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Reliterarisierung des Tellstoffes am Beispiel von Max Frisch: „Wilhelm Tell für die Schule“

Im Dokument HUMANIORA: GERMANISTICA 5 (Seite 145-151)

Mit Max Frischs „Wilhelm Tell für die Schule“ aus dem Jahr 1970 liegt ein bemerkenswerter Versuch vor, diese Entwicklung wieder rückgän-gig zu machen.27 Dabei geht es Frisch nicht darum, erneut im Geiste Schillers zu schreiben und Schillers „Wilhelm Tell“ von einer reduzier-ten Lesart zu befreien; im Gegenteil liest sich Frischs Textexperiment zu einem Gutteil als Persiflage eben dieser Referenzfolie. Wichtig für unsere Zusammenhänge ist Frischs Text aber nicht aufgrund seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schiller – das wäre eine eigene Fra-gestellung –, auch nicht wegen seines aufklärerisch-mythendemontie-renden Impetus (vgl. hierzu ausführlich Jeziorkowski 1982), sondern vornehmlich als Versuch, den Tellstoff wieder zu dem zu machen, was er ist: (eine) Geschichte im Als-ob-Modus. Und das geschieht nun mit literarischen Mitteln, die denkbar andere sind, als wir sie von Schillers Geschichtsdrama kennen.

Strukturell gesehen besteht „Wilhelm Tell für die Schule“ aus zwei al-ternierend angeordneten Textelementen, die formal und stilistisch deutlich unterschieden sind: Ein Erzähltext im Präteritum ist mit Fuß-noten versehen, die jedem Abschnitt nachgestellt sind. Selbst wer die

bewirken und Fakten schaffen will. Die hierbei jeweils beleuchtete Referentialität ist jedoch von dem Spannungsverhältnis von Fiktion und Faktum zu unterscheiden, das ein Text als Nationalepos generiert; die Fiktion des Nationalepos behauptet, Zeugnis seiner geschichtsträchtigen Referenz zu sein. Als solche kann sie stets auch als historische Fiktion begriffen werden.

27 Neben Max Frisch wären zahlreiche weitere Schweizer Autoren und Autorinnen zu nennen, die gleichfalls kritisch und demontierend auf den Nationalmythos „Wilhelm Tell“ reagiert haben, und das nicht erst seit 1945, etwa Robert Walser, Peter Bichsel, Friedrich Dürrenmatt und andere mehr (vgl. dazu Matt 1991: 13–31).

hochgestellten Ziffern ignoriert, stößt nach wenigen Seiten auf einen Anmerkungsapparat, der den Erzähltext unterbricht. Die Anmerkun-gen zitieren zum einen aus historischen Quellen und Arbeiten, ange-fangen vom „Weißen Buch von Sarnen“ über Aigidius Tschudi bis zu jüngeren historischen Darstellungen, und selbst die Schweizer Tages-presse wird aufgerufen; zum anderen enthalten die Anmerkungen Kommentare in wissenschaftlichem Gestus, entweder zu den ange-führten Zitaten oder zum Erzähltext.

Beide formal getrennten Teile funktionieren zusammen als Kontra-faktur der Legendenbildung um Wilhelm Tell sowie deren Historisie-rung: Während die Erzählpassagen die Tell-Legende konterkarieren – gleichwohl ohne den reichlich dürftigen Quellen widersprechen zu müssen –, legen die historisch-kritischen Anmerkungen den Vorgang der Historisierung und historischen Fiktionsbildung offen. Protagonist der Erzählpassagen ist nicht, wie dem Titel nach zu erwarten wäre, Wilhelm Tell, sondern „ein dicklicher Ritter“ (Frisch 1971: 7), der un-schwer als Tells Widersacher Gessler zu erkennen ist, dem Typus des Tyrannen aus Schillers Stück aber ganz und gar nicht entspricht. Denn weder haben wir es hier mit einem Helden noch mit einem Anti-Hel-den zu tun; der „dickliche Ritter“ wäre eher der Kategorie des mittle-ren Helden zuzuordnen, die weder zur Identifikation noch zur Projek-tion einlädt. „Ritter Konrad oder Grisler“ (ebd., 16) – auf die Be-deutung des oder im Namen gehe ich später ein – kommt nicht als Herrscher in die Gegend um den Vierwaldstättersee, sondern um ei-nen ihm selbst unliebsamen Auftrag so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Auch ist er nicht Movens der Geschichte, sondern in diese verstrickt und von dieser getrieben. Als solcher steht er im doppelten Gegensatz zum typischen Helden eines Epos, beeinflusst er doch weder die Geschichte noch können seine Handlungen als „große Taten“ be-zeichnet werden. Vielmehr sind es die kleinen Leiden des Alltags, die die Erzählung prägen: „Der dickliche Ritter“ leidet an Langeweile, die ihm die Gegenwart des Fräulein von Bruneck verursacht, an Kopfweh und Unwohlsein als Auswirkung des ungewohnten Föhns, und über-haupt kann er als Ortsfremder mit der unwegsamen Hochgebirgsge-gend und der schroffen Art der Gebirgsbewohner nicht recht warm werden. Diese Affektionen des Protagonisten stehen allesamt in deutli-chem Gegensatz zu dem Bild, das der Leser von der Figur im Kopf hat,

ein Bild, das selbstverständlich bei der Lektüre vorausgesetzt wird und den komisierenden und ent-emphatisierenden Effekt bewirkt. Keine neue heroische Sage wird hier erzählt, vielmehr haben wir es mit einem Anti-Epos zu tun, wofür neben der Figurenzeichnung und der Hand-lungsführung überdies die ständigen Unterbrechungen der Erzählung durch die Anmerkungen sprechen: Dies verhindert ebenso eine ein-fühlende Lektüre wie einen geschlossenen Erzählzusammenhang.

