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2.2 Ursachen von Angststörungen im Kindesalter

2.2.1 Risikofaktoren

Für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Angststörungen im Kindes- und Jugend-alter werden verschiedene Risikofaktoren diskutiert, von denen die wichtigsten nachfolgend kurz vorgestellt werden sollen. Nach dem derzeitigen Forschungsstand ist von einer multi-faktoriellen Verursachung der Angststörungen auszugehen, wobei das genaue Zusammen-wirken der verschiedenen Risikofaktoren noch weitgehend ungeklärt ist. Da sich die bishe-rige Forschung zur Ätiologie kindlicher Angststörungen hauptsächlich auf die gemeinsame Untersuchung der verschiedenen Angststörungen beschränkt hat, können (fast) keine Aus-sagen über störungsspezifische Risikofaktoren getroffen werden.

Elterliche Psychopathologie

In verschiedenen Studien wurde die Psychopathologie der Eltern als Risikofaktor für die Entwicklung einer Angststörung im Kindes- und Jugendalter identifiziert (vgl. für einen Überblick Bögels & Brechman-Toussaint, 2006; Bögels & Phares, 2008). Einerseits weisen die Eltern (v. a. die Mütter) von ängstlichen Kindern häufiger eine Angststörung auf als die Eltern von gesunden Kindern (z. B. Cooper, Fearn, Willets, Seabrook & Parkinson, 2006;

Last, Hersen, Kazdin, Francis & Grubb, 1987; Last, Hersen, Kazdin, Orvashel & Perrin, 1991); andererseits haben die Kinder von Eltern mit Angststörungen ein höheres Risiko, eine Angststörung zu entwickeln, als die Kinder von gesunden Eltern (z. B. Beidel &

Turner, 1997; Biederman, Rosenbaum, Bolduc, Faraone & Hirshfeld, 1991; Merikangas, Dierker & Szatmari, 1998). Dabei ist das Risiko für die Ausbildung einer Angststörung für diese Kinder um mehr als das Doppelte erhöht (Merikangas et al., 1998). In der von Micco und Kollegen (2009) durchgeführten Meta-Analyse wurden die Prävalenzraten von psychi-schen Störungen bei Kindern von Eltern mit Angststörungen (N = 1 892; 4 bis 25 Jahre) untersucht. Im Vergleich zu Kindern einer gesunden und einer klinischen Kontrollgruppe zeigte sich, dass die Kinder von Eltern mit Angststörungen einem höheren Risiko ausge-setzt sind, selbst an einer Angststörung zu erkranken. Bisher lassen sich allerdings noch keine eindeutigen Aussagen zur spezifischen Weitergabe der Angststörungen (gleiche Angststörung bei Kindern und Eltern) machen. Einzelne Studien liefern jedoch Hinweise

darauf, dass es ein spezifisches Erkrankungsrisiko bei der Sozialen Phobie gibt (Lieb et al., 2000; Merikangas, Lieb, Wittchen & Avenevoli, 2003).

Als Ursachen für die empirisch gut belegte familiäre Häufung von Angststörungen müssen Einflüsse der Vererbung und der Umwelt in Betracht gezogen werden. Nach derzeitigem Forschungsstand kann von einer allgemeinen genetischen Prädisposition für Angst und Depression ausgegangen werden, die die Entwicklung einer Angststörung begünstigt (Bögels & Brechman-Toussaint, 2006). Aber auch Umwelteinflüsse (z. B. Modellverhalten, Erziehungsstil, Lebensereignisse) spielen bei der Entwicklung von Angststörungen eine wichtige Rolle (Burt, 2009). Welche spezifische Angststörung ein Kind bzw. Jugendlicher entwickelt, scheint dabei vor allem von individuumsspezifischen Umweltfaktoren abzu-hängen (Bolton et al., 2006; Kendler et al., 1995).

