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Stammten die Schädel und Skelette zunächst nur aus dem regionalen Umfeld und Europa, wurden durch den wachsenden Kontakt mit anderen Kulturen auch vermehrt außereuropäische menschliche Überreste – meist aus den jeweiligen Kolonien – vor Ort aktiv gesammelt, in europäische Zentren überführt und dort untersucht. In den wissen­

schaftlichen Auffassungen der Zeit verankerte sich zunehmend die Vorstellung, dass die Bevölkerung außerhalb Europas eine andersartige geistige und körperliche Ausstattung habe, aufgrund derer sie nicht zu gleich hohen (Kultur)Leistungen fähig und daher eine Gleichrangigkeit mit anderen (europäischen) Kulturen ausgeschlossen sei. Auf Basis dieses hierarchisierenden Denkens formulierten europäische Kolonialmächte, Mis­

sions­ und Kolonialgesellschaften für sich den Auftrag, die „Wilden“ und „Barbaren“

in anderen Teilen der Welt zu zivilisieren und zu führen82, rechtfertigten in der Praxis aber vor allem Fremdbestimmung und Ausbeutung. Umgekehrt bedienten sich viele Forscher*innen der kolonialen Infrastruktur, um an menschliche Überreste und außer­

europäische Objekte zu kommen, wobei die Aneignungsbedingungen in den Kolonien im Vergleich zu jenen in Europa viel weniger limitiert waren. Ihnen kam zugute, dass die Erwerbungen von menschlichen Überresten in den Kolonien einer sehr viel geringe­

ren Kontrolle durch staatliche Behörden unterlagen als in Europa und dass ethische und rechtliche Grenzüberschreitungen kaum geahndet wurden. Über Einwände oder Proteste von indigenen Angehörigen konnte regelmäßig hinweggegangen werden, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.

Für Expeditionen nach Ozeanien, Asien und Afrika gab es Ende des 19. Jahrhunderts klar definierte Sammlungskriterien. Dafür konzipierten Wissenschaftler*innen speziel­

le Sammlungsrichtlinien und Anleitungen zu Beobachtungen für Nichtwissenschaft­

ler*innen, die klare Vorgehensweisen unter anderem zur Konservierung menschlicher Überreste enthielten.83 Menschliche Überreste sollten möglichst „reinrassig“ von möglichst vielen Individuen aus möglichst „ursprünglichen“ Gesellschaften gesammelt werden.

81 In Deutschland beispielsweise die Blumenbach’sche Sammlung (Göttingen, Ursprung bereits um 1780), die Alexander-Ecker-Sammlung (Freiburg) oder die Rudolf-Virchow-Sammlung (Berlin).

82 Vgl. Osterhammel und Jansen 2017.

83 Zum Beispiel Neumayer 1888; von Luschan 1899; Martin 1914.

Ebenfalls bestand großes Interesse an den Kunst­ und Kulturgegenständen aus außer­

europäischen Gesellschaften, die sowohl von europäischen Privatpersonen als auch von zahlreichen Museen und Sammlungen angefragt wurden. Kaufleute, Forschungs­

reisende, Missionar*innen, Kolonialbeamte oder Kapitäne wurden gezielt mit der Be­

schaffung von Sammlungsgut betraut.84 Zudem brachten auch z. B. Kolonialsoldaten bei ihrer Rückkehr Objekte mit, in der Hoffnung, dass diese für Sammlungen von Interesse sein konnten. So entstand ein reger Handel mit unterschiedlichen außereuropäischen Objekten wie auch mit menschlichen Überresten.

Koloniale Kontexte85 begünstigten die Beschaffung menschlicher Überreste für euro­

päische Institutionen, insbesondere auch für Sammlungen in Deutschland. Zwar waren Sammler und Händler angehalten, auf eine anstoß­ und ärgernisfreie Erwerbung zu achten.86 An der Tagesordnung waren jedoch häufig Diebstahl, Erpressung und unfairer Handel, um die Vielzahl an nachgefragten „Objekten“ zusammentragen zu können.

Tagebuchaufzeichnungen oder Expeditionsberichte belegen, dass Grabschändung und Raub im Namen der Wissenschaft durch Europäer*innen häufig praktiziert und von den Museen stillschweigend akzeptiert wurden.87

Aufgrund der großen Nachfrage und gerahmt durch repressive koloniale Gesellschafts­

strukturen kam es auch vor, dass Angehörige indigener Gesellschaften menschliche Überreste, vor allem Schädel, Skelette und (Ritual)Gegenstände, in die menschliche Überreste eingearbeitet wurden, von sich aus zum Kauf oder als Tauschware anboten.88 Neben dem Sammeln von Knochen, Haarproben und Präparaten von Körperteilen wurden auch in großem Umfang Messdaten, Körperbeschreibungen, Fotografien, Gips­

abgüsse sowie Ton­ und Filmaufnahmen lebender Menschen angefertigt. Dies geschah häufig gegen deren Willen bzw. unter erheblichen Vorbehalten oder verbunden mit Ängsten.

