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Kritiker*innen einer Rückgabe menschlicher Überreste merken manchmal an, dass die ethischen Verpflichtungen, die sich auf den Umgang mit dem menschlichen Körper be­

ziehen, regional unterschiedlich, historisch divergent und generell unbestimmt seien.

Es wäre allerdings inakzeptabel, wenn die heutigen Sammlungsinstitutionen einen ethischen Standpunkt einnehmen würden, der nicht auf einem modernen und aufge­

klärten Verständnis der Menschenrechte beruhen sowie die Vielfalt regionaler Tradi­

tionen nicht berücksichtigen würde. Weiterhin ist aus historischer Sicht zu bedenken, dass sich auch die Kritik des Kolonialismus bereits auf die europäische Aufklärung zurückführen lässt, wenn z. B. Immanuel Kant in der Rechtslehre zur Eroberung der Kolonien anmerkt, dass „alle diese vermeintlich guten Absichten […] doch den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen [können]“168. Es ist daher – unabhängig von den Regelungen des formalen Rechts – nicht richtig, wenn behauptet wird, dass die häufig gewalttätigen Praktiken materieller Aneignung ohne Beteiligung oder gegen den Willen der lokalen Bevölkerung dem damaligen Rechts­

empfinden entsprochen haben. Auch haben viele der damaligen „Sammler“ das Unrecht eigenen Handelns selbst wahrgenommen, fühlten sich aber im Dienst der Wissenschaft zur Besitznahme „verpflichtet“. Betrachtet man die verschiedenen offiziellen Publika­

tionen und Kodizes, die in den letzten 30 Jahren zum Thema publiziert wurden, so lässt sich ein fester Kern eines ethischen Grundverständnisses herausarbeiten.

ICOM Code of Ethics for Museums (1986 und 2017)

Der ICOM Code of Ethics for Museums gibt „minimum standards of professional practice and performance for museums and their staff“ vor169 . Der Code sieht Museen als verantwortlich für das „tangible and intangible natural and cultural heritage“170 und spricht ihnen damit eine wichtige kulturelle und autoritative Funktion zu.

167 Für einen Überblick siehe Squires et al. 2020.

168 Kant 1797, 1997, S. 477.

169 ICOM 2017, S. 1.

170 ICOM 2017, S. 6.

Im Englischen wird dabei auch von einem „stewardship“ hinsichtlich der Sammlungen gesprochen, dass diesen Institutionen also eine offizielle und durchaus moralisch kon­

notierte Rolle als „Hüter“ und Verwalter wertvoller historisch­kultureller Hinterlassen­

schaften zukommt.

Zur Erfüllung dieser Rolle sind jedoch die richtigen Praktiken des Sammelns, Aufbe­

wahrens und Ausstellens notwendig, um das Vertrauen der Öffentlichkeit zu bewah­

ren171. Einerseits wird hier also auf den besonderen Wert der Sammlungen und den damit einhergehenden kulturellen und politischen Auftrag verwiesen, andererseits werden damit aber auch bestimmte Kriterien wie das „rechtmäßige Eigentum“ verbun­

den, um diesem Auftrag gerecht zu werden.

In Art. 2.5 geht der Code auch auf „kulturell sensibles Material“ ein und fasst dazu menschliche Überreste mit „Material von heiliger Bedeutung“ zusammen172. Die Samm­

lung solcher Objekte soll „consistent with […] the interests and beliefs of members of the community, ethnic or religious groups from which the objects originated“ erfolgen, soweit diese bekannt sind. Es wird hier jedoch keine Differenzierung getroffen, ob damit die zeitgenössischen Mitglieder einer Gesellschaft oder historische Vorstellungen ge­

meint sind. Weiterhin wird in Art. 4.4 („Removal from Public Display“) gefordert, dass Anfragen zur Rückgabe menschlicher Überreste mit Respekt und Sensibilität zu behan­

deln sind und die lokalen Museumsregeln den Umgang mit solchen Anfragen definieren sollen. Insgesamt gesehen bemüht sich der ICOM Code of Ethics also vorsichtig darum, einige Kriterien für die Erwerbung, den Umgang und die Herausgabe von menschlichen Überresten zu definieren, ohne allerdings definitive Vorgaben zu machen. Die Verant­

wortlichen von Sammlungen sollen selbst aktiv werden und Praktiken und Vorgehens­

weisen entwickeln, die dem Minimalstandard des Code entsprechen.

