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Konsequenzen des Evangeliums im gesellschaftlichen Diskurs

Im Dokument Golgatha und Europa (Seite 63-67)

Gesellschaft (J. Habermas)

5. Konsequenzen des Evangeliums im gesellschaftlichen Diskurs

Die Folgen des Evangeliums für eine freie demokratische Gesell-schaft liegen nicht nur im Grundsätzlichen, also darin, dass die Toleranz als Grundwert der abendländischen Kultur in Gott selbst verankert ist. Es hat vielmehr auch praktische Konsequen-zen.

Die Botschaft des Kreuzes kann als ständig aktuelle Kritik an jeder mit Absolutheitsanspruch auftretenden Ideologie auf die ge-sellschaftliche Ebene eingebracht werden. Wer sich vom Kreuz her daran erinnern lässt, dass alle Menschen am Absoluten schei-tern müssen, kann keinem menschlichen Führer folgen, der abso-luten Gehorsam für sich beansprucht, und keiner Weltanschauung trauen, die den vermeintlich objektiv-wissenschaftlich erkannten Weg zur Beglückung der Menschheit in die Praxis umsetzen will.

Die wahre ungetrübte Beglückung der Menschheit kommt nicht

aus menschlicher Wissenschaft oder Technik, bei der – zwangsläufig – neben positivem Fortschritt auch immer Missbrauch, Irrtum und unerwünschte Folgen gegeben sind. Das Menschenbild des Evangeliums stimmt mit allen bisherigen Er-fahrungen der Weltgeschichte darin überein, dass der letzte Fort-schritt zur Vollendung des Glücks aller Menschheit nur von jen-seits der menschlichen Grenzen zu erwarten ist – oder gar nicht.

Wo Christen es sich nicht nehmen lassen, an eine größere Wirk-lichkeit zu glauben als die, die die kritisch-technische Vernunft ak-zeptiert – genauer gesagt: Wo sie sich die von Habermas vermisste

„Hoffnung auf Resurrektion“ bewahrt haben, da können sie Trost und Freude und Kraft aus dem Glauben schöpfen, dass dieser letzte Fortschritt von Gott kommen wird, ohne dass sie sich selbst die Welt schönfärben müssten.

In seiner anti-ideologischen Kraft wirkt das Evangelium nicht nur als Quelle der „billigen“ Toleranz, die andere denken lässt, was sie wollen, so lange sie uns nur nicht selbst damit berühren.

Diese Art der Toleranz ist jedenfalls tendenziell zu schwach, um als Bindeglied einer Gesellschaft zu dienen. Indem das Evangelium aber das Bewusstsein dafür schärft, dass jeder Mensch und alles Menschliche mit Mangeln behaftet ist, wirkt es als Quelle der Vergebungsbereitschaft. Und sollte „Vergebung“

auch einer jener religiösen Begriffe sein, die wie „Sünde“ oder

„Gebot“ der säkularisierten Gesellschaft fremd geworden sind, so sollte sie sich auch in diesem Falle von Habermas daran erinnern lassen, dass mit dem Verlust der überlieferten religiösen Sprache auch Substanz in der Sache verloren ging.

Die bundesrepublikanische Gesellschaft kennt ein Beispiel dafür, dass in einer entscheidenden Situation zu wenig Vergebungsbereitschaft vorhanden war, nämlich im Bereich dessen, was Habermas die „ebenso notwendige wie heillose Praxis der ‚Aufarbeitung der Vergangenheit’“ nennt, gemeint ist die Ver-gangenheit des Dritten Reiches. Um zu begreifen, um welche Dimension es hierbei geht, ist noch einmal an den Anfang unserer Überlegungen zu erinnern, wonach das Problem einer Reduktion der europäischen Leitkultur auf den pluralistisch-demokratischen Konsens mit Traditionsvergessenheit begründet wurde. Bei dieser

