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Salvisbergs Berufung als Fallbeispiel

Im Dokument 100 YEARS BAUHAUS (Seite 146-150)

Neu aufgefundene Quellen zur Berufung Salvisbergs, aus denen eben bereits zitiert wurde, ermöglichen es, solche Pauschalurteile und für die CIAM insgesamt typische Exklusions-Mechanismen mitsamt der Frage nach ihrer Berechtigung und Motivierung etwas näher zu beleuchten.

Im Dezember 1928 war Otto Rudolf Salvisberg nach langwierigen

Verhandlungen und Diskussionen, die sich vom Frühjahr bis Herbst 1928 hinzogen, als alleiniger Diplom-Professor an die Eidgenös-sische Technische Hochschule in Zürich berufen worden. Die Frage der Neubesetzung dieser kulturpolitischen Schlüsselposition schlug im Vorfeld ungemein hohe Wellen, witterte die noch junge schweizer Avantgarde-Szene doch die Chance einer gleichermaßen program-matischen wie radikalen Neuausrichtung der Architektenausbildung.

Dreh- und Angelpunkt der nur teilweise öffentlich ausgetragenen Personaldebatte war Salvisbergs Vorgänger Karl Moser, bei dem fast alle der jungen Neuerer in den 1910er Jahren studiert hatten und dessen in Sichtbeton ausgeführte Baseler Antoniuskirche (1925-27) wie kein anderer Bau den architektonischen Neubeginn in der Schweiz symbolisierte. Moser, der den Werkbund auf seiner Seite wusste, hatte im Zuge der Berufungsverhandlungen u.a. die gebürtigen Schweizer Hannes Meyer, Hans Wittwer und Le Corbusier sowie den Deutschen Walter Gropius und den Niederländer Jacobus Johannes Pieter Oud als mögliche Nachfolger ins Spiel gebracht.4 Mosers Wunschkandidat war indes sein ehemaliger Schüler und enger Vertrauter Hans Schmidt, den er bereits im November 1927 in seine Nachfolgepläne eingeweiht hatte.5 Schmidt, damals erst 35 Jahre alt, hatte u.a. zwei Jahre bei Le Corbusier gearbeitet und gab seit 1924 zusammen mit Mart Stam die antibürgerliche und stark polemisch gehaltene Zeitschrift ABC, Beiträge zum Bauen heraus.

Ganz im Gegensatz zu Salvisberg konnte er allerdings nur auf eine sehr bescheidene Baupraxis verweisen.

Da Moser wohl von Beginn an mit Widerständen gegen Hans Schmidt rechnete, hatte er seine Nachfolge von langer Hand geplant und versuchte diese nun unter erheblichem Zeit- und Kraftaufwand und mit allem Nachdruck seiner internationalen Strahlkraft und fachlichen

Fig. 4: Otto Rudolf Salvisberg, Siedlung Onkel Toms Hütte, Reiherbeize.

Autorität durchzusetzen. Bereits im September 1927, sechs Monate bevor er seine vorzeitige Emeritierung offiziell bekannt gab, hatte er auf der Jahrestagung des Schweizerischen Werkbundes eine programmatische Rede gehalten, die unter dem Titel Hochschule und Neues Bauen zusammen mit Beiträgen von Conelius van Eesteren, Walter Gropius und Hans Schmidt abgedruckt wurde.6 In bislang unbekannter Absolutheit wurden hierin die schweizer Leser auf die Zukunftsaufgaben und gesellschaftlichen Verheißungen des Neuen Bauens eingeschworen, was eine Fundamentalkritik an staatlichen Behörden und dem von diesen angeblich ausschließlich geförderten Akademismus miteinschloss.

