• Keine Ergebnisse gefunden

Schreibresultat und Bedeutung

Im Dokument Schreiben mit der Hand (Seite 82-90)

6.1 Geschriebenes: Die Realisation von Schrift

Das Ergebnis des Schreibens, d. h. die Realisation von Schrift, heisst G e ­ s c h r i e b e n e s . Schrift wird also im Gebrauch zu Geschriebenem, zu einer Anordnung konkreter Graphe, einem sicht­ und/oder greifbaren Artefakt aus zum Beispiel Papier und Tinte. Im allgemeinen Sprachgebrauch ebenso wie in der linguistischen Tradition wird das Resultat des Schreibens gewöhnlich

eher als »Text« bezeichnet und tatsächlich sind die beiden Begriffe partiell synonym. »Text« ist ein ebenso vieldeutiger Begriff wie »Schrift« oder »Medi­

um«, die Wortherkunft (von lateinisch »textus« = Gewebe, vgl. Kluge & See­

bold 2011: 915) deutet aber bereits darauf hin, dass sich der Ausdruck stark auf den Inhalt von Geschriebenem bezieht, also (auch) auf semantische As­

pekte referiert. Texte werden verfasst, Geschriebenes wird geschrieben (zu dieser Differenzierung s. o. Kap. 5.1). Mit dem Begriff »Geschriebenes« wird, wie bereits Michael Ott und Sarah Kiyanrad festgehalten haben, stärker als mit »Text« die »chronologische Komponente« betont und »ein zeitliches ›ex­

post‹« etabliert (Ott & Kiyanrad 2015: 157). Während ein und derselbe »Text«, je nach Auslegung des Begriffs, durchaus millionenfach in verschiedenen Schriften auf Bildschirmen, in Büchern und auf Plakaten stehen kann, gibt es von jedem Geschriebenen genau ein Exemplar. Jedes Kopieren erzeugt etwas Neues, ein neues Geschriebenes (ausgelöst durch eine neue Schreib­

bewegung). Auch ist Geschriebenes im hier vertretenen Verständnis und im Gegensatz zu Texten nie etwas Mentales, es steckt nicht im Kopf (weder in jenem der Schreiberin noch in dem der Leserin), enthält keine Interpretation, ja noch nicht einmal Bedeutung. Geschriebenes ist realisierte Schrift, nicht mehr und nicht weniger.

Ott und Kiyanrad führen den Ausdruck »Geschriebenes« auch deshalb ein, um von ihm aus auf das Schreiben bzw. Teile davon rückzuschliessen.

Das Problem dabei ist, dass in synchroner Perspektive die einzelnen Teile medialer Gefüge derart ›modular‹, also vielfältig kombinierbar, geworden sind, dass dem Geschriebenen oft nicht mehr anzusehen ist, welche Medien und welche Schreibbewegungen zu ihm geführt haben. Eine E­Mail, die auf dem Bildschirm der Empfängerin in einer bestimmten Schrift realisiert wird, kann von der Senderin auf einem PC (bzw. der zugehörigen Tastatur) getippt worden sein, sie kann aber auch dem Smartphone diktiert oder mit dem Stift auf ein Tablet geschrieben worden sein. Unterschiedliche Herstellungs­ und Versandarten, also partielle Differenzen in den verwendeten medialen Gefü­

gen, sind dem Geschriebenen nicht unbedingt anzusehen. Denkbar bzw. er­

wartbar ist, dass sich die unterschiedlichen Schreibweisen in divergierenden medialen Gefügen am Text zeigen, also auf semantischer und/oder sprachsys­

tematischer Seite. Schliesslich herrscht in den Medienwissenschaften und in der Linguistik inzwischen darüber Konsens, dass »das Medium« in vielfacher Weise auf »die Botschaft« zurückwirkt (im Anschluss an Marshall McLuhans

viel zitiertes Diktum, das Medium sei die Botschaft, vgl. McLuhan 1968: 13, siehe auch Krämer 1998: 75–78). Sybille Krämer schreibt präzisierend, dass

»die Botschaft […] die Spur des Mediums« (Krämer 2002a: 332) sei. Auf jeden Fall ist es naheliegend, dass sich die Art des Verfassens einer Nachricht in der Nachricht selbst spiegelt: Zum Beispiel bildet die Verfasserin eines Tex­

tes möglicherweise systematisch komplexere Sätze, wenn sie eine Nachricht (sei es eine E­Mail, eine WhatsApp­Nachricht etc.) auf der PC­Tastatur tippt und nicht auf dem Smartphone (vielleicht schreibt auf einem Gerät auch die Autokorrektur mit bzw. wirkt sich auf das Geschriebene aus, auf dem ande­

ren nicht). Solche Unterschiede werden aber erst sichtbar, wenn man Graphe bzw. ihre Realisation als Sprachzeichen interpretiert und also die Ebene des Geschriebenen verlässt und den Text in den Blick nimmt (s. u. Kap. 6.3).

