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Handgeschriebene Karten

Im Dokument Schreiben mit der Hand (Seite 173-200)

III Diskurs

13 Handgeschriebene Karten

Bevor ich auf das eigentliche Thema dieses Kapitels zu sprechen komme, soll noch kurz auf die Text sorte Brief eingegangen werden. Folgt man der Häufig­

keit, in der eine bestimmte Text sorte im Diskurs genannt wird, müsste Brie­

fen hier ein eigenes Kapitel gewidmet werden. Allerdings wird bei näherer Betrachtung der Diskursäusserungen klar, dass es sich bei der Text sorte Brief mehr um eine Allegorie von Handschriftlichkeit handelt als um eine (noch immer) verbreitete Alltagspraktik. Sowohl hinsichtlich aller gegenwärtigen Schreibpraktiken als auch mit spezifischem Blick auf die Handschriftlich­

keit bilden Briefe eine marginale Text sorte. Das zeigt z. B. eine Umfrage der Coopzeitung (6.2.2018), in der nur 37 % der Befragten angegeben haben, sie

würden noch Briefe schreiben (immerhin 71 % greifen hingegen für Notizen zum Stift).155 Auch die im Korpus mehrfach dokumentierte explizite Auf for­

derung, (wieder einmal) einen Brief zu schreiben, ist Indiz dafür, dass es sich beim Briefschreiben eher um ein Ideal als um eine gängige Praktik handelt.

Jene Aspekte, denen im Zusammenhang mit handschriftlicher Briefkom­

munikation besonderes Gewicht gegeben wird, d. h. die mit ihr verbundenen Ideale, Zielsetzungen und Zuschreibungen, gelten aber auch für die Text sorte Karte.156

13.1 Eingrenzung der Text sorte Karte

Der Terminus »Karte« ist eigentlich eher eine Sammelbezeichnung als der etablierte Name einer Text sorte; im allgemeinen Sprachgebrauch ist der Aus­

druck als Text sortenbezeichnung jedenfalls nicht üblich. Vielmehr wird mit

»Karte« ganz allgemein auf einen greif­ und beschreibbaren Gegenstand aus bestimmtem Material referiert, auf ein »Blatt aus dünnem Karton« (Duden Universalwörterbuch 2019: 991). Darüber hinaus ist eine ganze Reihe von (lexikalisierten) Übertragungen gebräuchlich: Wenn z. B. von den »Karten in einem Atlas« die Rede ist, so muss nicht jede davon ein Blatt füllen. Gemeint ist dann die Darstellung und zwar weitgehend unabhängig von der Materiali­

tät (was besonders deutlich wird, wenn man an Online­Karten denkt). Aber auch wenn eine Person »mit Karte bezahlt«, tut sie das nicht mit einem Blatt aus Karton, sondern mit einer Kreditkarte aus Plastik.157 Wenn »Karte« als

155 Da Briefe nach wie vor als Prototypen von Handschriftlichkeit gelten und eine sehr hohe gesellschaftliche Wertschätzung geniessen, kann davon ausgegangen wer-den, dass sich unter diesen 37 % auch Perso-nen befinden, die in Wahrheit kaum hand-schriftliche Briefe verfassen und lediglich an dem mit dem Briefschreiben verbundenen Sozial prestige partizipieren wollten (und sei es nur gegenüber sich selbst). Vor diesem Hintergrund ist der Prozentsatz erstaunlich gering.

156 Diese enge Verbindung zwischen Brie-fen und Karten ist auch historisch begrün-det, wie sich der umfassenden Untersu-chung zum »Medium Postkarte« von Anett Holzheid entnehmen lässt. Holzheid ver-weist darin u. a. auf die »Beschreibung der Postkarte als ›Brief des kleinen Mannes‹«

(Holzheid 2011: 21, vgl. zum Brief als Vor-läufer der Postkarte insbesondere S. 68–94).