Ganz ähnlich argumentierte Moser nun auch gegenüber dem für sämtliche Neuberufungen zuständigen Präsidenten des schweize-rischen Schulrates Arthur Rohn, den er am 1. Februar 1928 über seine Rücktrittspläne informiert hatte und 10 Tage später dann in einem umfangreichen Gutachten auf seine Zukunftsvorstellungen einzuschwören versuchte: „Die Architekturentwicklung, die wir heute erleben […] hat die verderbliche Belastung mit den Formen histo-rischer Stile endlich abzuwerfen vermocht und ebnet damit den Weg zu einwandfreien Lösungen aller Probleme der Gegenwart.“ Nur ein

„modern gerichteter, lebendiger junger Professor“ wie Hans Schmidt komme darum für die Entwurfsprofessur in Frage. Gleichzeitig warnte Moser eindringlich vor Kompromisslösungen: „Ich kann mir nicht denken, dass die Schule gedeihen könnte, wenn ein unsicherer und unselbständiger Mann der Kompromisse zwischen Alt und Neu, also ein Eklektiker oder gar ein Historiker auf den freiwerdenden Lehrstuhl berufen würde […].“7

Während gleichzeitig noch bis zum 31. März 1928 die offizielle Stel-lenausschreibung lief, setzten Moser und der in Avantgardekreisen

bestens vernetzte Siegfried Giedion alle Hebel in Bewegung, um die Entscheidung des Schweizerischen Schulrates in ihrem Sinne zu beeinflussen. So schickte Moser Anfang März an Mitglieder des Schulrates und andere wichtige Entscheidungsträger seinen Aufsatz Hochschule und Neues Bauen mit einem Anschreiben, das auf die Wichtigkeit der bevorstehenden Neuberufung hinwies.8 Hinter den Kulissen gelang es zudem, den Schweizerischen Werkbund und die Gesellschaft ehemaliger Studierender der ETH auf Linie zu bringen.

Beide hielten am 14. bzw. am 16. März 1928 eigens Mitgliederver-sammlungen ab und sprachen sich im Anschluss einstimmig für Hans Schmidt aus:9 „In unserer Zeit, in der die Architektur vor so viel neue Probleme gestellt ist, ist vor allem eine kräftige Persönlichkeit mit dem Mut zu klarer Stellungnahme nötig […]. Nichts wäre darum verhängnisvoller, als die Professur mit einem noch so gewandten Eklektiker zu besetzen.“10

Nachdem sich auf die offizielle Stellenausschreibung bis zum Bewerbungsschluss Ende März 1928 kaum geeignete Kandidaten gemeldet hatten, avancierte die Berufungsfrage nun auch für Arthur Rohn zur obersten Priorität. So unternahm der Schulratspräsident in der ersten Aprilhälfte mehrtägige Reisen nach Berlin und an die Technische Hochschule in Stuttgart, um sich dort u.a. mit Paul Bonatz zu beraten. Zudem verbrachte er auf Empfehlung Karl Mosers vier Tage in Holland, wo er, vermittelt und in Begleitung von Hendrik Petrus Berlage, die Architekten Willem Marinus Dudok, Cornelis van Eesteren, Jacobus Johannes Pieter Oud sowie den von Berlage favo-risierten Hendricus Theodorus Wijdeveld aufsuchte und deren Werke besichtigte. Ganz ähnlich wird Rohn auch in Berlin verfahren sein und sich in diesem Zuge für Otto Rudolf Salvisberg entschieden haben.