Im Kern ist Frischs „Wilhelm Tell für die Schule“ damit eine Demon-tage des Mythos vom Tyrannen Gessler – und im Gegenzug vom Frei-heitshelden Tell: Frischs Text ist am Leitfaden der wichtigsten Statio-nen von Schillers „Tell“-Stück strukturiert: Gessler-Hut, Apfelschuss-Szene, Tellsprung, Ermordung Gesslers. Dabei sind die Episoden aber jeweils so erzählt, dass das Verhältnis von Täter und Opfer in die Schwebe gerät, sich zuweilen sogar umkehrt, etwa wenn es nicht „der dickliche Ritter“ ist, der Tell zum Apfelschuss auf seinen Sohn provo-ziert, sondern Tell selbst bzw. sein Sohn (vgl. ebd., 87–96). Der Sprung vom Schiff auf die Tellsplatte findet bei Frisch erst gar nicht statt, da

„der dickliche Ritter“ Tell vor der Überfahrt zurücklässt. Diese effekt-voll umgesetzte Demontage eines nationalen Mythos wäre jedoch noch keine Literatur, wenn sie nicht zugleich eine Kategorie zurückgewänne, die seit Aristoteles für die Definition von Dichtung zentral ist: die Kategorie der Möglichkeit. Es ist, als wollte der Erzähltext aussagen: Es hätte auch so gewesen sein können, die Quellen sind nicht eindeutig, sondern sie eröffnen einen Möglichkeitsraum. Es ist eine Version des Tell-Stoffes, die geradezu dazu anregt, weitere Tell-Versionen zu erfinden – nicht zuletzt als Anregung für Schüler, kreativ mit dem Stoff umzugehen. Indem Frisch die Quellen nutzt, um eine alternative Legende zu erzählen, macht er die Funktionsweise von Legenden deutlich, nämlich Geschichte(n) im Als-Ob-Modus zu sein, weitere Geschichten zu bewirken, erzählt und neu erzählt zu werden. Der erste Satz macht sogleich den unsicheren epistemischen Status deutlich und etabliert den besonderen ontologischen Status der Fiktion: „Wahr-scheinlich Konrad von Tillendorf [...], vielleicht auch ein anderer, der Grisler hieß [...], jedenfalls aber ein Ritter ohne Sinn für Landschaft ritt an einem sommerlichen Tag des Jahres 1291 durch die Gegend, die heute als Urschweiz bezeichnet wird.“ (Ebd., 7) Die überlieferten (möglichen) Namen relativieren sich, und dagegen wird im Gestus der

Gewissheit das „jedenfalls aber“ gesetzt, was so aussagekräftig ist wie der typische Märchenanfang „Es war einmal ...“. Es ist nicht weniger als die Eröffnung des fiktionalen Raumes.

Welche Funktion haben aber nun die historischen-kritischen Anmer-kungen? Die Fußnoten untermauern das Erzählte nur der Form nach historisch; inhaltlich legen sich auch die Anmerkungen nicht fest. Sie unterstreichen die dürftige und sogar widersprüchliche Quellenlage.

Zwar sind sie formal gebaut, als würden sie das Erzählte historisch-kri-tisch absichern, aber die Ironie und Satire, die den Erzähltext prägen, dienen dazu, die scheinbar sachlichen Aussagen im selben Atemzug der Lächerlichkeit zu überantworten. Selbst die ausgewählten Zitate be-kommen dabei einen kabarettistischen Unterton. Die Demontage des nationalen Mythos geht mit einer Öffnung des Deutungshorizontes und einer Zurücknahme der Bedeutungsreduktion einher.

Schlussfolgerungen

Schillers „Wilhelm Tell“ hat innerhalb der Texte, die im 19. und 20. Jahrhundert als Nationalepen rezipiert wurden, einen Sonder-stellung inne. Weder von der Textintention noch in der Textanlage als Nationalepos konzipiert, wurde und wird Schillers „Wilhelm Tell“

dennoch als solches rezipiert. Lässt sich aus diesem Befund auch etwas Allgemeines für das Genre ableiten? Aus dem spezifischen Fall können, wie ich meine, allgemeine Schlussfolgerungen für eine auf Nations-bildung ausgerichtete Textrezeption gezogen werden. Allgemein kenn-zeichnend könnte sein, was für den Schiller-Fall im Vergleich zwischen Geschichtsdrama und Nationalepos konstatiert wurde, dass nämlich die Fiktion historisiert wird, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche zu-gunsten der nationalen Identifikationsfolie verschwinden. Damit ist jedoch keine Aussage über die Texte selbst getroffen, lediglich über deren Rezeption. Ein Vergleich zu anderen Nationalepen in dieser Hinsicht und eine Erörterung der Gründe für diese bestimmte Art der Rezeption wäre noch zu leisten. Aber selbst wenn diese These sich an-hand weiterer Untersuchungen bestätigen würde, gingen die Texte unter ihrer Rezeptionsgeschichte als Nationalepos nicht verloren.

Literatur

Primärliteratur

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Karin Hoff

Erzählung als Erinnerung: Die Bedeutung der

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