6.2 Handgeschriebenes

So wie Geschriebenes als Realisation von Schrift aus dem Schreiben hervor­

geht, entsteht Handgeschriebenes durch das Handschreiben in Handschrift.

Es wurde weiter oben schon viel zu Handschrift und Handgeschriebenem gesagt, so dass diese Analogie zur Begriffsbestimmung eigentlich ausreichen müsste. Allerdings ist man auch im Zusammenhang mit Handschriftlichkeit mit dem mehrfach erwähnten Umstand konfrontiert, dass heute mediale Gefüge im Einsatz sind, die den Spur­Charakter des Geschriebenen verwi­

schen (zumindest mit Blick auf die graphischen Formen). Wenn Geschriebe­

nes als Nachricht auf einem Bildschirm erscheint, kann die Empfängerin in aller Regel nur vermuten, auf welche Weise es realisiert wurde. Es ist nicht nur denkbar, sondern Teil der kommunikativen Realität, dass jemand von Hand (mit dem Stift) Graphe einer Handschrift realisiert und diese mehr oder weniger unmittelbar in Geschriebenes einer anderen Schrift umgewandelt werden. Ein illustratives (wenn auch fiktives) Beispiel einer solch unmittel­

baren Umwandlung von Handgeschriebenem findet sich in einer Szene des Spielfilms The Hunger Games: Mocking jay (Part 1), der in einer nicht näher bestimmten Zukunft spielt (s. u. das Standbild in Abb. 12, S. 74; die Szene ist online verfügbar: https://youtu.be/8PkUv8B5qpA [22.10.2020]).

Der Umwandlungsvorgang läuft in Tat und Wahrheit (noch) nicht so prob­

lemlos und unmittelbar ab, wie es die Filmszene suggeriert, er ist aber auf verschiedenen technischen Systemen bereits implementiert.70 Für die Emp­

fängerin ist es weitgehend irrelevant, ob die Transformation unmittelbar während des Schreibens oder erst danach stattfindet; sie sieht dem Geschrie­

benen das Schreiben nicht mehr an. Die alles andere als banale Frage ist nun, ob in diesem Fall noch Handgeschriebenes vorliegt.

Handschrift, Handschreiben und Handgeschriebenes stehen, wie in den letzten Kapiteln erläutert, in einem zirkulären Verhältnis: Handschrift wird durch Handschreiben als Handgeschriebenes realisiert, wobei dieses unmit­

telbar auf die Handschrift und damit auch das Handschreiben zurückwirkt.

Diese Zirkularität beruht wesentlich auf der Dynamik des Graphinventars von Handschriften (s. o. Kap. 4.4) und sie unterscheidet Handschriftlichkeit

Abb. 12: Unmittelbare Umwandlung von Handgeschriebenem in eine Schrift mit statischem Graphinventar (Standbild aus dem Film The Hunger Games: Mockingjay)

70 Bei dem Whiteboard, auf das in der fik-tiven Geschichte geschrieben wird, dürfte es sich in Wahrheit um eine Requisite handeln.

Es existieren heute aber tatsächlich sehr ähnliche Geräte (z. B. das Surface Hub 2S,

vgl. https://bit.ly/34CDlQ4 [22.10.2020]) und Software-Lösungen, die Handgeschrie-benes mehr oder weniger fehlerfrei in eine andere Schrift transferieren, vgl. Peters 2019.

von anderen Formen der Schriftlichkeit. Diese Zusammenhänge vorausge­

setzt, kann durch Schrifterkennung transformiertes Geschriebenes nicht mehr als Handgeschriebenes gelten: Die Zirkularität ist unterbrochen, die geschriebenen Graphe wirken nicht mehr auf die abstrakten Graphe der Schrift zurück. Im Rahmen der Umwandlung werden die Formeigenschaften der geschriebenen Graphe als Elemente eines statischen Inventars ›erkannt‹

bzw. interpretiert (unter Rückgriff auf die Relation von Schrift und Sprache, s. o. Kap. 4.3). H a n d g e s c h r i e b e n e s ist von Hand, also mit dem Stift Ge­

schriebenes, dessen Gestalt auf die Schrift, in der es erscheint, zurückwirkt.