Vermillion Accord des World Archaeological Congress (1989)

Der Vermillion Accord formuliert einige allgemeine Regeln zum Umgang mit menschli­

chen Überresten in der archäologischen Arbeit. Neben einer generellen Stellungnahme zum respektvollen Umgang mit menschlichen Überresten enthält er eine Positionierung gegen diskriminierendes Verhalten, das Bemühen, vorhandene Willensbekundungen der Verstorbenen und der Herkunftsgesellschaften zu berücksichtigen, sowie den Aus­

schluss illegitimer Handlungen im Zusammenhang mit menschlichen Überresten.

171 ICOM 2017, S. 9.

172 ICOM 2017, S. 10, Übersetzung des Autors; siehe für die Ausstellung und Forschung auch Art. 3.7 und 4.3, S. 20 und S. 25.

Letzteres dürfte insbesondere dann notwendig sein, wenn vorhandene Lücken in der rechtlichen Regulierung bestimmter Staaten einen unethischen und unangemessenen Umgang mit menschlichen Überresten nicht explizit ausschließen oder ausgeschlossen haben (z. B. Formen des Grabraubes und der Beschädigung historischer Stätten).

So fordert Art. 1 des Vermillion Accord „[r]espect for the mortal remains of the dead […]

irrespective of origin, race, religion, nationality, custom and tradition.“

Wenn in Art. 2 ebenfalls „[r]espect for the wishes of the dead“ eingefordert wird, so ist dies wohl in Bezug auf neuere Fälle wie den oben genannten Charles Byrne zu sehen.

Weiterhin fordert Art. 3 „[r]espect for the wishes of the local community and of relatives or guardians of the dead“. Hier mag es allerdings zu Abgrenzungsproblemen kommen, wenn der regionale oder kulturelle Bezug einer lokalen Gemeinschaft zu menschlichen Überresten nicht klar hergestellt werden kann. Ebenso fordert der Vermillion Accord in Art. 4 „[r]espect for the scientific research value of skeletal, mummified, and other human remains (including fossil hominids)“ ein, sodass eine Güterabwägung zwischen geltend gemachten Ansprüchen von Herkunftsgesellschaften und dem Wert für die wis­

senschaftliche Forschung notwendig werden kann. Art. 5 sieht schließlich Verhandlung und Übereinkunft „on the basis of mutual respect for the legitimate concerns of commu­

nities for the proper disposition of their ancestors“ als Regelfall der Entscheidung zum Gebrauch menschlicher Überreste in der Archäologie vor. Positionen, die die Forschung an menschlichen Überresten ohne jede Kenntnisnahme der Interessen der Herkunfts­

gesellschaften verfolgen, werden damit faktisch ausgeschlossen. Die im Zitat genannten

„legitimen Anliegen“ (engl. „legitimate concerns“, Übersetzung des Autors) rekurrieren dabei offensichtlich nicht auf eine bestehende Rechtsordnung, sondern sind insofern legitim, als aufgrund kultureller Vorstellungen ein tatsächlicher Bezug zu den mensch­

lichen Überresten besteht. Die Ansätze des Vermillion Accord wurden inzwischen im Tamaki Makau-rau Accord von 2005 um ethische Aspekte des Zeigens und Ausstellens menschlicher Überreste und heiliger Objekte ergänzt.

Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen des Arbeitskreises Menschliche Präparate in Sammlungen (2003)

Thema der Empfehlungen sind menschliche Überreste in anatomischen, anatomisch­

pathologischen, gerichtsmedizinischen und anthropologischen Sammlungen, d. h.

Sammlungen, die sich gewöhnlich in medizinischen Institutionen und Fakultäten befinden. Eine besondere Rolle spielte hier die Beteiligung der deutschen Medizin an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Bei den Empfehlungen des Arbeitskreises handelt es sich um die detaillierteste und expliziteste Äußerung zum Umgang mit menschlichen Überresten in Sammlungen in Bezug auf einen Unrechtskontext in Deutschland.

Als Grundsatz wird in Art. 1 der Empfehlungen zunächst formuliert, dass die Sammlung und Aufbereitung menschlicher Gewebe „zum Zwecke der Präsentation und Demonst­

ration für eine Fachöffentlichkeit und die allgemeine Öffentlichkeit“ zulässig und auch wichtig ist, um wissenschaftliche Zusammenhänge darzustellen und zu erläutern.

Weiterhin wird auch hier auf den notwendigen Respekt vor der Menschenwürde in allen Bereichen des Umgangs mit menschlichen Überresten verwiesen. In Art. 2 wird für den medizinischen Bereich festgestellt, dass „[i]m Lichte des Grundgesetzes […] der Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe […] im Regelfall nur bei wirksamer schrift­

licher Einwilligung des Verstorbenen in Betracht [kommt]“173. Dies ist auch im medizi­

nischen Bereich bei historischen Präparaten mit der Schwierigkeit behaftet, dass eine solche Einwilligung häufig nicht vorliegt.

