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Eine retrospektive Analyse gestützt auf eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 1949

Im Dokument Jahrbuch für Antisemitismusforschung 16 (Seite 163-195)

Die Einführung des sogenannten Judensterns im Dritten Reich im September 1941 setzte eine wichtige Zäsur im Umgang mit Juden. Und sie wurde eine entscheiden-de Stufe in entscheiden-deren Ausgrenzung und Vernichtung: Nur wenig später, nachentscheiden-dem entscheiden-der Erlass verkündet war, wurde die Auswanderung verboten, und kurz darauf setzten bereits die ersten Deportationen aus Deutschland in den Osten ein. Mit der Ein-führung des Judensterns war die öffentliche Ausgrenzung endgültig vollzogen und eine Identifizierbarkeit geschaffen, die den schnellen und unmittelbaren Zugriff für die NS-Instanzen erlaubte. War vorher äußerlich nicht wahrzunehmen, wer Jude war, so konnte nun jeder, der offiziell als Jude galt und sich den Anordnungen fügte, eindeutig als solcher erkannt werden.1

Die Einführung des Judensterns dürfte für die meisten Deutschen überra-schend gekommen sein. Nachdem Goebbels eine erneute Initiative zur Einfüh-rung des Judensterns unternommen hatte, war von Juli 1941 an die antisemitische Propaganda verstärkt worden, doch Hinweise auf eine Kennzeichnung der Juden waren darin nicht enthalten. Selbst nachdem der Beschluss endgültig gefallen war und Hitler seine Zustimmung gegeben hatte, blieb die geplante Kennzeichnung in der Propaganda unerwähnt. Die Presse wurde zwar in Kenntnis gesetzt, sie sollte 1 Zur Geschichte des Judensterns siehe insbesondere Jens J. Scheiner, Vom gelben Flecken zum Judenstern? Genese und Applikation von Judenabzeichen im Islam und christli-chen Europa (1849–1941), Frankfurt a. M. 2004, S. 120 ff.; Philip Friedman, The Jewish Badge and the Yellow Star in the Nazi Era, in: Historia Judaica 17 (1955), Nr. 1, S. 41 ff.; Ian Kershaw, Hitler 1936–1945, Stuttgart 2000.

explizite Hinweise jedoch unterlassen. In der entsprechenden Presseanweisung vom 21. August 1941 heißt es, dass „nicht ausgeschlossen [sei], dass binnen kür-zester Zeit Maßnahmen gegen die Juden im Inland ergriffen werden, und zwar zur Kennzeichnung der jüdischen Rasse im großdeutschen Reich (Armbinden usw.).

Damit das deutsche Volk nicht zu sehr erstaunt ist über diese Neuerung, soll in der Presse etwas vorgearbeitet werden, ohne die gesetzlichen Maßnahmen anzu-schneiden“.2

Dass die Kennzeichnung der Juden vorerst nicht erwähnt werden sollte, dürf-te nicht nur taktische, sondern auch andere Gründe gehabt haben. So waren die Modalitäten der Maßnahme im Einzelnen selbst wenige Tage vor Verabschiedung noch nicht endgültig geklärt, womöglich nicht einmal die Art der Kennzeichnung.

Die Festlegung geschah erst relativ spät.3 Der Termin für die Veröffentlichung der neuen Verordnung in den Zeitungen wurde entsprechend mehrfach verschoben.

2 Jürgen Hagemann, Die Presselenkung im Dritten Reich, Bonn 1970, S. 262. Im Zusammen-hang mit dem verschärften Diskurs über die „Judenfrage“ ist auch der Wochenspruch der Reichspropagandaleitung der NSDAP vom 7. September 1941 zu sehen, der auf einem Pla-kat in zahlreichen Schaukästen der NSDAP ausgehängt wurde und als Zitat Hitlers „Pro-phezeiung“ vom 30. Januar 1939 enthielt, derzufolge das Ergebnis eines neuen Weltkriegs nicht die „Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein“ werde, „son-dern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Vgl. Christian Barth, Goebbels und die Juden, Paderborn 2003, S. 186; Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewusst“. Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006, S. 168. Ob die Mahnung, die Judenpropaganda „äußerst taktvoll und geschickt“ zu betreiben, um die Akzeptanz in der Bevölkerung nicht zu gefährden, dazu führte, dass der Wochenspruch in kalligrafischer Schönschrift – wie ein Schmuckblatt – gestaltet wurde und nicht, wie sonst oft üblich, in plakativer Weise, ist eine offene Frage. Das Blatt ist abgedruckt bei Kershaw, Hitler, S. 534.