157 Ähnlich, aber noch weiter von der ur-sprünglichen Bedeutung (»steifes Blatt Pa-pier«) entfernt: Chipkarte, SIM-Karte.

Text sortenbezeichnung Verwendung findet, dann entweder innerhalb von Komposita (Ansichtskarte, Visitenkarte, Eintrittskarte, Landkarte, Jasskarte etc.) oder als Kurzform eines solchen Kompositums (z. T. durch Attribute entsprechend gekennzeichnet: Karten aus dem Urlaub, Karten für die Oper).

Insgesamt lässt sich »Karte« als Sammelbegriff weder mit merkmal­ noch mit prototypen­semantischen Mitteln adäquat erfassen. Das Lexem kann aber als Familienbezeichnung im Sinne von Wittgensteins »Familienähnlichkeit« ver­

standen werden (vgl. dazu, mit Blick auf »Spiele«, Wittgenstein 2003 [1953]:

56–57). Im Folgenden verweise ich mit K a r t e aber nur auf einen Teil dieser Familie (quasi einen Ast des Stammbaums): auf Karten im Sinne von Textex­

emplaren, die für eine (oder mehrere) bestimmte Person(en) und nur diese geschrieben werden.158 Ausgeschlossen sind also nicht nur alle Formen von Übertragungen, bei denen es sich nicht um Geschriebenes handelt, sondern auch Karten ohne spezifische Empfängerinnen wie Visitenkarten, Fahrkar­

ten, Spielkarten, Speisekarten etc. Ausgeschlossen sind darüber hinaus auch Anzeigen und nicht personalisierte Einladungen, die zwar an einen spezifi­

schen, eingegrenzten Personenkreis gerichtet sind, deren persönliche Adres­

sierung sich dann aber nicht oder nur z. T. auf dem Couvert zeigt; dazu ge­

hören z. B. Karten mit Hochzeitseinladungen oder in Kartenform verschickte Geburtsanzeigen oder Todesanzeigen. Solche Text sorten sind in zweifacher Hinsicht eng mit den untersuchten Karten verknüpft: Einerseits stehen eini­

ge von ihnen innerhalb kultureller Praktiken in strukturierter Abfolge mit den hier untersuchten Karten (z. B. bei Todesfällen und Geburten), anderer­

seits sind die Text sortengrenzen in diesem Bereich nicht klar konturiert und es finden sich viele Hybride:159 So z. B. wenn sich auf einer standardisierten Einladung oder Geburtsanzeige noch zusätzliches Geschriebenes findet, das

158 Die so verstandene Text sorte Kar-te ist Kar-teilweise deckungsgleich mit der Ex-tension des Begriffs »Postkarte« im Sinne Holzheids. Für mein Verständnis ist es al-lerdings wichtig, dass Karten nicht unbe-dingt verschickt werden müssen (also nicht zwangsläufig postalisch laufen).

159 Die unscharfen Grenzen zwischen An-zeigen und den hier beschriebenen Kar-ten (die stärker an Briefkommunikation

anknüpfen) bestehen schon in der Entste-hungszeit der klassischen Postkarte (die als Vorläufer der hier beschriebenen Text sorte gesehen werden muss): »Auch kann die Nut-zung der Postkarte unter dem Aspekt der persönlichen Kommunikation als Zwischen-form von Brief- und Anzeigenvariante klas-sifiziert werden« (Holzheid 2011: 120).

sich exklusiv an die Empfängerin richtet,160 oder wenn Weihnachtskarten mit standardisiertem Text verschickt werden. In der Regel erfüllen Weihnachts­

karten aber die Anforderungen an Karten, die ich oben formuliert habe: Ihr Text richtet sich explizit und exklusiv an eine bestimmte Empfängerin (oder eine kleine Empfängerinnengruppe, z. B. ein Paar, eine Wohngemeinschaft etc.). Das trifft auch auf Geburtstagskarten, Abschiedskarten (zum Beispiel von Arbeitskolleginnen), Dankeskarten, Trauer­ bzw. Kondolenzkarten zu, sowie auf Urlaubsansichtskarten, die sich durch einige bemerkenswerte Be­

sonderheiten auszeichnen (s. u. Kap. 13.3).

