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Frithiofs saga“ von Esaias Tegnér

Im Dokument HUMANIORA: GERMANISTICA 5 (Seite 171-177)

Als die romantischen Strömungen vor allem durch deutsch- und dänischsprachige Einflüsse auch die schwedischsprachige2 Dichtung im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts erreichten, fiel das Ganze zeit-lich zufällig mit einem historischen Ereignis zusammen, das die schwedischsprachige Romantik in sehr hohem Maße prägen sollte: mit dem schwedisch-russischen Krieg von 1808–1809, in dem Schweden ein Drittel seines Territoriums verlor und Finnland als Großfürstentum innerhalb Russlands zum ersten Mal staatsrechtliches Subjekt wurde.

Die daraus resultierende notgedrungene Veränderung in der nationa-len Identität bildet zusammen mit dem romantischen Interesse an der Vergangenheit sowie an alter, volkstümlicher Dichtung als Ausdruck des „Volksgeistes“ den Hintergrund zur häufigen Beschäftigung mit altnordischen Stoffen in der romantischen Literatur aus „Rest-Schwe-den“. In der nationalen Krise nach der Teilung des Landes musste eine neue „schwedische“ Identität gefunden bzw. erfunden werden, was sich

2 Die in etlichen Einzelphilologien und entsprechenden Literaturgeschichten zu beobachtende Abwesenheit einer Distinktion zwischen den Kriterien Sprache einerseits und „Kultur“, „Nation“ bzw. „Raum“ andererseits findet sich auch bezogen auf den

„schwedischen“ Fall. Am auffallendsten ist der Titel „Litteraturens historia i Sverige“

(dt. wortwörtlich: „Geschichte der Literatur in Schweden“) beim einbändigen Standardwerk von Bernt Olsson und Ingemar Algulin (1. Auflage 1987). Trotz seines Titels umfasst es, wie alle anderen entsprechenden Literaturgeschichten, auch die schwedischsprachige Literatur aus Finnland und gleichzeitig ebenfalls die auf schwedischem Boden entstandene mittel- und neulateinische Dichtung. Im Gegensatz dazu steht eine weitere Literaturgeschichte von Göran Hägg, in dessen Vorwort die Sprache als „eine kulturelle Einheit jenseits der des oberflächlichen Nationalismus“

beschrieben wird und „schwedische Literatur“ als „Literatur geschrieben in der schwedischen Sprache“ gedeutet wird (Hägg 1996: 14, im Orig.: „en kulturell enhet bortom den ytliga nationalismens“ bzw. „,svensk litteratur‘ […] litteratur skriven på svenska språket“). Hägg verzichtet daher auch ausdrücklich auf die mittel- und neulateinische Literatur aus Schweden. Im vorliegenden Artikel wird in den dafür geeigneten Fällen, um den immer wieder möglichen Missverständnissen vorzubeugen, von schwedischsprachiger Literatur gesprochen.

pointiert in Esaias Tegnérs Gedicht „Svea“ (1811) zeigt. Allgemein spielten jetzt die altnordischen (altisländischen) literarischen Werke, deren Stoffe bzw. eine altnordische Atmosphäre (so wie in Erik Gustaf Geijers Gedicht „Vikingen“) eine wesentliche Rolle. Die identitätsstif-tende Funktion der altnordischen Literatur für eine neu zu konzipie-rende Nation sollte sich dann sowohl in Norwegen als auch in Island wiederholen.3

In Stockholm – neben Uppsala, Lund und Åbo (Turku) einer der Hauptorte der schwedischsprachigen romantischen Bewegung – wurde im Februar 1811 Götiska förbundet (dt. „Götischer Bund“) gegründet.

Die Gesellschaft entsprang einer nationalen Gesinnung und einem his-torisch-mythologischen Interesse. Sie stellte keine rein literarische Ge-sellschaft dar, obwohl Schriftsteller zum Mitgliederkreis zählten und bald sehr wesentliche Beiträge leisteten. Der Dichter Erik Gustaf Geijer gab die „Iduna“, die Zeitschrift dieser Gesellschaft, heraus und veröf-fentlichte dort von Beginn an eigene Gedichte mit altnordischem Bezug sowie eigene Übersetzungen aus dem Altisländischen.

In Götiska förbundet, einer Wiederbelebung des so genannten Götizis-mus, war die Beschäftigung mit dem Altnordischen, verstanden als kulturelle Wurzeln der schwedischen Nation, ein Weg zur Neufindung einer schwedischen nationalen Identität. Die Beschäftigung mit dem Altnordischen ist jedoch nicht nur auf den engeren Kreis des Götiska förbundet begrenzt, sondern kehrt in den ersten Jahrzehnten nach Einbruch der Romantik auch bei fast jedem bedeutenden schwedisch-sprachigen Lyriker wieder.