Wie die Parole der Woche zu anderen Zeiten aussah, vermittelt ein Abdruck vom Juli 1942 bei Konrad Kwiet, Nach dem Pogrom: Stufen der Ausgrenzung, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Juden in Deutschland, 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft, München 1988, S. 620.

3 Die entsprechende Entscheidung Hitlers war über einen Schnellbrief vom 26. 8. 1941 bekannt gegeben worden, gleichzeitig wurde eine Sitzung der Reichsministerien zu einer Besprechung der Einzelheiten am 29. 8. 1941 einberufen. Kershaw schreibt von einer hastig zusammengetrommelten Versammlung, die sich im August getroffen habe, vgl. Kershaw, Hitler, S. 631, vgl. auch Barth, Goebbels, S. 185. Verwirrend ist, dass selbst in der Presse-mitteilung vom 21. August noch von Armbinden die Rede ist und nicht von Judensternen, obwohl diese im Generalgouvernement längst eingeführt waren und ein entsprechendes Modell hätten abgeben können.

Am Morgen des 13. September konnte die Öffentlichkeit dann erstmals etwas aus der Presse über die Einführung des Judensterns erfahren. Sie konnte im Rahmen einer Kurzmeldung lesen, dass am 1. September die Bestimmungen in Form einer Polizeiverordnung erlassen worden seien und am 19. September in Kraft treten würden. Eine zweite, teilweise etwas längere Meldung folgte in einigen Zeitungen zwischen dem 18. und 21. September im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten der Polizeiverordnung am 19. September.4 Von einer ausführlichen Berichterstattung kann jedoch keine Rede sein.5 Die Meldungen nahmen in der Regel allenfalls eine marginale Stellung in den Zeitungen ein, erschienen meist in Form einer kleinen Nachricht und dann auch nicht einmal notwendigerweise auf der Titelseite, son-dern einer der Innenseiten.Selbst die NS-Parteizeitungen gaben sich in dieser Hin-sicht zurückhaltend.6

Aufgrund dessen ist es durchaus möglich, dass die Nachricht vielfach überlesen wurde. Eine Rezeption ist durch bloße Veröffentlichung nun einmal nicht garan-tiert – schließlich ist die Lektüre von Zeitungen damals wie heute selektiv: Manches wird überhaupt nicht wahr- und entsprechend auch nicht zur Kenntnis genommen.

Und die Wahrscheinlichkeit dafür ist umso größer, je marginaler die Aufmachung 4 Entsprechende Tagesparolen waren am 12. und 18. September ausgegeben worden, vgl.

Longerich „Davon haben wir nichts gewusst“, S. 395 (Anm. 56).

5 Longerich schreibt zwar, es sei ausführlich über die Einführung des Sterns in der Deutschen Presse berichtet worden, ebenda, S. 169, ähnlich Frank Bajohr, Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933–1945, in: Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006, S. 56. Doch eine nähere systematische Sichtung ausgewählter Zeitungen belegt dies nur bedingt. Der „Hamburger Anzeiger“

berichtet am 13. 9. auf der Titelseite mit einer Kurzmeldung von der Verordnung, erneut mit etwas mehr Text und mit Bild am 18. 9., von Ausnahmen, die Regelung betreffend, ist in einer Kurzmeldung am 20./21. 9. die Rede. Im „Hamburger Fremdenblatt“ ist lediglich am 13. 9. eine Kurzmeldung auf S. 2 zu finden, im „Berliner Lokal-Anzeiger“ lediglich am 12. 9. eine Kurzmeldung auf S. 1; im „Angriff“ – der Tageszeitung der Deutschen Arbeits-front – steht am 14. 9. eine kleinere Meldung auf S. 2, dann mit Bild eine kleine Meldung am 18. 9. auf S. 1. Keine Meldung findet sich in den Wochenzeitungen „Berliner Illustrierte Zeitung“ sowie „Hamburger Illustrierte Zeitung“ und in der „Preußischen Staatszeitung“, im „Reich“ lediglich ein Dreizeiler auf S. 18 am 21. 9.

