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Die vorliegende Studie hatte sich schon in der Vorbemerkung dazu bekannt, dass Fragen im Themenfeld von Religion und Ge-sellschaft nicht unter Absehen von religiösen und theologischen Inhalten behandelt werden können. Vor diesem Hintergrund hat sie es unternommen, herauszuarbeiten, wie zentrale Werte unserer Gesellschaft, etwa die Unantastbarkeit der Menschenwürde, aber auch die als „Konkordanzen“ bezeichneten Übereinstimmungen von Christentum und Aufklärung (Toleranz, Möglichkeit der Kri-tik eigener Traditionen und von Autoritätspersonen, Trennung von Religion und Staat) im Zentrum des christlichen Gottes-glaubens verankert sind, dem Evangelium vom stellvertretenden Opfertod Christi auf dem Hügel Golgatha, symbolisiert durch das Kreuz.

Angesichts der Tatsache, dass die Krise der multikulturellen Gesellschaft deutlich gemacht hat, dass auch unser pluralistisch-demokratisches Gemeinwesen auf Traditionsvorgaben angewiesen

ist, aus deren Quellen sich seine Leitkultur je und je erneuern kann, dürften die vorhergehenden Darlegungen gezeigt haben, dass Theodor Heuss im Recht war, wenn er Golgatha zu den maßgebenden Ursprungsorten unserer Kultur zählte. Von daher müsste unserer Gesellschaft insgesamt bewusst sein, dass die christliche Tradition jedenfalls zum Bildungsgut unserer Kultur gehört und dementsprechende Pflege verdient, wofür auch noch einmal auf die besprochenen Äußerungen von Habermas hinzu-weisen wäre.

Diese „Pflege christlicher Tradition“ bedeutet einerseits nicht, dass eine neue Staatskirche entstehen soll. Julius Köbners „Mani-fest des freien Urchristentums“ von 1848 hatte ja eindrücklich ge-zeigt, dass die Jahrhunderte währende Praxis einer Staatskirche dem Neuen Testament nicht entspricht; andererseits spricht Ha-bermas davon, dass religiöse Sprachen gerade für die säkulare Ge-sellschaft wichtige Ressourcen der Sinnstiftung bereit halten. Das Evangelium ist insofern also nicht nur für die Christen verschiede-ner Konfessionen relevant, sondern auch für die, die es gar nicht im religiösen Sinn als frohe Botschaft Gottes aufnehmen wollen oder können.

Darüber hinaus wäre es auf Grund unterschiedlicher kulturel-ler Prägungen pragmatisch, die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht mit schematischer Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen gleichzusetzen. Eine Äquidistanz zu allen Religionen besteht jedenfalls nicht per se, vielmehr ist die Inte-grationsfähigkeit außereuropäischer Religionen von ihren Repräsentanten grundsätzlich plausibel zu machen.

Im siebten Kapitel sollten Gründe dafür klar geworden sein.

Dort hatte sich herausgestellt, wie sehr der Islam in der bis heute lebendigen Tradition des bewaffneten djihād sowie in der Bewer-tung der Apostasie als Hochverrat die Prägung seiner frühen Kampfzeit bewahrt hat, die nicht die kulturelle Prägung des Westens ist. Es ist also keine blasse Theorie, wenn man behauptet, dass der Islam auf fremdem kulturellem Mutterboden gewachsen ist und daher nicht von vornherein ausgemacht ist, inwiefern er sich überhaupt in unser Gesellschafts- und Wertesystem integrie-ren lässt.

Die Anforderungen, die von Seiten unserer Gesellschaft an einen integrationswilligen Islam gestellt werden müssen, sind erheblich. Ein kulturadäquater Islam muss aus sich heraus einen kritischen Maßstab entwickeln, um die Aufforderungen zu religiöser Gewalt und die enge Verknüpfung, wo nicht Einheit, zwischen Religions- und Staatsgemeinde abzulehnen. Beides ist aber im Koran vorausgesetzt und wurde vom Religionsstifter Mohammed praktiziert. Von den integrationswilligen Muslimen ist also die Bringpflicht zu fordern, das orthodoxe, verbalinspirierte Verständnis des Koran aufzugeben, sofern es Kritik an koranischen Gewaltaufrufen verhindert, und den schon im Koran begründeten Vorbildcharakter Mohammeds jedenfalls nicht auf die kritischen Punkte religiöse Gewalt und Einheit von Religion und Staat zu beziehen. Diese Anforderungen bilden für Muslime tatsächlich eine Hürde, und es ist als ergebnisoffen zu betrachten, ob sie überhaupt erfüllbar sind.

Ergebnisoffen heißt aber auch, dass es nicht von vornherein als unmöglich dargestellt werden darf. Die Offenheit für islamische Reformer, die einen „Euro-Islam“ anstreben, bleibt angesichts der vielen mittlerweile in Europa ansässigen Muslime wichtig. Wenn man mit Bassam Tibi von der „Vision“ eines

„Euro-Islam“ spricht, so ist der positive Unterton der Vokabel

„Vision“ mitzuhören.

Insgesamt ist zu betonen, dass das siebte Kapitel nicht die Ab-sicht verfolgt hat, den Islam pauschal zu verurteilen. Dass vor al-lem kritische Punkte in den Blick genommen wurden, ist durch die Themenstellung bedingt, nach der vor allem Integrationspro-bleme zu besprechen waren. Dass es im Islam echte und respektable Frömmigkeit gibt, sollte allerdings bisweilen auch angeklungen sein. Überhaupt sollte es nicht darum gehen, wie der Islam sich in seinen Stammländern zu verhalten hat, die einem anderen Kulturkreis angehören, dessen Grenze zu respektieren ist.

