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Mit Romeo fit fürs Berufsleben

Text von Alice Henkes, mit Ergänzungen von Ruth Bielmann Fotos von Emma Wehberg

Theaterspiel als eine Schule des Lebens

Standing ist gefragt. «Gerade stehen, nicht den Bauch vorschieben und nicht die Knie durchdrücken, sonst rutscht das Zwerchfell nach oben und ihr verliert Stimmkraft. Und ihr wollt doch gehört werden, bis in die letzte Reihe», sagt Aneke Herrmann. Die Schauspielerin probt mit Schülerinnen und Schülern der Schule Schwabgut in Bern Shakespeares «Romeo und Julia». Ein Dutzend Ju-gendliche aus verschiedenen Klassen hat sich zum Training in der Aula versam-melt. Nach ein paar Minuten Gekicher herrscht stille Konzentration, die über die Probe hin aus wirkt: «Ich bin nach den Proben oft konzentrierter», sagt Julia-Darstellerin Hauras.

«Das Theater macht mich selbstbewusster», sagt Kausigan, der den Romeo spielt. Überzeugendes Auftreten wird im Arbeitsleben immer wichtiger. Durch das Theaterspiel gewinnen Jugendliche innere Sicherheit, ist die Psychologin Regula Mentha überzeugt: «Die Schüler lernen, vor anderen zu sprechen und merken: Ich habe etwas zu sagen, ich kann durch Sprechen etwas bewirken.»

Seit 1998 gestalten Regula Mentha und Aneke Herrmann unter dem Namen

«Spielart» an der Schule Schwabgut Kulturprojekte. Oft kooperieren sie mit Gast-künstlern wie dem Tänzer Marcel Lehmann oder dem Aktionskünstler San Kel-ler. «Romeo und Julia» ist ihr bisher ehrgeizigstes Projekt. 146 Jugendliche aus den Klassenstufen 5, 6 und 9 spielen in mehreren Besetzungen. Die Auffüh-rungen fanden Mitte Juni 2011 statt, zum 50-Jahr-Jubiläum der Schule. Die Schülerinnen und Schüler spielen Originaltexte nur in Ansätzen, einige Situa-tio nen im Stück sind mit eigenen Texten unterlegt. Spielszenen und Tanz- oder

Bewegungsbilder, musikalisch untermalt, ineinander verwoben. Auf der Bühne stehen über 100 Jugendliche, einige weitere finden in der Technik oder als sons-tige Helfer oder Helferinnen ihre Aufgabe.

Bereicherung oder Freizeitspass?

«Das Theaterspiel bietet den Schülerinnen und Schülern eine wunderbare Mög-lichkeit, sich selber zu begegnen und spielerisch auf andere zuzugehen», sagt Schulleiterin Ruth Bielmann. Soziale Fähigkeiten werden im Berufsleben wich-tiger, gefordert sind sie auch in der Schule. Im Schwabgut haben 93 Prozent der Schülerschaft einen Migrationshintergrund. Die Schulleiterin unterstützt «Spiel-art» aus Überzeugung: «Die Projekte machen den Kindern und Jugendlichen Mut und fördern eine bessere Lernkultur.»

Zudem geht es beim Theaterspiel um Wahrnehmung: hinhören, Zwischentöne wahrnehmen, genau schauen, sich einfühlen, begreifen, berühren, körperlich, aber auch seelisch, sich bewegen, Worte finden für das, was einen bewegt: es geht um die Sinne, deren mehr sind als nur die fünf bekannten. Wichtig sind Empfindungen und Emotionen, innere Bilder und Ideen, Gedanken und Ge-schichten, Erfahrungen und Erinnerungen: es geht auch um Bewertungen und Bedeutungen von Menschen und Dingen in ihren Bezügen. Sinn und Sinnlich-keit oder Wahrnehmung und Wahrheit sind letztlich, wie unsere Sprache es in

der Wortgestaltung deutlich macht, untrennbar zu einem Ganzen verwoben und verbunden. In Kunstprojekten kann Welt anders entdeckt werden, als sie

sich bis anhin dargestellt hat, sie kann neu begriffen und neu gestaltet werden.

Lebensentwürfe werden im fiktiven Raum durchgespielt, die Schülerinnen und Schüler machen dabei konkrete Erfahrungen.

Dabei ist ein Grossprojekt wie «Romeo und Julia» auch anstrengend. Geprobt wird in der Schulzeit. Das verlangt Abstimmung im Team und Organisation von Möglichkeiten, versäumten Unterricht nachzuholen. Nicht alle Lehrpersonen engagieren sich im Kulturprojekt der Schule. Und auch einige Eltern halten Thea-ter eher für einen Freizeitspass, der wenig Nutzen bringt. Lehrer Samuel Schär-rer dagegen hat erlebt, wie Theater jene Lust am Lernen weckt, die zwar jedem Kind gegeben ist, doch in der Schule oft erlischt. Seine 9. Realklasse ist in das Theaterprojekt involviert. Auf der Bühne sprechen die Schülerinnen und Schü-ler eine moderne Textfassung. Im Unterricht wollten sie auch die Originalüber-setzung von August Wilhelm Schlegel lesen. «Von mir aus hätte ich ihnen das nie zugemutet», sagt Schärrer. Das berühmte Shakespeare-Drama um zwei Lie-bende, die nicht zueinanderfinden können, weil ihre Sippen tief verfeindet sind, regt zudem Diskussionen um Cliquengeist und Gesellschaftskonflikte, Liebe und Zwangsheirat an, Themen, die den Jugendlichen nahe sind. Nicht nur bei der Wahl der Lektüre zeigen die Schauspielerinnen und Schauspieler Mut. Lehrer Schärrer freut sich besonders über eine Schülerin, die bisher wenig Vertrauen in ihre Fähigkeiten gezeigt hatte. Durch das Theaterprojekt belebt, hat sie sich aus eigenem Antrieb eine Schnupperlehre organisiert.

Hilfreiche Als-ob-Welt

Durch kulturelles Erleben Lernmotivation und Selbstvertrauen zu fördern, ge-hört zu den Leitideen des Vereins MUS-E, der die «Romeo und Julia»-Inszenie-rung mitfinanziert. Von Yehudi Menuhin und Werner Schmitt 1993 in Bern ge-gründet, organisiert MUS-E in 16 Ländern die Arbeit professioneller Kultur-schaffender an Schulen. Mit dem Theaterprojekt am Schwabgut fördert MUS-E erstmals ein Projekt auf der Sekundarstufe. Verschiedene Sponsoren aus der Stadt Bern und dem Quartier haben die Umsetzung zusätzlich finanziell unter-stützt.

Die Schülerinnen und Schüler im Schwabgut schätzen die Möglichkeit, auf der Bühne eine andere Art von Lernen zu erfahren. Sruthy und Michela – beide proben für die Julia – gefällt es vor allem, gemeinsam mit anderen etwas zu entwickeln und in eine andere Rolle schlüpfen zu können. Die Als-ob-Welt der Bühne kann auch dabei helfen, Konflikte zwischen den Jugendlichen zu ent-schärfen. «Wenn ich mich in der Schule gewalttätig verhalte, hat das Konse-quenzen», sagt Regula Mentha. «Wenn ich Romeos Widersacher Tybalt spiele, kann ich Aggressivität ausdrücken, ohne anderen zu schaden.»

5. Zeitliche Ressourcen im Bildungsbereich Musik, Kunst

und Gestaltung