6 Im „Völkischen Beobachter“ erscheint die Meldung ebenso wie im „Westdeutschen Beo-bachter“ als Kurzmeldung am 13. 9. auf S. 2. Selbst „Der Stürmer“ verhielt sich zurückhal-tend.

und Platzierung der Meldung ist.7 Bei einem Teil der Bevölkerung dürfte es daher geschehen sein, dass sie nicht durch die Zeitung über die Einführung des Juden-sterns erstmals Kenntnis erlangte, sondern im Alltag durch persönliche Wahrneh-mung. Dass sie zu einer späteren Zeit auch durch die Presse oder andere Medien Informationen und Begründungen erhielt, ist damit nicht ausgeschlossen.

In der Tat wurde im Laufe des Oktober 1941 die Kennzeichnung der Juden in ver-mehrtem Maße ein Thema der NS-Propaganda8 – und dies sicherlich nicht nur, weil die Kennzeichnung in der Bevölkerung zum Teil auf Kritik stieß, sondern auch weil sich in dieser Zeit der Umgang mit Juden verschärfte: Von Mitte Oktober an began-nen von Berlin aus die ersten Deportatiobegan-nen in den Osten. Unter diesen Umständen versuchte man mit einer Mischung aus Propaganda und Zwang, den Kontakt zwi-schen der jüdizwi-schen und nichtjüdizwi-schen Bevölkerung endgültig zu unterbinden. So wurde – wie etwa in den „Hamburger Gaunachrichten“ – an die Deutschen appel-liert, keine „Gefühlsduselei“ zu zeigen, wenn sie auf der Straße Menschen mit einem

„Davidstern“ begegnen würden.9 Zugleich drohte man denen erhebliche Strafen an, die Kontakte zu Juden unterhielten. Der entsprechende Erlass des Reichssicherheits-hauptamtes vom 24. Oktober wurde zusammen mit den Lebensmittelkarten an die nicht-jüdischen Haushalte verschickt. Das Blatt war mit einem gelben Stern und der Aufschrift versehen „Deutsche, das ist Euer Todfeind“.10

7 Dazu siehe Steffen Kolb/Rainer Mathes/Christoph Kochhan, Von der kommunikations-zentrierten Auswertung von Medieninhaltsanalysen zur Schätzung von Rezeptionswahr-scheinlichkeiten, in: Werner Wirth/Edmund Lauf (Hrsg.), Inhaltsanalyse: Perspektiven, Probleme, Potentiale, Köln 2001, S. 244–261.

8 Dies geschah nicht nur gezielt, sondern auch bei sich bietender Gelegenheit. So heißt es in einer Pressedirektive vom 27. 10. 1941, dass die Erklärung des rumänischen Ministerprä-sidenten Antonescu gegen die Juden die „Gelegenheit [böte], die Ausgabe des Judensterns in Deutschland erneut zu begründen“. Vgl. Hagemann, Presselenkung, S. 203, S. 147 (Fuß-note 80).

9 Vgl. Bajohr, Konsens, S. 56

10 Vgl. David Bankier, Die öffentliche Meinung im Hitler-Staat. Die „Endlösung“ und die Deutschen. Eine Berichtigung, Berlin 1995, S. 175. Inwieweit in Berlin auch eine Broschüre verteilt wurde, in der gegenüber den Juden eine Todesdrohung angesprochen wurde, ver-sehen mit einem angehefteten Judenstern, wie dies Claudia Koonz schreibt, ist eine offene Frage. Das bei ihr abgedruckte Exemplar aus der Sammlung des New Yorker Yivo-Institute könnte auch eine Sondersituation darstellen: Jemand könnte den Stern später dort ein-geheftet haben. Aus der Literatur ist bislang nichts Vergleichbares bekannt. Vgl. Claudia Koonz, The Nazi Conscience, Cambridge/London 2005, S. 270.

Das Tragen des Sterns blieb nicht die einzige Maßnahme zur Kennzeichnung der Juden. Kurz nach dessen Einführung folgte eine Kennzeichnungspflicht für Wohnungen. Beide Ereignisse stehen in unmittelbaren Zusammenhang, wie man dem Tagebuch von Joseph Goebbels entnehmen kann. An dem gleichen Tag, an dem die neue Judenverordnung zur Kennzeichenpflicht in den Zeitungen veröf-fentlicht wurde, schrieb er: „Ich ordne an, dass nunmehr auch die von uns einge-führten Judenkennzeichen an die Judenwohnungen geklebt werden, und zwar auf die Haustüre. Dann weiß auch jeder, der eine Judenwohnung betritt, dass er sich in einer Judenwohnung befindet.“11