Das Merkmal der (direkten) Adressierung scheint mir für die Eingren­

zung des Gegenstands auch deshalb nützlich, weil sie im Diskurs um die Handschriftlichkeit dieser Text sorte(n) weniger dominant ist als die Text­

funktion (»Gefühle zeigen«). So kann die Gefahr einer zirkulären Argumen­

tation verringert werden.161 Funktion, Adressierung, formale und inhaltliche Musterhaftigkeit und Materialität sind aber bei allen Text sorten aufs engste verknüpft und lassen sich nur analytisch trennen. Anders gesagt: Es ist kein Zufall, dass eine Text sorte mit einer bestimmten Funktion diejenigen Muster ausbildet, die sie ausbildet, dass sie aussieht, wie sie aussieht, und anspricht, wen sie anspricht. Als Lösungen wiederkehrender kommunikativer Proble­

me basieren Text sorten auf kulturellen und sozialen Prozessen und folgen insofern einer gewissen Logik. Eben deswegen lassen sie sich als Spuren der damit verbundenen Praktiken lesen. Die Materialität von Karten ist gebunden an die Art ihrer Produktion, ihr Austausch und ihre Leseweise an Adressie­

rung und Funktion. Inhaltliche und formale Musterhaftigkeit werden u. a.

bestimmt durch z. B. die Grösse der Karte und vice versa. Entsprechend ist davon auszugehen, dass es nicht einen Grund gibt, weshalb bestimmte Text­

160 Am äussersten Rand dieses taxonomi-schen Grenzgebietes finden sich Anzeigen und Einladungen, bei denen der standardi-sierte Text lediglich mit einer persönlichen Anrede ergänzt wurde (im Extremfall auto-matisiert, wie bei Serienbriefen).

161 So wäre es offensichtlich wenig ergie-big, Handschriftlichkeit als Kriterium der Text sortenbegrenzung zu wählen: Was Tex-te für das Geschriebenwerden von Hand prädestiniert, kann nicht damit erklärt

wer-den, dass sie von Hand geschrieben werden.

Etwas weniger problematisch wäre das Kri-terium der Textfunktion. Wenn im Korpus aber dominant darauf verwiesen wird, dass bei der Kommunikation von Gefühlen und bei der Beziehungskonstitution und -erhal-tung Handschriftlichkeit angebracht ist, würde die Verwendung dieses Merkmals es verunmöglichen, den diskursiv dominanten Topos kritisch zu hinterfragen.

sorten, wie Karten, prototypisch von Hand geschrieben werden. Handschrift­

lichkeit ist stets abhängig von verschiedenen Faktoren, von denen je nach Text sorte einmal der eine, einmal der andere gewichtiger ist.

Das Zuordnen von Texten zu einer Sorte aufgrund ihrer materiellen »Kar­

tenhaftigkeit« und (der Exklusivität) ihrer Adressierung birgt u. a. die Schwie­

rigkeit, dass die so ausgewählten Texte in recht unterschiedliche kulturelle Praktiken eingebunden sind. Gerade dadurch werden aber Gemeinsamkeiten sichtbar, die durch andere Einteilungskriterien eher verdeckt werden und für das Schreiben von Hand relevant sind. Für die folgenden Ausführungen grei­

fe ich auf bestehende Untersuchungen und eigenes Text sortenwissen zurück, stütze mich darüber hinaus aber auch auf eine kleine Beispielsammlung von knapp 80 Karten.g

13.2 Kondolenzkarten

Bei Kondolenzschreiben handelt es sich um Texte, in denen die Autorin der Empfängerin ihr Beileid ausdrückt (meist im Hinblick auf einen Todesfall).