Temperament

Zahlreiche Studien konnten nachweisen, dass das Temperamentsmerkmal Verhaltens-hemmung ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Angststörung ist (vgl. für einen Über-blick Degnan & Fox, 2007; Degnan, Almas & Fox, 2010). Das Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung (behavioral inhibition; Kagan, 1994) bezeichnet eine frühe und stabile Persönlichkeitseigenschaft, die durch vorsichtiges, schüchternes, zurückgezogenes und vermeidendes Verhalten gegenüber neuen und unvertrauten Personen, Objekten und Situa-tionen charakterisiert ist (Kagan, Reznick, Clarke, Snidman & Garcia-Coll, 1984). Diesen Studien zufolge haben Kinder, die das Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung auf-weisen, ein höheres Risiko, an einer der verschiedenen Angststörungen des Kindes- und Jugendalters zu erkranken, als Kinder, bei denen dieses Temperamentsmerkmal nicht vorliegt (z. B. Biederman et al., 1990, 1993; Bosquet & Egeland, 2006; Shamir-Essakow, Ungerer & Rapee, 2005). Allerdings gibt es auch einige Studien, die nur einen Zusammen-hang zwischen Verhaltenshemmung und Sozialer Phobie fanden (Chronis-Tuscano et al., 2009; Essex, Klein, Slattery, Hill Goldsmith & Kalin, 2010; Hirshfeld-Becker et al., 2007).

Bindung

Bindung ist die Bezeichnung für eine enge und dauerhafte emotionale Beziehung zwischen zwei Menschen, die häufig im Hinblick auf die Beziehung zwischen Kindern und ihren

Das Bindungsverhalten bzw. Bindungsmuster eines Kindes entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bezugsperson, d. h. es geht aus der erlebten Interaktion mit dieser Bezugsperson hervor. Bisher haben nur wenige Studien den Zusammenhang zwischen Bindungstyp und Angststörungen untersucht. Dabei hat sich herausgestellt, dass die verschiedenen Typen unsicherer Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern bzw. Bezugspersonen in einem Zusammenhang mit der Angststörung des Kindes stehen (vgl. für einen Überblick Bögels & Brechman-Toussaint, 2006). In mehreren Studien wiesen die Kinder mit einer unsicheren Bindung ein höheres Maß an Angst auf als die Kinder mit einer sicheren Bindung (z. B. Manassis, Bradley, Goldberg, Hood &

Swinson, 1994, 1995; Warren, Huston, Egeland & Sroufe, 1997; Shamir-Essakow et al., 2005). Ein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster im Säuglings- bzw. Kleinkindalter, das durch das Fehlen enger emotionaler Beziehungen und die Zurückweisung solcher Bezie-hungen gekennzeichnet ist, verdoppelte das Risiko für die Entwicklung einer Angststörung im Alter von 17 Jahren (Warren et al., 1997).

Kognitive Risikofaktoren

Kinder und Jugendliche mit Angststörungen weisen häufig eine fehlerhafte und verzerrte Informationsverarbeitung auf (vgl. für einen Überblick Alfano, Beidel & Turner, 2002;

Hadwin, Garner & Perez-Olivas, 2006). Dabei können in erster Linie die drei folgenden kognitiven Verzerrungen beobachtet werden: Aufmerksamkeitsbias, Interpretationsbias und Gedächtnisbias. Der Aufmerksamkeitsbias beschreibt die (vermutlich erworbene) Tendenz, die Aufmerksamkeit selektiv auf Bedrohung und Gefahr auszurichten. Mehrere Studien haben gezeigt, dass Kinder mit Angststörungen emotional bedrohlichen Informa-tionen mehr Aufmerksamkeit schenken als Kinder ohne Angststörungen (z. B. In-Albon, Kossowsky & Schneider, 2010; Martin, Horder & Jones, 1992; Vasey, Daleiden, Williams &

Brown, 1995). Der Interpretationsbias bezeichnet die Tendenz, mehrdeutige angstrelevante Informationen eher als bedrohlich und gefährlich zu bewerten. Diese Tendenz wurde bei Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen in empirischen Untersuchungen wiederholt bestätigt: Kinder mit starker Angst interpretierten uneindeutige Informationen eher als bedrohlich als Kinder mit geringer Angst (z. B. Barrett, Rapee, Dadds & Ryan, 1996; Higa

& Daleiden, 2008; Muris, Merckelbach & Damsma, 2000). Unter dem Gedächtnisbias wird die Tendenz verstanden, sich an bedrohliche Informationen besser zu erinnern als an nicht-bedrohliche Informationen. Die wenigen empirischen Studien zum selektiven

Gedächtnis ergaben, dass Kinder mit hoher Ängstlichkeit in unterschiedlichen Gedächtnis-aufgaben mehr bedrohliche Wörter erinnerten als Kinder mit niedriger Ängstlichkeit (z. B.

