität des Klassengefüges, die auch für den Opferstatus gelten (vgl. Tab 6-5). Wir versuchen daher, mit einem auf diese doppelte Anforderungsstruktur abgestimmten Präventionskonzept in Modell-schulen zu arbeiten (vgl. Kap. 8).

Um dem Einwand zu entgehen, daß Korrelationen nicht als Kausalitä-ten zu interpretieren sind, haben wir mehrere multiple Regressionsanalysen durchgeführt und festgestellt, daß bei der Entstehung schulischer Gewalt das aggressive und etikettierende Lehrerverhalten eine große Rolle spielt, aber auch Aspekte der Klassensituation, wie Desintegration, und Aspekte der Schü-lerbefindlichkeit (Wohlfühlen in der Klasse, Sinn des Lernens, Schulfreude).

Immer spielt auch ein hoher Jungenanteil in den Klassen gewaltunterstützend mit hinein, während der Leistungsdruck nur bei der Wahrnehmung härterer Aggressionen eine leichte Effektstärke zeigt.

Offene Fragen zu Ost­West­Unterschieden in bezug auf Schulkultur und Gewalt

Kehren wir noch einmal zu unseren Ausgangsfragen zurück, die wir ange-sichts der großen schulkulturellen Unterschiede in Ost- und Westdeutschland gestellt haben. Wenn die Schulkultureffekte so stark sind, wie wir zuletzt belegen konnten, besteht ein Erklärungsbedarf in bezug auf das fast gleiche Gewaltniveau in Sachsen und Hessen. Unsere Interpretation dieser scheinbar widersprüchlichen Datenlage lautet wie folgt:

− Die Ausgangsbedingungen bei den außerschulischen Gewaltprädiktoren und auch einigen Persönlichkeitsmerkmalen sind nicht völlig gleich. So bestehen beim Familienklima, dem intoleranten Binnenklima in den Peers

und bezüglich der Aggressionsbereitschaft gewisse Unterschiede, die wir als Risikofaktoren für die sächsischen Schüler interpretieren.

− Wir haben in all unseren Untersuchungen festgestellt, daß in den Schulen Ostdeutschlands – trotz der Veränderung der gesellschaftlichen Rollen der Kinder in der Familie und der Jugendkultur sowie der Gleichheit der Her-anwachsenden auf dem Markt – auf Grund der besonderen Kontinuität der Lehrerschaft und der Systemkontinuität als Staatsschule tradierte Vorstel-lungen von pädagogischem Handeln und aus der Sicht der Lehrer bewährte Strukturen und Rollen fortgeschrieben wurden. Diese Beharrlichkeit des Systems Schule wird von den Schülern nur zum Teil in Frage gestellt.

D.h., daß die Schulkultur, wenn man sie als Gesamtkomplex der äußeren Gewaltregulation begreift, in Ostdeutschland noch funktioniert, während die Akzeptanz von äußeren Regulationsmechanismen bei Schülern in Westdeutschland geringer ist.

− Ein weiterer Grund für die Gemeinsamkeiten der Gewaltbelastung in Ost und West besteht darin, daß sich nur bestimmte und eher die allgemei-nen Aspekte der Schulkultur unterscheiden, dagegen bei den eher ge-waltbezogenen Aspekten keine oder nur geringe Unterschiede bestehen (vgl. Abb. 6-); dies ist sowohl beim pejorativen, aggressiven und etiket-tierenden Lehrerhandeln der Fall wie auch bei mehreren Aspekten, die die Klassensituation (Klassenkohäsion und Konkurrenz) betreffen, also bei den beiden Erklärungsdimensionen, die sich multivariat als besonders einschlägig erwiesen hatten.

Faktoren der Gewaltregulation

Ein letzter Aspekt der Modellprüfung bleibt noch offen: die Frage nach den intervenierenden Variablen der äußeren Regulation, die z.B. in den Studien von Olweus immer wieder herausgestrichen wird (vgl. u.a. Olweus 995) und die der Selbstregulation, die z.B. in den Arbeiten zur moralischen Sozialisation unter dem Stichwort der „Transformation des moralischen Denkens“ (vgl.

zusammenfassend Oser/Althof 99) ausführlich diskutiert worden ist. Nun haben wir nicht all die Variablen in unserer Untersuchung erfragt, die zur Prüfung derart anspruchsvoller und komplexer Theorien notwendig wären, allerdings wollen wir einzelne Aspekte der äußeren Gewaltregulation in Form der Interventionsbereitschaft der Lehrer und der Schüler bei auftretenden Kon-flikten und beobachteten Gewalthandlungen sowie der internen Steuerung (Gewaltbefürwortung, Aggressionsbereitschaft, diskursive Streitkompetenz) in ihren Auswirkungen auf Gewalthandeln überprüfen.

Zu den äußeren Regulationsmechanismen wurde festgestellt, daß Lehrer- und Schülerintervention nicht konvenieren und keine sinnvolle Grundlage für eine Clustereinteilung bilden. Dies ist u.E. darauf zurückzuführen, daß Schü-lerinterventionen nicht immer in friedvoller Absicht oder im Sinne positiver

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