Die Text sorte wurde in ihrer kommunikativen Einbettung und sprachlichen Musterhaftigkeit bereits von Fandrych & Thurmair (2011: 301–311) beschrie­

ben. Zurecht machen sie darauf aufmerksam, dass ein Kondolenzschreiben kommunikativ sowohl eine phatische als auch eine expressive Funktion be­

sitzt. Die Verfasserin aktualisiert und festigt also die soziale Beziehung zur Adressatin, drückt (dabei) aber auch ihre Gefühle aus.162 Ausserdem zeigen Fandrych und Thurmair, dass Kondolenztexte häufig Teil einer dreistufigen Kommunikation sind: Den Anfang macht dabei die Todesanzeige, die z. B. in einer Zeitung abgedruckt und/oder als verschlossene Karte verschickt wird und den Tod einer Person anzeigt (also informiert).163 Kondolenzschreiben

162 Welche der beiden Funktionen in wel-chem Umfang erfüllt wird, hängt unter an-derem damit zusammen, ob die Kondo-lierende in einer sozialen Beziehung (vor allem) mit der Gestorbenen oder (vor allem) mit den Hinterbliebenen stand/steht.

163 Zur Text sorte Todesanzeige und der historische Entwicklung derselben vgl.

Linke 2001 und Linke 2014: 181–187.

g Hochgestellte Kleinbuchstaben verweisen auf Endnoten (Formalia), vgl. S. 247.

antworten in aller Regel auf solche Anzeigen und provozieren als Reaktion wiederum eine Dankesäusserung der Hinterbliebenen. Dieser Zusammen­

hang ist mit Blick auf das Schreiben von Hand vor allem insofern wichtig, als in der schriftlichen Kommunikation (und nicht nur dort) eine Tendenz zu medialer Symmetrie besteht: E­Mails werden per Mail beantwortet, SMS per SMS, Briefe mit Briefen. Insofern ist es nicht irrelevant, welche Text sorte der Kondolenzkarte vorausgeht und welche allenfalls auf sie folgt.

In ihrer Beschreibung von Kondolenzschreiben geht es Fandrych & Thur­

mair (2011) vor allem um die Textstruktur und sprachliche Merkmale, mate­

rielle Aspekte lassen sie weitgehend ausser Acht. Besonders deutlich wird das daran, dass sämtliche Beispiele, auf die sie ihre Argumentation stützen, als ab­

getippte Texte erscheinen; sowohl das Schriftbild als auch Grösse, Form und Aussehen des Schreibgrundes sind in der Analyse getilgt.164 Mit Blick auf Hand­

schriftlichkeit sind solche Eigenschaften aber von grosser Bedeutung, wie ich im Folgenden exemplarisch an einer Kondolenzkarte verdeutlichen möchte.

13.2.1 Aufrichtiges Beileid – Gefühlsausdruck als Readymade Die abgebildete Kondolenzkarte (Abb. 20 und 21) enthält mindestens zwei sehr unterschiedliche Textteile. Neben dem Geschriebenen im Inneren der aufklappbaren Karte, also jenem Teil, der in linguistischen Untersuchungen meist den Gegenstand bildet, findet sich auch auf der Aussenseite Text. So­

wohl die Verteilung auf Innen­ und Aussenseite als auch die Tatsache, dass das Geschriebene einmal gedruckt (also wahrscheinlich: getippt) und ein­

mal mit dem Stift realisiert wurde, bilden deutliche Gliederungshinweise (im Sinne von Hausendorf & Kesselheim 2008: 51–57; vgl. auch Hausendorf et al. 2017: 150–158). Gelesen wird zuerst die Vorderseite der Karte,165 also das

164 Ein Ausblenden von Aspekten wie Ma-terialität oder Kontext ist in vielen Fäl-len sinnvoll, zumal jede detaillierte Ana-lyse zwangsläufig bestimmte Teile des untersuchten Phänomens vernachlässigt.

Problematisch wird es erst dann, wenn grundlegende Eigenschaften von Geschrie-benem einfach übersehen oder übergangen

werden, also weder beschrieben noch be-wusst ausgeblendet.