Daleiden, 1998; Potter, 1999). Diese kognitiven Besonderheiten spielen bei der Aufrechter-haltung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter eine wesentliche Rolle (Vasey &

McLeod, 2001). Die vorliegenden Ergebnisse sollten jedoch mit Vorsicht interpretiert wer-den, weil bisher nur vergleichsweise wenige Studien durchgeführt wurden und die Ergeb-nisse nicht immer konsistent waren.

Soziale Kompetenzdefizite

Der Begriff „Soziale Kompetenz“ wird von Hinsch und Pfingsten (2007, S. 90) „als die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltens-weisen >definiert@, die in bestimmten Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen“. Nach dieser Definition gelten diejenigen Kinder und Jugendlichen als sozial kompetent, die über die Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine gelungene zwischenmenschliche Interaktion verfügen und diese auch erfolgreich einsetzen.

Die Frage, ob Kindern und Jugendlichen mit Angststörungen soziale Kompetenzen fehlen, wurde noch nicht hinreichend geklärt; die wenigen, bisher vorliegenden Studien kommen diesbezüglich zu divergenten Ergebnissen. Während der eine Teil der Studien soziale Kompetenzdefizite bei (sozial) ängstlichen Kindern und Jugendlichen nachweisen konnte (z. B. Alfano, Beidel & Turner, 2006; Dodd et al., 2011; Motoca, Williams & Silverman, 2012; Spence, Donovan & Brechman-Toussaint, 1999), fand der andere Teil der Studien keine sozialen Kompetenzdefizite (z. B. Cartwright-Hatton, Hodges & Porter, 2003;

Cartwright-Hatton, Tschernitz & Gomersall, 2005; Himeno & Shimada, 2008). In den meisten Studien stützt sich der Nachweis von sozialen Kompetenzdefiziten allerdings (nur) auf das Selbsturteil der Kinder bzw. Jugendlichen.

Aktuelle kognitive Erklärungsmodelle (z. B. Clark & Wells, 1995; Rapee & Heimberg, 1997) gehen davon aus, dass sozial phobische Kinder und Jugendliche ihre Kompetenzen deutlich unterschätzen – und zwar unabhängig von ihrem tatsächlichen Verhalten. Dass diese Kinder und Jugendlichen ihre sozialen Kompetenzen im Vergleich zu unabhängigen Beurteilern unterschätzen, wurde bereits in einigen Studien gezeigt (z. B.

Cartwright-Cartwright-Hatton und Kollegen (2003) untersuchten eine nicht-klinische Stichprobe von 110 Schulkindern im Alter von 8 bis 11 Jahren. Sie baten die Kinder, eine zweiminütige Rede vor einer Kamera zu halten. Dabei fanden die Autoren zwar einen Zusammenhang zwischen der Angst und den subjektiv eingeschätzten sozialen Fertigkeiten, nicht jedoch zwischen der Angst und den objektiv erfassten sozialen Fertigkeiten. In der Studie von Himeno und Shimada (2008) sollten 19 Schulkinder der 5. und 6. Klasse eine Rede vor ihrer Klasse halten. Hinsichtlich der sozialen Kompetenz wurde kein Unterschied zwischen den Kindern mit geringer Angst und den Kindern mit starker Angst gefunden; die objekti-ven Beurteiler konnten die Kinder der beiden Gruppen nicht unterscheiden. Die Kinder mit starker Angst schätzten sich im Hinblick auf langsames und lautes Sprechen jedoch selbst als weniger kompetent ein als die Kinder mit geringer Angst.

Dass die soziale Kompetenz die Beziehung zwischen Angststörungen und Interaktionen mit gleichaltrigen Kindern vermittelt, wird durch die Ergebnisse einer Studie von Motoca, Williams und Silverman (2012) (N = 397; 7 bis 16 Jahre; Angststörung nach DSM-IV) gestützt: Während starke Angst mit geringer sozialer Kompetenz assoziiert ist, steht geringe soziale Kompetenz in Zusammenhang mit wenigen positiven und vielen negativen Inter-aktionen mit gleichaltrigen Kindern.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Kinder und Jugendliche mit Angststörungen nicht notwendigerweise tatsächliche soziale Kompetenzdefizite aufweisen; vielmehr sind sie oft nur der subjektiven Überzeugung, dass ihnen soziale Kompetenzen fehlen würden. Dem-entsprechend sollte das soziale Kompetenztraining nicht allein durchgeführt, sondern mit kognitiven Interventionen kombiniert werden.