Etwa im gleichen Zeitraum reiste auch Karl Moser auf der Suche

nach einem geeigneten Nachfolger u.a. nach Berlin und Dessau, wie er Ende März 1928 Arthur Rohn mitteilte.11 Mosers Berlin-Aufenthalt vom 7.-17. April 1928 ist durch umfangreiche Tagebuchaufzeich-nungen dokumentiert. So besichtigte er u.a. Bauten und Ladenein-richtungen von Häring, den Brüdern Luckhardt, Arthur Korn, Erich Mendelsohn, Ludwig Mies van der Rohe und Salvisberg, die er meist auch persönlich traf, wobei sein wichtigster Berliner Ansprechpart-ner der Ring-Sekretär Hugo Häring war, dessen Negativurteil über Salvisberg weiter oben bereits zitiert wurde. Den 13. April 1928 verbracht Moser dann fast vollständig mit Otto Rudolf Salvisberg, den er in seinem privaten Wohnhaus in der Steglitzer Oehlertstraße besuchte, wo auch das 1926 umfassend erweiterte Architekturbü-ro untergebracht war. Moser ließ sich aktuelle Planungen vorführen, darunter das Berner Säuglings- und Mütterheim (1928-30), das Gemeindehaus der Ev. Matthäuskirche in Steglitz (1928-30) sowie das nicht realisierte Projekt für ein Wertheim-Warenhaus in der Berliner Schloßstraße. Nach dem gemeinsamen Mittagessen besich-tigten beide Architekten mehrere Wohnbau-Projekte und Villen Salvisbergs „in Backstein, Putz, alles mit flachgeneigtem Dach von 10 %“ und ließen den Tag auf dem Berliner Funkturm ausklingen.12 Am Folgetag findet sich im Tagebuch folgender Eintrag: „Salvisberg entfaltet eine große Tätigkeit mitten durch. Er ist kein Neuerer. Er bemüht alte Möglichkkeiten. – Aber er ist ein angenehmer Mensch, naiv wie er scheint, tüchtig i. d. Ausführung, unerschrocken und überzeugend i. Verkehr. Er hat eine Menge Qualitäten. Ober er als Lehrer Talente besitzt, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist er ein tüchtiger Mensch und hat Talente.“13

Gleichwohl zeigte sich Karl Moser stark enttäuscht, als er von Arthur Rohn erfuhr, dass Hans Schmidt aufgrund mangelnder

Baupraxis und seiner politisch stark links stehenden Orientierung keine Chance auf eine Berufung hatte und mittlerweile Salvisberg favorisiert wurde. Mit Bedauern, so Moser, müsse er feststellen, dass seine „ebenso sachlichen, als durch die Entwicklung der Architektur naturgemäß gegebenen Gründe“ keinen Widerhall fänden, und warnte einmal mehr: „Wenn Sie einen Mann der ‚mittleren Linie‘, also einen Mann ohne Sicherheit, in heutiger Zeit den Vorzug geben würden, so würde zweifellos nicht nur die Abteilung I, sondern die E.T.H. schwere Schädigung erleiden […] und die Studenten werden anderswo und anderswie ihre Fähigkeiten zu entwickeln suchen.“14 Noch deutlicher wurde die Gesellschaft ehem. Studierender der Eidg.

Technischen Hochschule, nach deren Auffassung Hans Schmidt

„unbedingt“ Salvisberg vorzuziehen war, der als „Opportunist“ charak-terisiert wurde, dessen „scheinbare, nur äusserliche Modernität“ auf

„Geschäftsgewandtheit, nicht aber auf Ueberzeugung und inneren Drang“ zurückzuführen sei.15

Noch gaben Karl Moser und seine Mitstreiter nicht auf und sorgten dafür, dass sich selbst die CIAM auf ihrem Gründungskongress mit der Berufungsfrage beschäftigten. In einer von allen Teilnehmern mitgetragenen Stellungnahme wurde noch aus ihrem Tagungsort in La Sarraz der Schulratspräsident in höflichen aber doch deutlichen Worten ermahnt, den so wichtigen Posten „einer Persönlichkeit anzu-vertrauen, welche dieses Apostolat im Geiste unseres geschätzten Kollegen Karl Moser fortsetzt, eines Geistes, der auch die Tage in La Sarraz bestimmte.16 Neben dem Gründungsdokument ist der u.a.

von Josef Frank, Sigfried Giedion, Hugo Häring, Pierre Jeanneret, Hannes Meyer und Gerrit Rietveld unterschriebene Aufruf die erste offizielle Stellungnahme der CIAM zu einem aktuellen Architektur-problem.

Notes

[1] Claude Lichtenstein (Hg.), O. R. Salvisberg. Die andere Moderne. Dokumente zur modernen Schweizer Architektur, Zürich 1985.

[2] Eintrag im Tagebuch Karl Mosers am 7./8.4. 1928, Zürich, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH (gta), NL Karl Moser, 1928-TGB-5. Muriel Pérez danke ich für zahlreiche wertvolle Hinweise.