165 Wo bei einer aufklappbaren Karte das

»Vorne« und wo das »Hinten« ist, ist kul-turabhängig; in Japan und im arabischen Raum, wo sich die Buchrücken auf der rech-ten Seite befinden, sind auch bei Klappkar-ten vorne und hinKlappkar-ten ›vertauscht‹.

gedruckte Aufrichtiges Beileid und, davon deutlich abgegrenzt; Statt Blumen.

Hergestellt wurde dieser Textteil allerdings nicht von den Absenderinnen der Karte (Hans und Olivia), sondern von der Firma Depesche, wie ein »kleiner Text« (vgl. Hausendorf 2009) auf der Rückseite der Karte verrät. Dennoch sind es nicht die Angestellten der Firma Depesche (oder der Firma b.sonders, für die die Karte lizenziert ist), die der Adressatin (Edith) ihr aufrichtiges Bei-leid aussprechen, sondern Hans und Olivia. Holzheid (2011: 16–17) spricht in diesem Zusammenhang von der »Mehrstimmigkeit von Postkartenbotschaf­

ten« und unterscheidet zwischen präfabriziertem (d. h. auch: gedrucktem)

»Trägertext« und dem eigentlichen »Sendertext«. Hans und Olivia sind, mit Goffman gesprochen (vgl. Auer 2013: 167), »Auftraggeber« (principal) des ge­

samten Textes, also auch jener Teile, die sie nicht selbst geschrieben haben.166

166 Eine Ausnahme bildet einzig der bereits erwähnte »kleine Text« auf der Rückseite, in dem sich die beiden an der Herstellung der

Karte beteiligten Firmen ausweisen. Etwas unklar ist, wer im Falle der aufrichtigen An-teilnahme, die sich ebenfalls auf der Rück-Abb. 20: Beileidskarte, aussen (kon19si)

Beim Geschriebenen auf der Vorderseite ist zunächst das Adjektiv aufrich-tig interessant. Es verweist auf den prekären Status der Authentizität von (schriftlichen) Gefühlsäusserungen, zumal die explizite Kennzeichnung des Beileids als aufrichtig, also als »dem innersten Gefühl, der eigenen Überzeu­

gung ohne Verstellung Ausdruck gebend« (Duden Universalwörterbuch 2019:

210), nahelegt, dass Anteilnahme auch unecht und geheuchelt sein kann.167 Handschriftlichkeit ist eine mögliche Antwort auf dieses kommunikative Pro­

blem. Es gehört, wie im letzten Kapitel gezeigt, zum geteilten gesellschaftli­

chen Wissen, dass beim Schreiben von Hand (emotionale) »Täuschungsma­

seite findet, ›spricht‹. Die eigentlichen Au-torinnen der Karte (Hans und Olivia) haben ihr aufrichtiges Beileid bereits auf der Vorder-seite ausgedrückt und ihren kommunika-tiven (Schreib-)Akt mit den Unterschriften auf der rechten Innenseite abgeschlossen.

Die Vermutung liegt nahe, dass hier tatsäch-lich die Kartenherstellerinnen (Depesche und

b.sonders) ihre Anteilnahme ausdrücken, was allerdings gewichtige Implikationen auf die Konzeption von Beileidsbekundungen hätte.

167 Virulent ist das Problem der Darstel-lung ›authentischer‹ Trauer und ›echten‹

Beileids in Online-Praktiken, wo sich erst allmählich entsprechende Strategien her-ausbilden, vgl. Frick 2020: 173–179.

Abb. 21: Beileidskarte, innen (kon19si)

növer ausgeschlossen« sind und dass Handgeschriebenes eine authentische Spur der Gefühle darstellt (vgl. Berner Zeitung, 22.3.2010; s. o. Kap. 10.4.2; vgl.

auch Gredig 2019). Insofern ist es nur folgerichtig, dass Text sorten, in denen aufrichtige Gefühle gefragt sind, prototypisch von Hand verfasst werden. Zu diesem Bild passt allerdings nicht, dass diese zentrale Gefühlsäusserung auf die vorliegende Karte gedruckt wurde. Die Beileidsbekundung ist, samt Auf­

richtigkeit, Fertigware.