84 So beauftragte beispielsweise der Hamburger Reeder und Kaufmann Johan Cesar VI. Godeffroy seine Kapitäne, auf ihren Fahrten völkerkundliches, zoologisches und botanisches Material zu sammeln, zu kaufen oder gegen Waren einzutauschen, siehe Scheps 2005.

85 Koloniale Kontexte sind geprägt von ungleichen Machtverhältnissen und einem Selbstverständnis der kulturellen Höherwertigkeit von Herrschenden. Detaillierte Informationen bietet der Leitfaden Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, DMB 2021.

86 Zum Beispiel Neumayer 1888; von Luschan 1899; Martin 1914.

87 Siehe z. B. Abel 1970, ab S. 237 berichtet Hugo Schauinsland in einem Interview von 1930 über seinen Auf-enthalt auf den Chatham Islands (Neuseeland) in der Zeit um 1896/97 und unter welchen Umständen er an Moriori-Schädel und Skelette gelangte.

88 So haben beispielsweise die Shuar (auch als Jivaro bekannt) aus Ecuador gezielt die Köpfe von Feinden und die Māori aus Neuseeland die Köpfe von Sklaven und Gefangenen verarbeitet und an europäische Händler und Seefahrer verkauft bzw. gegen Waffen getauscht (Zusammenfassung zu Schrumpfköpfen der Jivaro bei Schlot-hauer 2011). Ab ca. den 1820er Jahren wurde die Herstellung tatauierter Köpfe durch Māori stark kommerzia-lisiert, siehe unter anderem Palmer und Tano 2004.

Ferner wurden auch koloniale Kriegsumstände wie z. B. Internierung in Konzent­

rationslagern oder direkte Kriegshandlungen genutzt, um menschliches „Material“

zusammenzutragen. Ein derartiger Umgang mit Menschen und Ahn*innen entsprach und entspricht auch heute nicht den weltweit anzutreffenden kulturellen und gesell­

schaftlichen Wertesystemen. Die skizzierte – auch nach den ethischen Standards der Kolonialmächte – unmoralische Beschaffungspraxis wurde mit einer höher bewerteten wissenschaftlichen Bedeutung gerechtfertigt oder einfach verschwiegen.89

Durch die Erkenntnis, dass sich eine „Rasse“ letztlich anthropometrisch niemals un­

strittig identifizieren ließe, verlor das bloße Schädelvermessen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg an Bedeutung. Die „Rassenhygiene“ und Erblehre blieben allerdings auch noch in den 1920er und 1930er­Jahren populär, wobei sich in der NS­Zeit das Inter­

esse an der Vererbungsforschung auf Merkmale bei Lebenden – z. B. Haar­ und Augen­

farbe oder Blutproben – verlagerte. Auch heute noch werden menschliche Überreste zur Erforschung menschlicher Variabilität genutzt. Allerdings hat man sich dabei in den letzten Jahrzehnten von typisierenden und hierarchisierenden Einteilungen eindeutig verabschiedet.

Viele der Sammlungen von menschlichen Überresten und von (Ritual)Gegenständen mit menschlichen Überresten wurden mit zum Teil lückenhaften Angaben zur Prove­

nienz in Sammlungen eingelagert. Verantwortlich für die unvollständige Dokumenta­

tion sind z. B. die stark unterschiedlichen Sammlungsstrategien und Dokumentations­

interessen der damals jeweils zuständigen Akteur*innen. Je nach wissenschaftlichen Interessen der Zeit wurde zum Teil kein Wert auf individuelle Informationen (z. B.

biografische Angaben) gelegt, da es vorrangig um abstrakte Typen ging. Die während der Kolonialzeit konstruierten „Ethnien“90 können sich dabei tief in die Sammlungs­

dokumentation eingeschrieben haben und müssen heute erst mühsam dekonstruiert werden. Auch mangelnde Möglichkeiten zur primären Erfassung und Bestimmung können zu einer lückenhaften Dokumentation beigetragen haben. Zudem sind viele Einrichtungen in Deutschland von erheblichen Kriegsschäden betroffen, die einen teil­

weisen oder gänzlichen Verlust der Dokumentation, aber auch von Teilen der Sammlun­

gen verursacht haben.

89 Hund 2009.

90 Begriffserläuterung siehe S. 17 f.