Der Verfasser der vorliegenden Studie kennt durchaus ein Gespür für die Faszination der arabischen und persischen islamischen Kultur; aber es wäre falsch, auf Grund dessen über Integrationsprobleme hinwegzusehen, wie sie etwa in den zitierten Äußerungen von Vertretern des Zentralrats der Muslime in

Deutschland zum Ausdruck kommen, von dem Dozenten für theologische Fragen, Mohamed Laabdallaoui, und dem Publizisten und ehemaligen Diplomaten Murad Wilfried Hofmann.152 Offensichtlich duldet dieser wichtige deutsche islamische Verband in seinen Reihen Positionen, die den Ansprüchen eines kulturadä-quaten Islam nicht gerecht werden.

Es wäre weniger ein Akt der Gerechtigkeit gegenüber Mus-limen, wenn Vertreter dieser Positionen von Staats wegen eine kirchenähnliche Position zuerkannt bekämen, als eine Verleugnung unseres eigenen kulturell ausgebildeten Werte- und Gesellschaftssystems. Das gilt freilich nicht nur für den Zentralrat, sondern für alle islamischen Verbände, die nicht den Nachweis erbringen, dass die von ihnen vertretene Form des Islam von in-nen heraus – also nicht nach einem äußeren Maßstab wie dem bloßen Bekenntnis zu Grundgesetz und deutscher Rechtsordnung – unsere Werteordnung unterstützt. „Staatstragend“ kann nur ein Islam sein, der aus sich heraus Konkordanzen zur Aufklärung aufweist, wie es analog dazu im Christentum der Fall ist.

Richten wir zum Schluss noch einmal den Blick auf das Chris-tentum, so sind bei allem Säkularismus in unserer Gesellschaft die angestammten christlichen Traditionen nicht ausgestorben, und das steht auch nicht zu erwarten. Vielmehr scheint das Interesse an der eigenen Tradition, auch im religiösen Bereich wieder zu wachsen, was gewiss auch damit zu tun hat, dass durch die Angst vor Terror und Unfrieden, aber auch durch die zunehmende Angst vor ökonomischem Abstieg und Perspektivlosigkeit ein zeitweise dominantes oberflächliches Lebensgefühl sein Limit er-reicht hat. Der in den relativ sorglosen Wohlstandsjahren ver-drängte Ernst der Realität ist wieder spürbar geworden und hat das Lebensgefühl der sog. „Spaßgesellschaft“ eingeholt, nach dem alles, auch die Religion, auf der Ebene einer Show begriffen wer-den konnte, wie es das unter wer-den Mottoversen aufgeführte kaba-rettistische Zitat widerspiegelt.

Der Säkularismus ist damit freilich noch nicht am Ende, doch sollte Habermas’ Plädoyer für den Erhalt der religiösen Spache als

„Ressource der Sinnstiftung“ für die säkulare Gesellschaft nicht vergessen werden. Es hieße demnach, die Gesellschaft einer

wich-tigen Quelle zu berauben, würde die Religion aus dem öffent-lichen Bereich verdrängt. Vor allem ein Satz aus seiner Friedens-preisrede sollte uns abschließend noch einmal zu denken geben:

Erst recht beunruhigt uns die Irreversibilität vergangenen Leidens – jenes Unrecht an den unschuldig Misshandelten, Entwürdigten und Ermordeten, das über jedes Maß menschenmöglicher Wiedergutma-chung hinausgeht. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinter-lässt eine spürbare Leere153.

Schon im 3. Kapitel wurde festgestellt, dass die von Habermas angesprochene Leere nicht dadurch zu füllen ist, dass die Aufer-stehungsbotschaft in säkularer Sprache neu formuliert wird.

Auferstehung bedeutet reale Erneuerung des Lebens, zielt also auf eine Realität, auf die man nur hoffen kann, wenn man bereit ist, die Eingrenzung der Wirklichkeit, wie sie im Säkularismus akzeptiert ist, zu durchbrechen.

Die Irreversibilität des Lebens umfasst nicht nur Leiden und Schuld in dem von Habermas angesprochenen Ausmaß, sondern auch im viel kleineren, privaten Bereich. Eheberater, Psychothera-peuten, Lehrer und Seelsorger könnten auf einer anderen Ebene davon erzählen. Aber auch auf diesem in den Alltag hineinrei-chenden Niveau handelt es sich um eine beachtliche Größe. So-lange menschliches Leben von nicht wieder gut zu machender Schuld belastet ist, solange es Trauer um verpasste Chancen gibt und Angst vor Benachteiligungen, solange Menschen merken, dass ihre Wünsche und Sehnsüchte die Begrenztheit des Lebens überfordern, solange ist diese spürbare Leere vorhanden und kann das Zusammenleben bis hinauf auf die gesamtgesellschaftliche Ebene belasten.

Von daher stände zu erwarten, dass die Gesellschaft insgesamt davon profitierte, wenn sie auf der Basis ihrer religiösen Tradition die Wirklichkeitsbegrenzung des Säkularismus in Frage stellt.

Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein Thema des gesell-schaftlichen Diskurses. Das Gemeinwesen kann und darf darüber nicht entscheiden. Aber jeder und jede Einzelne muss sich fragen,

Im Dokument Golgatha und Europa (Seite 159-164)