Das gilt nicht nur für die abgebildete Kondolenzkarte, sondern ist eine gemeinsame Eigenschaft von vielen Kondolenzschreiben, ja von den meisten Karten überhaupt: Sie werden bereits vorgefertigt von der Senderin gekauft.

Historisch handelt es sich bei diesem Vorgefertigt­Sein um die zentrale Eigen­

schaft von (Post­)Karten: Neben dem kleineren Format war es der Vordruck oder, wie Holzheid (2011: 16) diesen nennt, der »Trägertext« (bzw. das »Trä­

gerbild«), der die Karten vom Brief unterschied und für ihre Etablierung als eigene Text sorte sorgte.168 Schon früh entwickelte sich ein ganzer Industrie­

zweig rund um die Herstellung von Karten im hier besprochenen Sinn und noch heute werden damit in Deutschland über 800 Millionen Euro pro Jahr umgesetzt.169

Doch auch vor diesem Hintergrund ist es zumindest auf fällig, dass der Anspruch auf Aufrichtigkeit bereits im Trägertext erscheint, zumal es bei der Entstehung von (Post­)Karten explizit ein Anliegen war, ohne die »Floskeln«

und »Versicherungen der ungetheiltesten Hochachtung« auszukommen, die die Schreiberinnen an Briefen »anwider[te]n« (Herrmann 1869: 4; vgl. auch Holzheid 2011: 126). Zudem empfehlen normative Texte wie der Ratgeber Richtiges Verhalten im Trauerfall »allgemeine Floskeln wie ›mein Beileid‹ zu

168 Diese spezielle Beschaffenheit verleitet Holzheid sogar dazu, die Postkarte als »prä-moderne[n] Hybrid« zwischen Massenmedi-en und interpersonalMassenmedi-en MediMassenmedi-en zu klassifi-zieren (vgl. Holzheid 2011: 18). Angesichts der Tatsache, dass die Herstellerinnen der (vor-)gedruckten Textteile nicht als Spre-cherinnen in Erscheinung treten, scheint es mir aber trotz der massenhaften Produktion nicht gerechtfertigt, Karten in die Nähe von Massenmedien zu rücken.

169 Vergleiche dazu eine Pressemittei-lung der Arbeitsgemeinschaft der Hersteller und Verleger von Glückwunschkarten (AVG):

https://bit.ly/2HkWStI [22.10.2020]. Die jährlichen Erhebungen in diesem Bereich zeigen sogar einen Aufwärtstrend in den letzten Jahren: Der Absatz von Gruss- und Glückwunschkarten (zu denen auch Kon-dolenz- bzw. Trauerkarten gezählt werden) stieg von 2014 bis 2017 kontinuierlich an, 2017 um 5,1 % (vgl. https://bit.ly/2GMPPck [22.10.2020]).

vermeiden« (Zacker 2005: 69). Ein Blick in das Wortprofil von »Beileid« im DWDS zeigt aber, dass die Kollokation von »aufrichtig« und »Beileid« nicht nur hochfrequent (bei den Adjektivattributen an dritter Stelle hinter »tiefstes«

und »herzliches«), sondern vor allem auch sehr fest ist.170 Das Adjektiv »auf­

richtiges« ist durch die feste Bindung an »Beileid« ein Stück weit desemanti­

siert und wird quasi­synonym zu anderen Attributen wie »tiefempfundenes«

oder »herzliches« benutzt. Gerade weil es sich um eine feste Wendung han­

delt, findet sich Aufrichtiges Beileid als standardisierter Trägertext vorgedruckt auf der Karte.