Im Gegensatz zur Verordnung über die Einführung des Judensterns verzichtete man in diesem Fall allerdings darauf, die neue Maßnahme publik zu machen, ver-bot dies sogar.12 Es war nicht das erste Mal, dass ein solches Verbot ausgesprochen wurde. Im Gegenteil: es entsprach einer schon länger bestehenden Praxis selektiver Informationsvermittlung über neu initiierte antijüdische Maßnahmen.13 Infolge-dessen konnte es auch immer wieder einmal zu Situationen kommen, wo sich nicht betroffene Deutsche überrascht zeigten, wenn sie im Kontakt mit Juden etwas über die Einschränkungen erfuhren, denen diese unterworfen waren.14 Vermutlich gab es eine Berichterstattung über antijüdische Maßnahmen primär dann, wenn das Regime die Deutschen aktiv in die Isolierung der Juden mit einbeziehen wollte, es auf ihre Kooperation angewiesen war. Wo dies nicht der Fall war, wurde einer Geheimhaltungspolitik der Vorzug gegeben.

11 Vgl. Barth, Goebbels, S. 460.

12 So heißt es in einer Presseanweisung vom 7. Februar 1942: „Veröffentlichungen über die Kennzeichnung jüdischer Wohnungen oder überhaupt Veröffentlichungen über Maßnah-men gegen Juden sind verboten.“ Vgl. Hagemann, Presselenkung, S. 224 (Fußnote 74).

13 Verboten wurden auch Berichte über eingeschränkte Einkaufszeiten. Vgl. Hagemann, Presselenkung, S. 144 (Fußnote 49), S. 224 (Fußnote 72). Nur wenige der Juden betreffen-den Gesetze wurbetreffen-den von betreffen-den allgemeinen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht und kommentiert. Anordnungen und Durchführungsvorschriften wurden hingegen im „Jüdi-schen Nachrichtenblatt“ veröffentlicht und dadurch jenem Kreis zugänglich, an den sich die Erlasse richteten. Vgl. Clemens Meier, „Zwischen Leben in Brasilien“ und „Aus den Verordnungen“ – Das Jüdische Nachrichtenblatt 1938–1943, in: Beate Meyer/Hermann Simon (Hrsg.), Juden in Berlin 1938–1945, Berlin 2000, S. 109.

14 Vgl. Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten: Tagebücher 1933–1945, Berlin 1995, Eintrag vom 19. 4. 1942, 18. 8. 1942.

Die Reaktionen der Bürger auf den Judenstern in zeitgenössischer Berichterstattung

Wie reagierte die deutsche Bevölkerung auf die Einführung des Judensterns? Die Antwort auf diese Frage ist nicht nur für das Verständnis der damals verbreiteten Einstellungen zur Kennzeichnung der Juden von Interesse. Ihre Bedeutung reicht darüber hinaus: An der Reaktion selbst kann man in gewissem Umfang ermessen, wie sehr der Antisemitismus die deutsche Gesellschaft durchdrungen hatte. „Unge-heuer aufschlussreich für die Mentalitätsgeschichte der Deutschen wäre es“, schreibt Wolfgang Benz, „wenn protokolliert worden wäre, was in den unzähligen Augenbli-cken der Konfrontation geschah, was jeder einzelne empfand, wenn er Juden begeg-nete, als sie mit dem Stern als vogelfrei gebrandmarkt waren.“15

Die Ergebnisse bisheriger Bestandsaufnahmen der Reaktionen auf den Juden-stern sind widersprüchlich. Nach den Berichten des SD und anderer NS-Dienststel-len wurde die Einführung des Judensterns von der Bevölkerung mehrheitlich positiv aufgenommen.16 David Bankier und Peter Longerich, die unter Rückgriff auf eine Vielzahl von Quellen bisher am gründlichsten die Reaktion der Deutschen auf die Judenverfolgung analysiert haben, meinen hingegen, die Mehrheit der Bürger habe negativ auf die Einführung des Judensterns reagiert. In den Berichten des SD hätten sich wohl eher die Vorstellungen der Berichterstatter als die Realität niedergeschla-gen.17 In ähnlicher Weise mutmaßte Ian Kershaw, die SD-Berichte über die Kenn-zeichnung der Juden spiegelten die Ansichten „fanatischer Parteigenossen“ wider.18

Den zeitgenössischen Berichten zufolge, die Bankier und Longerich ausführ-licher zitieren, war die Kennzeichnung ein „riesiger Fehlschlag“. Viele Deutsche 15 Wolfgang Benz, Die Deutschen und die Judenverfolgung: Mentalitätsgeschichtliche

Aspek-te, in: Ursula Büttner (Hrsg.), Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich, Frankfurt a. M. 2003, S. 69–85, hier S. 80.

