2 (Linguistische) Zugänge zu Handschriftlichkeit
3 Zum Aufbau dieser Untersuchung
Zu Beginn dieser Untersuchung, bevor der Diskurs über Handschrift und die Praktiken des Schreibens von Hand in den Fokus rücken können, müssen die zentralen Begriffe geklärt werden. Worum es sich bei Handschrift genau han
delt, ist alles andere als selbsterklärend. Wo und wie Schrift zu Geschriebenem wird, ob Schreiben mehr als ein rein motorischer/mechanischer Vorgang ist und wie aus Sprechen Schrift (oder Geschriebenes?) hervorgehen kann, muss zumindest diskutiert werden, bevor Aussagen über Bedeutung und Funktion des Schreibens von Hand möglich werden. Auf diese Einleitung folgt des
halb zuerst eine Auseinandersetzung mit zentralen Termini wie »Schrift«,
»Schreiben« und »Geschriebenes« sowie den damit verbundenen Konzepten (Teil II). Das zentrale Anliegen dieses Teils ist eine möglichst klare Definition bzw. Unterscheidung von Ausdrücken, die mehrdeutig sind und in der All
tagssprache oft widersprüchlich verwendet werden. Durch ihre Eingrenzung und Erläuterung stelle ich das sprachliche Werkzeug für die Analyse in den darauf folgenden, empirisch orientierten Teilen bereit.
Als Grundlage für diese definitorischen Bemühungen dienen zum einen schriftlinguistische Arbeiten, zum anderen stütze ich mich auch auf Überle
gungen aus der Semiotik, der Medientheorie und der Sprachphilosophie. Al
lerdings: Bei Schrift bzw. beim Schreiben handelt es sich bekanntlich um eine (wenn nicht sogar die) zentrale kulturelle Errungenschaft des Menschen und die (wissenschaftliche) Literatur dazu ist kaum zu überblicken. Entsprechend kann es bei der Begriffsbestimmung von Ausdrücken wie »Schrift« nicht da
rum gehen, die sie betreffenden Positionen und Überlegungen umfassend oder gar abschliessend darzustellen. Auch soll in diesem Buch explizit nicht der Versuch unternommen werden, eine allgemeine Theorie der Schrift zu entwickeln, auch wenn die Bearbeitung einiger sehr grundsätzlicher Fragen unumgänglich ist. Mein Zugriff auf die Forschungsliteratur ist also in einem gewissen Sinn »parasitär«, wie die Kulturlinguistin Angelika Linke einmal ihre FoucaultLektüre genannt hat:
Wissenschaftliches Lesen ist häufig parasitäres Lesen. Wir lesen sehr oft nicht, um fremde Rede in ihrem eigenen Recht und Anspruch zu verstehen, sondern um in ihr etwas für uns zu finden. Wir sind auf der Suche nach Anregung, häufig sogar schon recht gezielt auf der Suche
nach Methoden, Modellen, Begriffen, Belegen, Gedankensplittern, die wir für ein eigenes aktuelles Denkprojekt produktiv machen können.
(Linke 2015: 63, Hervorhebung im Original)
Das Schreiben von Hand provoziert eine ganze Reihe solcher »Denkprojekte«
semiotischer, medientheoretischer und philosophischer Art und es soll hier kein Hehl daraus gemacht werden, dass der erste Teil auch dazu dient, den mit diesen Provokationen verbundenen Fragen Raum zu geben.
Nach ausführlichen Überlegungen zu den zentralen Begriffen folgen zwei Teile, die sich der oben beschriebenen linguistischen Zugriffe auf Hand
schriftlichkeit bedienen: einer zum (Medien)Diskurs (Teil III) und einer zu verschiedenen (Hand)Schreibpraktiken (Teil IV). Die Reihenfolge ist dabei nicht zufällig: Welche Praktiken aus welchen Gründen für die intersubjekti
ve Wahrnehmung von Handschriftlichkeit zentral sind, geht (auch) aus dem Sprechen und Schreiben über sie hervor. Das heisst: Die Auswahl der Text
sorten und exemplare, die in Teil IV analysiert werden, knüpft direkt an Erkenntnisse aus der Untersuchung des Diskurses in Teil III an.