13.2.2 Statt Blumen – Verweise auf die materielle Welt

Auch der Textteil Statt Blumen ist vorgedruckt. Er ist also ebenfalls stan­

dardisiert und verweist auf eine musterhafte Praktik im Bereich der Trauer­

kommunikation. Allerdings wird besagte Praktik durch die adversative Ver­

wendung der Präposition statt sofort aufgehoben bzw. erscheint in ihrer Negation: Es wird impliziert, dass an dieser Stelle innerhalb des Ablaufs der kulturellen Praktik eine Blumengabe angebracht wäre, hier aber stattdessen eine Alternative gewählt wurde.171 Diese Alternative ist nicht etwa, wie ein blosses Transkript der Vorderseite der Karte nahelegen würde (Aufrichtiges Beileid Statt Blumen), das aufrichtige Beileid; das wissen wir durch unsere Ver­

trautheit mit den kommunikativen Praktiken rund um einen Trauerfall, wir können es aber auch aus den (materiellen) Lesbarkeitshinweisen auf der Karte schliessen. Nicht nur die Grossschreibung des Wortes Statt steht einer direkten Verknüpfung der beiden Textteile entgegen. Auch ihre räumliche Distanz, ihre Abgrenzung durch einen Wechsel des Hintergrunds (weisse Flä­

che vs. Blumenfoto), ein dazwischenliegendes Stoffband und vor allem die Tatsache, dass das Statt Blumen auf einen separaten, zusätzlich angebrach­

ten materiellen Textträger gedruckt wurde, verhindern die durch das reine

170 Dies zeigt der hohe Wert von 8.8 (bzw. 8.0) beim Assoziationsmass logDice; »aufrichtiges« liegt hier hin-ter »tiefempfundenes« an zweihin-ter Stel-le; vgl. https://www.dwds.de/wp/Beileid [22.10.2020]. Zu korpuslinguistisch

rele-vanten Assoziationsmassen und insbesonde-re dem logDice-Wert vgl. Roth 2014: 64–67.

171 Durch das Bild auf der Vorderseite der Karte findet die Blumengabe entgegen der textuellen Aussage in gewisser Weise auch statt, der Konvention wird also entsprochen.

Sprachmaterial nahegelegte Leseweise. Aus dem Textträger ergibt sich auch, wo das, das an die Stelle von Blumen tritt, zu suchen ist: Innerhalb eben dieses Textträgers, im aufgeklebten kleinen Kuvert. Man kann wissen, dass die Formulierung Statt Blumen auf Kondolenzkarten intertextuell an die kom­

munikativ vorgelagerte Todesanzeige anschliesst, in der sich häufig Formulie­

rungen wie »anstelle von Blumen gedenke man…« finden (vgl. Eckkrammer 1996: 89–90).172 Man kann darüber hinaus und damit verbunden wissen, dass die Empfängerin in dem Kuvert in aller Regel Geld vorfinden wird (also eine Spende statt Blumen). Wichtig für Fragen der Handschriftlichkeit ist hier aber die Tatsache, dass sich ein Verweis findet, der über den Text und die Karte hi­

naus in die physische, materielle Welt reicht. Ein solcher Verweis findet sich auch in einem anderen Kondolenzschreiben in meiner Kartensammlung, dort allerdings im (handgeschriebenen) Text im Innern der Karte: »Beilage Fr. 50.–

für Spitex Höfe« (kOn24si). Alleine die Tatsache, dass eine vorgefertigte Karte existiert, die die Entrichtung einer Spende vorsieht, legt nahe, dass es sich um eine gängige Praktik handelt (zumal es sozial höchst problematisch wäre, eine solche Karte mit leerem Kuvert zu übergeben).

Eine weitere wichtige Verbindung der Text sorte Kondolenzkarte zur ma­

teriellen Welt ergibt sich aus der kulturellen Praktik und den kommunika­

teriellen Welt ergibt sich aus der kulturellen Praktik und den kommunika­

Im Dokument Schreiben mit der Hand (Seite 173-200)