16 Vgl. Meldungen aus dem Reich (Nr. 227) vom 9. Oktober 1941, in: Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Bd. 8, Herrsching 1984, S. 2849; siehe hierzu auch die Zusammenstellung der NS-Berichte in Otto Dov Kulka/Eberhardt Jäckel(Hrsg.), Die Juden in den geheimen NS-Stim-mungsberichten 1933–1945, Düsseldorf 2004, S. 456 ff., zu Aussagen über Kritik, S. 465, 582.

17 Bankier, Die öffentliche Meinung, S. 174; Longerich, Gewusst, S. 179, 181.

18 Kershaw, Hitler, S. 632.

würden jetzt bei einer Begegnung mit Juden auf der Straße den Kopf senken, heißt es dort wiederholt. Außerdem sei zu beobachten, dass einige Deutsche in die öffentlichen Verkehrsmittel erst nach den Juden einstiegen, um ihnen damit einen Sitzplatz zu ermöglichen. Denn ihnen einen anzubieten, sei strafbar.19 Mit dieser Beschreibung überwiegend negativer Reaktionen korrespondieren die Berichte über die Äußerungen von NS-Politikern, die – wie Joseph Goebbels – die Reaktio-nen der Deutschen aufmerksam verfolgten. So beklagte sich dieser anlässlich eines Tischgesprächs in der Reichskanzlei, dass die Einführung des Judensterns genau das Gegenteil von dem erbracht habe, was intendiert worden sei. Die Menschen würden Sympathie für die Juden zeigen. Sie seien noch nicht reif und wären voller

„Gefühlsduselei“.20

Ähnlich wie schon 1938 die als unzureichend erachtete Reaktion der Bevöl-kerung auf die Geschehnisse der „Reichskristallnacht“ einen Anlass für gesteigerte antisemitische Propaganda bildete,21 wurde daraufhin von Goebbels eine verstärk-te propagandistische Behandlung des Themas initiiert. Die Zeitungen sollverstärk-ten der

„jüdischen Bedrohung“ besondere Aufmerksamkeit schenken. Es gebe eine „gewis-se Mitleidswelle“ mit den Juden, hieß es auf einer Pres„gewis-sekonferenz am 26. Septem-ber 1941. Es sei daher notwendig, „mit aller Schärfe dieses Thema aufzugreifen und dem deutschen Volke klarzumachen, was das Judentum ihm bereits angetan habe und antun würde, wenn es die Macht dazu hätte“. Allerdings sei mit Bedacht vorzu-gehen und das Problem nicht „in der gesamten Presse mit einem Schlage aufzugrei-fen, sondern es [sei] gelegentlich zu tun“.22

Für Goebbels bedeutete die „Mitleidswelle“ nicht nur, dass die Deutschen noch nicht „reif“ waren und in unzureichendem Maße antisemitisches Gedankengut 19 Vgl. Bankier, Die öffentliche Meinung, S. 173; Longerich, Gewusst, S. 171 ff.; vgl. auch Scheiner, Vom gelben Flecken, S. 129, wo u. a. ein US-Diplomat mit der Aussage zitiert wird: „The required wearing of the Star of David has met with almost universal disapproval by the people of Berlin and in some cases with astonishing manifestations of sympathy.“

20 Bankier, Die öffentliche Meinung, S. 175.

21 Vgl. Karl-Heinz Reuband, „Jud Süß“ und „Der ewige Jude“ als Prototypen antisemitischer Propaganda im Dritten Reich. Entstehungsbedingungen, Zuschauerstrukturen und Wir-kungspotentiale, in: Michael Andel/Detlef Brandes/Alfons Labisch/Juri Pesak/Thomas Ruzicka (Hrsg.), Propaganda, (Selbst-)Zensur und Sensation. Grenzen von Presse- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland und Tschechien seit 1871, Essen 2005, S. 113 f.