[3] gta, 42 K, Giedion-Gropius 1929, Brief Walter Gropius vom 7.1.1929 [4] „Bericht über die Entwicklung der Abteilung I der E.T.H.“ (8 S.) vom 13.2.1928, Zürich, Hochschularchiv der ETH (ETH-Archiv), 32a/Nr. 4. Zwei teilw. abweichende Entwürfe im Nachlass Karl Mosers. gta, NL Karl Moser, Akten und Brief zum An- und Rücktritt

[5] gta, NL Karl Moser, Akten und Brief zum An- und Rücktritt

[6] Karl Moser et. al., „Bauwille und Staatspflicht“, Der kleine Bund 8, 1927, S.

289-296.

[7] ETH-Archiv 32a/Nr. 4

[8] gta, NL Karl Moser, Akten und Brief zum An- und Rücktritt

[9] ETH-Archiv 32a/Nr. 5, Nr. 13, Nr. 31 u. Nr. 33; Protokoll der Besprechung über gegenwärtige Organisation und Entwicklungsmöglichkeiten der Abteilung I der E.T.H, 14.3.1928, in: NL Karl Moser, Akten und Brief zum An- und Rücktritt

[10] ETH-Archiv, 32a/Nr. 13, Schreiben vom 27.3.1928

[11] „Ich bin unterwegs, um mich über Schule und Arbeiten des ‚Bauhaus Dessau‘, sowie über die meisten Bauten in Leipzig, Berlin, Hamburg und Köln zu orientieren.“

Brief Karl Moser an Arthur Rohn vom 28.03.1928

[12] gta, NL Karl Moser, 1928-TGB-6. „Salvisberg geht bis zu 10 % Neigung mit Eter-nitbedachung. Die Hauser machen alle den Eindruck von flachgedeckten (horizontal abgedeckten) Körpern. Aber von weiter her sieht man die Dächer.“

[13] Eintrag am 14.4.1928. gta, NL Karl Moser, 1928-TGB-6 [14] ETH-Archiv, 32a/Nr. 28

[15] ETH-Archiv, 32a/Nr. 33, Brief vom 19. Juli 1928

[16] ETH-Archiv, 32a/Nr. 30, Übers. durch d. Verf. Die Dokumente im ETH-Archiv hat mein Kollege Florin Gstöhl aufgespürt

Image Credits

Fig. 1: Otto Rudolf Salvisberg, Institute der Universität Bern (1928-31), aus: Moderne Bauformen 32, 1933, S. 69

Fig. 2: Cover und Doppelseite aus: Heinz Johannes, Neues Bauen in Berlin, Berlin 1931

Fig. 3: Hugo Häring, Siedlung Onkel Toms Hütte, Riemeisterstraße/ Am Fischtal, aus:

Die Form 4, 1929, S. 11

Fig. 4: Otto Rudolf Salvisberg, Siedlung Onkel Toms Hütte, Reiherbeize, aus: Die Form 4, 1929, S. 7

FU Berlin

Architekturstudium an der TFH Berlin mit Schwerpunkt Bauerhal-tung, Dip-lom bei Prof. Dr. Schäche mit dem Entwurf eines neuen Nutzungskonzeptes für das Kantgaragengebäude in Berlin.

Aufbaustudium am Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin bei Prof. Dr. Demps, Masterarbeit mit dem Thema: Die Großstadtgarage – Einfluss der Automobilisierung auf die Berliner Architektur der 1920er Jahre.

Seit 1998 angestellter Architekt mit Schwerpunkt Denkmalpfle-ge (Architekten Petersen GmbH; Winfried Brenne Architekten; FU Berlin, Referat Bauplanung und Baudurchführung).

Historiker mit den Hauptaugenmerken Architektur der Zwischen-kriegszeit und Berliner Großgaragenprojekte. Einschlägige Publika-tionen und Rezensionen in diversen Fachzeitschriften.

Im Dokument 100 YEARS BAUHAUS (Seite 146-150)