Auch im DiskursTeil stelle ich den Stand der Forschung nur soweit dar, wie er für meine Überlegungen relevant ist. Das umfasst einige Ausführungen dazu, was unter »Diskurs« überhaupt zu verstehen ist und welche Metho
den ich anwende. Selbstverständlich darf auch eine Beschreibung des em
pirischen Materials, auf das ich zugreife, d. h. meiner Textsammlung bzw.
meines Korpus, nicht fehlen. Dabei werde ich u. a. auf die Unterscheidung zwischen Diskurs und Korpus eingehen und erläutern, weshalb es sich bei der vorliegenden Untersuchung nicht um eine korpuslinguistische Arbeit (im engeren Sinn) handelt und weshalb auch die Bezeichnung diskursanalytisch nur bedingt zutrifft. Nach diesen einleitenden methodischen Bemerkungen folgt eine systematisch geordnete Darstellung der Themen, in deren Zusam
menhang Handschriftlichkeit diskursiv bearbeitet wird, und der Motive, To
poi und Kollokationen, die für das gesellschaftlich geteilte Wissen über das Handschreiben konstitutiv sind. Schliesslich führe ich die verschiedenen Be
obachtungen zusammen und leite daraus die zu untersuchenden Textexem
plare in Teil IV ab.
Zu Beginn des PraktikenTeils (Teil IV) wird die methodische Kombinati
on aus kulturlinguistischem und textlinguistischem Zugang (s. o.) nochmals
erläutert und das Zusammenspiel beider Perspektiven skizziert. Danach fol
gen detaillierte Untersuchungen von vier Text sorten, die sich jeweils unter
schiedlichen Konzepten und Funktionen von Handschriftlichkeit zuordnen lassen. Abhängig davon, was für die jeweilige Text sorte im Diskurs als be
sonders relevante Eigenschaft dargestellt wurde, steht dabei eher die Einbet
tung in kulturelle Praktiken im Fokus oder die dichte Beschreibung einzelner Texte.
Zum Schluss dieses Buches werden die Beobachtungen und Überlegun
gen aus dem Begriffe, dem Diskurs und dem PraktikenTeil zusammenge
fasst und aufeinander bezogen. Dank der unterschiedlichen Zugriffe kann hier ein differenziertes und dennoch recht umfassendes Bild davon gezeich
net werden, was Handschrift(lichkeit) gesellschaftlich und kommunikativ bedeutet, wann wir heute von Hand schreiben und wieso. Nicht zu kurz kom
men wird dabei der Ausblick auf Fragen, die mit dem kulturellen Phänomen Handschrift in einer sich rasant wandelnden Welt zu tun haben, in der sehr häufig von »Digitalisierung« die Rede ist. Schon jetzt kann festgehalten wer
den: Aussterben wird Handschrift nicht.
II Begriffe
Zum Nachdenken über Handschriftlichkeit gehört die Arbeit mit häufig ver
wendeten, aber mehrdeutigen Ausdrücken wie »Schrift«, »schreiben«, »Me
dium« (bzw. »Medien«) und »digital«. Wie viele hochfrequente Termini be
nutzen wir auch diese im Alltag ohne grosse Schwierigkeiten, wissen also, wovon wir reden oder schreiben, wenn wir sie verwenden. Wir benötigen dazu keine elaborierten Definitionen und können mit Bedeutungsunschärfen und Mehrdeutigkeiten gut umgehen. Meist lässt sich aus dem Kontext prob
lemlos erschliessen, worauf wir uns beziehen, was wir also z. B. mit dem Wort Schrift in einer spezifischen Situation meinen. Für eine fundierte theoretische Auseinandersetzung mit Handschriftlichkeit ist die vorgängige Klärung eini
ger Termini aber unabdingbar. Dabei kann es nicht darum gehen, allgemein
gültige, d. h. für jede Fragestellung sinnvolle, abgeschlossene Definitionen zu liefern; das wäre weder machbar noch wünschenswert, wie u. a. schon Michael Klemm (2002: 150–152) und Kirsten Adamzik (2016: 41) im Hinblick auf den Terminus »Text« festgehalten haben. In den folgenden Kapiteln wird die Bedeutung zentraler Ausdrücke (und ihre Relation zueinander) auf eine Weise festgelegt, wie es für diese spezifische Untersuchung nützlich ist. Es geht also ›nur‹ darum, das sprachliche Werkzeug für die weitere Arbeit vor
zubereiten. Gleichzeitig sind die mit dieser Vorbereitungsarbeit verbundenen Überlegungen eine Annäherung an den Gegenstand, an Handschrift. Mit ei
nem bestimmten Verständnis eines Ausdrucks ist ja auch die Modellierung des damit bezeichneten Phänomens verbunden und diese ist entscheidend für alle Aussagen, die über besagtes Phänomen gemacht werden (können).
Es geht aber, das soll hier nochmals ganz explizit gesagt sein, nicht um die Entwicklung einer allgemeinen Schrift oder gar Zeichentheorie.
Die Kapitel dieses Teils sind in gewisser Weise, d. h. meinem Verständ
nis der Termini entsprechend, chronologisch geordnet. Am Anfang steht die Schrift (Kap. 4), die dem Schreiben (Kap. 5) vorgelagert ist, aus dem wiederum das Geschriebene (Kap. 6) hervorgeht.