Traditionsvergessenheit handelt es sich zwar nicht allein um ein deutsches Problem; was aber die spezielle deutsche Entwicklung angeht, so hat sie sich nicht zuletzt daraus ergeben, dass die rebel-lische Generation der späten sechziger Jahre in ihrer Kritik an den Vätern das Augenmaß verlor und einen Generalangriff auf alles Überlieferte startete. Traditionsvergessenheit und Selbstkritik scheinen in Deutschland stärker ausgeprägt als anderenorts. Eine zum Teil pathologische Radikalkritik konnte entstehen, weil man keine Barmherzigkeit mit denen hatte, die wie oben angedeutet aus irregeführtem Idealismus, aus dem Wunsch der Existenz-bewahrung oder Existenzgründung oder aus Selbsterhaltungstrieb zu Konzessionen bereit waren, wegschauten und so das schreck-liche Unheil nicht verhinderten. Ein aus dem Evangelium gespeistes Bewusstsein der Unvollkommenheit und unausweich-lichen Schuldverfallenheit eines jeden Menschen hätte der gesellschaftlichen Aufarbeitung gut getan, da auf dieser Basis Raum gewesen wäre, Schuld zu benennen und zu ahnden, bis hin zu harten Strafen bei Verbrechen, für die eigentlich keine ange-messene Bestrafung mehr denkbar ist. Es wäre aber auch Raum gewesen zu vergeben und generationenübergreifend nach neuen Wegen zu suchen, um alte katastrophenträchtige Fehler zu ver-meiden. Eine Generalabrechnung mit aller Tradition wäre jeden-falls zu umgehen gewesen.

Allerdings will ich als Nach-68-er nun nicht in Schwarz-Weiß-Malerei verfallen und gleichsam zum Vatermörder an den 68-ern, ihren Mitläufern und Erben werden. Ich bin vielmehr davon über-zeugt, dass eine angemessene Aufarbeitung der Schuld und Gräuel des Dritten Reiches nicht nur an den Söhnen und Töchtern der Kriegsgeneration gescheitert ist. Dazu klingen die Bekundungen der sog. „68er“ zu glaubhaft, nach denen die ältere Generation wenig Neigung gezeigt hat, über ihre Schuld zu reden und sich ihrer Verantwortung zu stellen. Auch dadurch wurde eine weniger aufgeheizte Auseinandersetzung mit den Lasten der Vergangen-heit behindert. So ist wohl davon auszugehen, dass die misslun-gene Aufarbeitung der Vergangenheit einschließlich des dadurch bedingten Traditionsverlustes u. a. daraus resultieren, dass eine entscheidende gesellschaftliche Diskussion durch

Selbstgerechtig-keit auf beiden Seiten beeinträchtigt war. Da aber die Absage an jegliche menschliche Selbstgerechtigkeit zum Kern des Ev-angeliums gehört, erscheint mir diese folgenreich-missglückte Aufarbeitung ein Lehrstück dafür, dass die Gesellschaft pro-fitieren kann, wenn sie das Symbol des Kreuzes in seiner Bedeu-tung wieder ernst zu nehmen lernt.

Das Beispiel zeigt, was in dem letzten Satz aus dem Zitat von Theodor Heuss steckt: „Man darf alle drei“ – Golgatha, die Akro-polis und das Capitol – „ja man muss sie als Einheit sehen“. Die Gesellschaft braucht bürgerliches Selbstbewusstsein sowie eige-nständiges kritisches Denken (Akropolis) und Rechtsstaatlichkeit (Capitol), sie wäre aber ärmer, wenn sie allein darauf gegründet wäre und sich nicht auch immer wieder durch das Symbol Golga-thas an das vorprogrammierte Scheitern menschlicher Selbstge-rechtigkeit und Absolutheitsansprüche erinnern ließe, kann doch gerade aus dieser Erinnerung ein toleranter, vergebender Umgang als Bindeglied der demokratischen Gesellschaft erwachsen.

6. Konkordanzen zwischen Christentum

Im Dokument Golgatha und Europa (Seite 63-67)