Für die textuelle Dimension von Geschriebenem ist diese Differenzierung zu­

nächst irrelevant. Bei der Beschreibung von Texten ist man mit ganz anderen Schwierigkeiten konfrontiert, wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte.

6.3 Texte: Geschriebenes mit Bedeutung

Richtet man sein Augenmerk auf Texte, so ist die Situation sehr viel unüber­

sichtlicher, als wenn man ›nur‹ Geschriebenes untersucht. Das Verfassen eines Textes ist immer eingebunden in kommunikative Handlungen und kulturelle Praktiken und eng verflochten mit der Verfasserin und ihrem so­

zialen Hintergrund. Ist der Blickwinkel einmal so weit geöffnet, dass neben motorischen und ästhetischen Aspekten auch semiotische analytisch relevant werden, wird die Isolation einzelner Schreib­Entscheidungen – wie die Wahl eines bestimmten medialen Gefüges – beinahe unmöglich. Beim Verfassen eines Textes kommen so viele Einflüsse zusammen, dass die Überlegungen dazu ganze Bibliotheken füllen. Wird grundsätzlich über Texte gesprochen, kann und muss darüber nachgedacht werden, ob der Begriff an bestimmte Medien geknüpft ist (z. B. optische) und wo überhaupt seine Grenzen liegen.

Ausserdem steht angesichts des Umstands, dass semiotische Prozesse immer an konkrete Situationen und an den Gebrauch von (Schrift­)Zeichen gebun­

den sind, zur Debatte, ob ein Text schon im Kopf der Schreiberin/Sprecherin entsteht, ob eine solche ›mentale‹ Fassung mit der materiellen und also les­

baren deckungsgleich ist oder ob der Text sich gar erst im Kopf der Leserin/

Hörerin bildet (immer wieder neu und bei jeder Person anders; vgl. dazu die Betonung des Aspekts der Lesbarkeit bei Hausendorf et al. 2017, insbeson­

dere S. 20–25). Auch die Grenzen eines einzelnen Textes werden undeutlich:

Ist jedes Exemplar eines bestimmten Buches derselbe Text oder immer ein anderer? Sind mehrere Fassungen eines Textes wirklich Fassungen eines Tex­

tes oder handelt es sich vielmehr immer um eigene, neue Texte? All diesen Fragen kann und soll hier nicht weiter nachgegangen werden.71 Wichtig sind Texte (bzw. jene Aspekte, die über das Geschriebene hinausgehen) für meine Überlegungen vor allem insofern, als dass sie sich zu Text sorten zusammen­

fassen lassen, über die wiederum ein Zugriff auf Funktionen und Motive des Verfassens (und damit auch des Schreibens) möglich scheint.

6.4 Text sorten: Lösungen kommunikativer Probleme Es gehört zu unserer Alltagserfahrung, dass Texte sich zu Text sorten gruppie­

ren lassen, und es fällt uns in aller Regel sehr leicht, zu entscheiden, was für eine Sorte Text wir vor uns haben (einen Geschäftsbrief, einen Werbeflyer, einen Roman, ein Tagebuch etc., vgl. Heinemann 2000a: 507). Ähnlich wie Gesprächstypen bzw. »kommunikative Gattungen« (Luckmann 1986) in der Face­to­Face­Interaktion sind auch Text sorten kulturelle Sedimente: Im Zu­

sammenleben tauchen immer wieder dieselben Probleme der Koordination und Kooperation (aber auch der Abgrenzung und Isolation) auf und zu ihrer Lösung haben sich bestimmte Muster herausgebildet.72 Einzelne Arten, die Probleme zu lösen, waren besonders erfolgreich und/oder unkompliziert – sie haben sich bewährt und wurden und werden deshalb so lange ähnlich wiederholt, bis das Muster gefestigt ist. Bei dieser Etablierung von kommu­

nikativen Gattungen und Text sorten handelt es sich oft um »Phänomene der dritten Art« (Keller 2014: 87). In den meisten Fällen ist da niemand, der bestimmen und festlegen kann, wie eine Text sorte auszusehen hat, wie sie aufgebaut ist und wie ihre Exemplare geschrieben, übermittelt und gelesen

71 An anderer Stelle habe ich bereits et-was ausführlicher über Texte und ihre Exis-tenzformen nachgedacht, vgl. Gredig 2014:

17–24. Einen guten Überblick zur Frage des Textbegriffs bieten Adamzik 2016: 40–97 und Adamzik 2018.