Elterlicher Erziehungsstil

Der Erziehungsstil beschreibt Einstellungen und Verhaltensweisen, die Eltern und andere Bezugspersonen bei der Erziehung von Kindern und Jugendlichen erkennen lassen. Bislang gibt es keine prospektiven Studien, die den Einfluss des elterlichen Erziehungsstils auf die Entwicklung von Angststörungen untersucht haben. Die Ergebnisse, die aus retrospektiven und korrelativen Studien vorliegen, zeigen, dass ein Erziehungsstil, der einerseits durch starke Überbehütung und Kontrolle, andererseits durch geringe emotionale Wärme und Feinfühligkeit gekennzeichnet ist, als Risikofaktor für die Entstehung und Aufrecht-erhaltung einer Angststörung gelten kann (vgl. für einen Überblick Bögels &

Brechman-Toussaint, 2006; Degnan et al., 2010; Rapee, 1997; Wood, McLeod, Sigman, Hwang &

Chu, 2003). Gar und Hudson (2008) konnten nachweisen, dass die Mütter von ängstlichen Kindern mehr überbehütendes und kritisches Erziehungsverhalten zeigten als die Mütter von nicht-ängstlichen Kindern. In einer von McLeod, Wood und Weisz (2007) durchge-führten Meta-Analyse wurden 47 Studien berücksichtigt, die den Zusammenhang zwischen elterlichem Erziehungsverhalten und auftretenden Angststörungen untersucht hatten.

Dabei zeigte sich, dass starke Ablehnung und Kontrolle durch die Eltern bzw. Bezugsper-sonen mit hoher Angst auf Seiten der Kinder bzw. Jugendlichen assoziiert ist. Über alle Studien hinweg erklärte das elterliche Erziehungsverhalten allerdings nur 4 % der Varianz von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter, was vermutlich einerseits auf die metho-dischen Einschränkungen, andererseits auf die inkonsistenten Befunde der zugrundeliegen-den Studien zurückzuführen ist. Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass das Erziehungs-verhalten unabhängig von der Psychopathologie der Eltern zu sein scheint. Van der Bruggen, Stams und Bögels (2008) fanden in ihrer meta-analytischen Überblicksarbeit keinen signifikanten Zusammenhang zwischen elterlichen Ängsten und kontrollierendem Erziehungsverhalten.

Belastende Lebensereignisse

Im Kindes- und Jugendalter können Angststörungen sowohl durch normative (z. B. Über-gang vom Kindergarten in die Schule) als auch durch nicht-normative Lebensereignisse (z. B. Krankheit und Tod eines Geschwisterkindes) ausgelöst werden. Zu den auslösenden Risikofaktoren können beispielsweise dauerhafte Veränderungen der Lebensumstände (z. B. Schuleintritt, Klassen- oder Schulwechsel, Umzug, Wegzug des besten Freundes) und Veränderungen der Familiensituation (z. B. Geburt eines Geschwisterkindes, Scheidung der Kindeseltern, Tod eines nahen Angehörigen) gezählt werden. Bei den auslösenden Risiko-faktoren kann es sich aber auch um einzelne, zeitlich begrenzte Ereignisse im Leben eines Kindes oder Jugendlichen handeln (z. B. Ablehnung durch gleichaltrige Kinder, Trennung des Kindes von den Eltern (i. S. eines kurzzeitigen Verlorengehens), Biss eines Hundes).

Bisher gibt es nur wenige Studien, die den Einfluss belastender Lebensereignisse auf die Entwicklung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen untersucht haben. Einige Studien konnten zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen mit Angststörungen in ihrem bisherigen Leben mehr belastende Ereignisse erlebt hatten als die Kinder und Jugendlichen

Rapee & Szollos, 2002). Dabei wiesen die Kinder mit einer weiteren psychischen Störung die höchste Rate an belastenden Lebensereignissen auf (Allen & Rapee, 2009). Auch in der von Legerstee, Garnefski, Jellesma, Verhulst und Utens (2010) durchgeführten Studie berichteten ängstliche Kinder (N = 131; 9 bis 11 Jahre; Angststörung nach DSM-IV) über deutlich mehr negative Lebensereignisse als gesunde Kinder (N = 452; 9 bis 11 Jahre). Zur Bewältigung dieser Lebensereignisse setzten die ängstlichen Kinder weniger funktionale (kognitive) Strategien (z. B. positive Neubewertung, Handlungsplanung) und mehr dys-funktionale (kognitive) Strategien (z. B. Selbstvorwürfe, Grübeln, Katastrophisieren) ein als die gesunden Kinder.