In der Frage des Unrechtskontextes im Zusammenhang mit der NS­Zeit oder der DDR­

Zeit nehmen die Empfehlungen Bezug auf die Menschenwürde:

„Ergibt sich, dass der Verstorbene aufgrund seiner Abstammung, Weltanschauung oder wegen politischer Gründe durch staatlich organisierte und gelenkte Gewaltmaß-nahmen sein Leben verloren hat oder besteht die durch Tatsachen begründete Wahr-scheinlichkeit dieses Schicksals, ist dies eine schwere Verletzung seiner individuellen Würde. Wurde ein solcher Unrechtskontext im Einzelfall festgestellt, sind die Präpa-rate aus den einschlägigen Sammlungen herauszunehmen und würdig zu bestatten, oder es ist in vergleichbar würdiger Weise damit zu verfahren.“174 Dabei ist festzuhalten, dass im Kontext des Kolonialismus durchaus vergleichbare For­

men der Verletzung der Menschenwürde gegenüber Angehörigen anderer Staaten und Ethnien in der anthropologischen und medizinischen Forschung begangen wurden175. Wahrscheinlich in Anlehnung an das Verblassen des Personenbezuges im deutschen Datenschutzrecht wird auch in den Empfehlungen von einem möglichen „Verblassen der Erinnerung an den Verstorbenen“ ausgegangen176. Hier wäre allerdings im interkultu­

rellen Kontext zu hinterfragen, inwiefern dieses Verblassen der Erinnerung und damit der schutzbedürftigen Aspekte der individuellen Person auch auf andere Staaten und Kulturen übertragen werden kann.

Report on the Human Remains Management der IZIKO Museums of South Africa (2017)

Als weiteres regionales Beispiel der Beurteilung von im kolonialen Kontext gesammelten menschlichen Überresten soll hier der Bericht der IZIKO Museums of South Africa angeführt werden.

173 Arbeitskreis Menschliche Präparate in Sammlungen 2003, S. 378.

174 Arbeitskreis Menschliche Überreste in Sammlungen 2003, S. 379.

175 Von Selle und von Selle 2012, S. 173.

176 Arbeitskreis Menschliche Überreste in Sammlungen 2003, S. 379.

Der Bericht aus dem Jahr 2017 thematisiert die Kolonialgeschichte bei der Beurteilung von Sammlungen mit menschlichen Überresten. Anlass war die Feststellung, dass die Sammlungen der Museen zahlreiche menschliche Überreste enthalten, die teilweise auf unethische Art und Weise beschafft wurden. Dies ist auch im Zusammenhang mit

„rassistischer Wissenschaft“177 zu sehen, für die menschliche Überreste als Beispiele verschiedener „Rassetypen“ gesammelt wurden und die in direkter Verbindung zur

„Entwicklung falscher Rassetheorien“ standen178.

Zum Beleg dieses Zusammenhangs wird auf die historische Fachliteratur verwiesen179. Dabei werden zwei entscheidende Kritikpunkte identifiziert:

„The first is that the context within which ‚collecting‘ took place was that museums were complicit in the development of racist, pseudo-scientific, theories which formed the foundations upon which white supremacist policies were built. The second is that the methods used to obtain bodies were totally unethical and could be simply described as ‚grave robbing‘ with the absence of informed consent from the families or communities from which the bodies or skeletons were obtained.“180 Demnach kann in diesen Fällen weder die Art der Erwerbung noch die Weise der Ver­

wendung ethischen Anforderungen standhalten: Weder bestand irgendein Einverneh­

men mit den Betroffenen oder den Herkunftsgesellschaften über die Entnahme und Präparation der menschlichen Überreste, noch kann letztlich ein Wert für die For­

schung in Anspruch genommen werden. Nach dem evolutionistischen Paradigma der damaligen Wissenschaft sollte mit dem Anlegen von Schädel­ und Skelettsammlungen eine Datenbasis für die weitere Forschung geschaffen werden. Im Rahmen dieses An­

satzes sollten die Körper der Betroffenen dazu verwendet werden, zum Schaden der Her­

kunftsgesellschaften pseudowissenschaftliche Theorien zur Überlegenheit der „weißen Rasse“ zu untermauern. Dieser „weiße Suprematismus“ war für die Bevölkerung nicht von historischer oder theoretischer Bedeutung, sondern diente bis in die 1990er Jahre zur Begründung politischer Unterdrückung und Entrechtung im südafrikanischen Apartheidregime.

177 IZIKO 2017, S. 5.

178 Ebda., jeweils Übersetzung des Autors.

179 Legassick und Rassool 2000, 2009.

180 IZIKO 2017, S. 3.

Das Problem des Wertepluralismus im Umgang mit menschlichen