72 Siehe dazu auch die Ausführungen in der Einleitung, Kap. 2; vgl. auch Hausendorf et al. 2017: 319. Zur Beschreibung von Texten und Gesprächen als kommunikative Prakti-ken vgl. Janich & Birkner 2015.

werden (sollen).73 Gerade weil ihr Ent­ und Bestehen nicht von einer planen­

den Instanz, sondern von der »unsichtbaren Hand« (vgl. Keller 2014: 95–109, s. o. S. 67) gesteuert werden, lassen sich die gemeinsamen Eigenschaften der Exemplare einer Text sorte analytisch nicht abschliessend und eindeutig festlegen. Geht man von einem vorwissenschaftlichen Verständnis von Text­

sorten aus, liegen die Gemeinsamkeiten der einzelnen Exemplare auf ganz unterschiedlichen Ebenen (z. B. jener der Textgestalt also des Geschriebenen, aber auch auf der Ebene des Stils, des Themas, der situativen Bedingungen und der Funktion, vgl. Heinemann 2000a: 513). Während bei einer Sorte das eine Merkmal konstitutiv und das andere eher nebensächlich (d. h. nicht zwingend) ist, ist es bei einer anderen Text sorte genau umgekehrt. In der vorliegenden Untersuchung bilden Texte genau dann gemeinsam eine Te x t ­ s o r t e, wenn sie dieselbe kommunikative Aufgabe lösen. Sie erfüllen also die­

selbe kommunikative Funktion bzw. zumindest teilweise dieselbe Funktion (Texte haben in der Regel mehr als eine Funktion).

7 Schrift – Schreiben – Geschriebenes (Zusammenfassung)

Aus den in diesem Teil zusammengetragenen Begriffsdefinitionen74 lässt sich ein Modell des Schreibprozesses ableiten, das von der Schrift über das Schrei­

ben (und Verfassen) in und mit medialen Gefügen zum Geschriebenen (und Texten) führt und umgekehrt vom Geschriebenen zurück zur Schrift. Die als Inventar von Graphen verstandene Schrift ist in diesem Modell eine Ressour­

ce und bildet, gemeinsam mit den im Gefüge enthaltenen Medien (verstanden

73 In einzelnen Fällen mag es Initialtexte geben, die musterbildend wirken (so könnte man die Robinsonade als eine Text sorte fassen, die an Daniel Defoes The Life and Ad-ventures of Robinson Crusoe anschliesst – al-lerdings gab es schon lange vor Defoes Werk Texte mit den wesentlichen Eigenschaften einer Robinsonade, vgl. Dunker 2009). Da-rüber hinaus gibt es Textsorten, bei denen

gewisse Akteurinnen über eine besondere Definitionsmacht verfügen (z. B. beim Tes-tament, s. u. Kap. 14).

74 Es handelt sich nicht um »Definitionen«

im engeren Sinn. Vielmehr habe ich mein Verständnis des jeweiligen Ausdrucks nä-her erläutert und in Abgrenzung zu anderen Auf fassungen spezifiziert.

als Werkzeuge, die beim Schreiben zwischen die Schreiberin und das Ge­

schriebene treten) und den Kompetenzen der Schreiberin die Voraussetzun­

gen für das Schreiben. Schreiben wiederum meint eine Handlung – bzw. im Kern: eine menschliche Bewegung –, die an der Schnittstelle zwischen Schrift und Geschriebenem stattfindet. Diktieren, Tippen und Handschreiben sind drei analytisch trennbare Arten des Schreibens, wobei das Tippen auf einem geschlossenen, statischen und das Handschreiben auf einem offenen, dynami­

schen Graphinventar beruht. In aller Regel ist Schreiben eingebunden in das Verfassen von Texten, also in semiotische, kommunikative und weiterführen­

de kognitive Prozesse. Aus der Realisierung von Schrift, also dem Schreiben, geht deren Realisation, das Geschriebene, hervor. Dieses ist teilweise kongru­

ent mit dem Text, der durch das Verfassen entsteht. Es ist konzeptionell aber losgelöst von jeder Art der Bedeutung: Geschriebenes ist bedeutungsleer. Als Teil von Texten kann es aber Ausdruck davon sein, welche Funktion dieser als Exemplar einer bestimmten Sorte erfüllt.

Von diesen Überlegungen ausgehend soll in den kommenden Kapiteln gezeigt werden, welche Rollen und welche Funktionen Handschreiben im deutschen Sprachraum heute einnimmt.

Im Dokument Schreiben mit der Hand (Seite 82-90)