22 Longerich, Gewusst, S. 172; Hagemann, Presselenkung, S. 262 (Fußnote 430).

angenommen hatten. Es bedeutete zugleich auch ein Unruhepotenzial, das sich bei entsprechender Gelegenheit auswirken könnte. Die Sorge darum ebbte in der unmittelbaren Folgezeit keineswegs ab. Die antijüdische Propaganda müsse äußerst taktvoll und geschickt betrieben werden, bemerkte er z. B. auf einer Ministerkonfe-renz im Oktober 1941. Er habe beispielsweise Angst, dass in öffentlichen Verkehrs-mitteln eine 70-jährige Jüdin von einem 16-jährigen BDM-Mädchen hochgejagt würde, dagegen könnte das Publikum revoltieren.23

Zielsetzung und methodisches Vorgehen

Im Folgenden soll ein anderer Weg der Erforschung gewählt werden, als er bisher bei der Analyse der Reaktionen auf den Judenstern üblich war. Wir stützen uns dabei auf eine repräsentative Umfrage in der Bevölkerung, in der mittels retrospek-tiver Fragen die Zeit des Nationalsozialismus rekonstruiert wird. Umfragen zählen unberechtigterweise zu den am wenigsten genutzten Quellen in der historischen Forschung. Dabei erlauben sie nicht nur, Aussagen über Bevölkerungsgruppen und Ereignisse für eine Zeit zu treffen, für welche die herkömmlichen Quellen der Historiker nur ungenaue oder keine Aussagen erlauben. Sie erlauben es auch, die spezifische Kombination struktureller Rahmenbedingungen und subjektiver Deu-tungsmuster zu erfassen.

Selbstverständlich sind Umfragen – ebenso wie andere (auch historische) Quellen – nicht ohne methodische Probleme. Im vorliegenden Fall betreffen sie vor allem die Erinnerung und sozial erwünschtes Antwortverhalten. Erinnerungen können Verzerrungen unterliegen. Je mehr Zeit vergangen ist, desto eher ist dies der Fall. Doch sicher ist ebenso, dass die Erinnerungsprobleme nicht zwangsläufig derart groß sein müssen, dass die Verhältnisse grundlegend verfälscht werden. So haben mehrere Untersuchungen die Brauchbarkeit und Genauigkeit von Erinnerun-gen – selbst über Jahrzehnte hinweg – belegt.24 Auch das Problem sozial erwünsch-ter Antworten halten wir nicht für derart gravierend, dass man von vornherein

23 Zit. nach Viktor Reimann, Dr. Joseph Goebbels, Wien 1971, S. 263.

24 Vgl. u. a. Duane F. Alwin/Theodore Mead Newcomb/Ronald L. Cohen, Political Attitudes over the Life Span: the Bennigton Women after Fifty Years, Madison 1991, S. 120 ff.

Umfragebefunde als wenig informativ einschätzen muss. Natürlich sind, gerade bei der NS-Thematik, derartige Antworttendenzen denkbar. Und die Wahrscheinlich-keit dafür dürfte umso größer sein, wenn es sich bei der Befragung – wie im vor-liegenden Fall – nicht um eine anonyme schriftliche, sondern um eine face-to-face Befragung handelt.

Dennoch ist nicht anzunehmen, dass die Neigung zu sozial erwünschten Ant-worten das Gesamtbild grundlegend verfälscht: Untersuchungen, in denen anhand objektiver Unterlagen die im Interview gemachten Angaben überprüft wurden, haben selbst im Fall höchst sensibler Sachverhalte, wie z.B. bei strafbaren Delik-ten, in der Regel eine mehrheitliche Übereinstimmung zwischen den Angaben erbracht. Dass die Situation bei Fragen zur NS-Zeit anders aussehen soll, ist nicht anzunehmen. So haben Umfragen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, in denen die NSDAP-Mitgliedschaft erfragt wurde, hochgerechnet auf die Zahl der Mitglie-der eine hohe Übereinstimmung auf Mitglie-der Aggregatebene dokumentiert.25 Wenn auf-grund sozial erwünschter Antworten Verzerrungen entstehen sollten, dann sind sie wohl eher graduell als grundsätzlich.

Im Folgenden ziehen wir eine Umfrage heran, die im August 1949 vom Insti-tut für Demoskopie bundesweit durchgeführt wurde. Diese Studie ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig: erstens ist sie die einzige, in der Fragen zur Wahrnehmung der Judenverfolgung einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung gestellt wurden.26 Zweitens ist sie wie keine andere Erhebung, die sich dem Thema der

Im Folgenden ziehen wir eine Umfrage heran, die im August 1949 vom Insti-tut für Demoskopie bundesweit durchgeführt wurde. Diese Studie ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig: erstens ist sie die einzige, in der Fragen zur Wahrnehmung der Judenverfolgung einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung gestellt wurden.26 Zweitens ist sie wie keine andere Erhebung, die sich dem Thema der

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