Diesem Enthusiasmus für die nordische Vergangenheit und deren Po-tenzial als (einzige oder hauptsächliche) Stoff- und Ideenquelle der zeitgenössischen Dichtung in größeren Formen stand Esaias Tegnér, Dichter und Gräzist an der Universität Lund, zuerst sehr skeptisch ge-genüber. Gleichwohl zählte auch er ab November 1811 zu den Mitglie-dern des Götiska förbundet (vgl. Lönnroth 2001: 13) und bearbeitete altnordische Stoffe und Milieus dann auch in Gedichten wie

„Skidbladner“ (1812) und „Bifrost“ (1813; späterer Titel: „Asatiden“).

3 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Karin Hoff in vorliegendem Band.

Der dänische Dichter Adam Oehlenschläger sollte durch seinen epi-schen Gedichtzyklus „Helge“ (1814) Tegnér vom Potenzial der altnor-dischen Stoffe in der zeitgenössischen Versepik überzeugen und den Ansporn zu eigenen Umsetzungen geben. Tegnér nahm als Vorlage für seinen Versuch in dieser Gattung die altisländische Saga „Friðþjófs saga ins frækna“ (im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden oder niederge-schrieben), die er laut eigener Angabe seit seiner frühen Kindheit kannte und in einer dreisprachigen Ausgabe (Altisländisch, Schwedisch, Latein) von 1737 benutzte (vgl. Lundquist 1986: 156).

Wie Lönnroth darlegt, bleibt die „ambivalente“ Einstellung Tegnérs zum Altnordischen auch noch in „Frithiofs saga“ erhalten – ja, gerade

„die Widersprüche und nicht zuletzt das Schwanken, was die Haltbar-keit des götischen Programms betrifft, machen das hervorragendste götische Gedicht, ‚Frithiofs saga‘, zu einem poetischen Meisterwerk“

(Lönnroth 2001:26).4 Es sei Tegnér, so Lönnroth, nur deshalb möglich gewesen, das „götische Programm“ zu erneuern, weil er es nie vollends akzeptiert habe, sondern es „im Licht klassischer Dichtung und seiner eigenen sehr besonderen Variante klassischer Ästhetik umgedeutet hat“

(ebd., 5).5 Bemerkenswert ist vor allem der seelische Ausgleich, den das klassische Gedankenerbe mit sich bringt: zwischen den wilden Urkräften des Nordens und dem beherrschten, harmonischen, schönen Süden.

Das klassische Erbe blieb dem Gräzisten Tegnér von entscheidender Bedeutung, was in „Frithiofs saga“ wiederholt durchschimmert, vor allem in der Verehrung von Griechenland. Darüber hinaus hat Tegnér durch Verschiebungen in der Handlung der Intrige und durch Hin-zufügung eines neuen philosophischen Inhalts einen gegenüber der Saga neuen Motivkomplex geschaffen, der für seinen epischen Ge-dichtzyklus zentral ist: das Motiv von Schuld und Versöhnung (vgl.

Schück/Warburg 1929: 585). Bemerkenswert an „Frithiofs saga“ ist auch, wie Tegnér die Ausdrucksmittel und Versmaße von Gedicht zu

4 Im Orig.: „motsägelserna och inte minst tveksamheten om det götiska programmets hållbarhet […] gör Tegnérs främsta götiska dikt ,Frithiofs saga, till ett poetiskt mästerverk“.

5 Im Orig.: „omtolkade den i ljuset av klassisk diktning och sin egen mycket speciella variant av klassisk estetik“.

Gedicht verändert, sowie die große stilistische Vielfalt in der sprachli-chen Gestaltung.

Der Ausgangspunkt von Tegnérs „Frithiofs saga“ ist das gemeinsame Aufwachsen von Frithiof, dem Sohn eines Bauern, und Ingeborg, Tochter von König Bele, beim gemeinsamen Ziehvater Hilding. Zwi-schen den beiden Kindern entwickelt sich bis ins Erwachsenenalter ein sehr enges Verhältnis. Nach dem Tod von Bele übernehmen seine bei-den Söhne, Helge und Halfdan, gemeinsam bei-den Thron. Den Antrag Frithiofs um die Hand ihrer Schwester Ingeborg lehnen die beiden Könige hochmütig ab. Auch der alte König Ring vom Nachbarreich stellt einen Heiratsantrag, der ebenfalls abgelehnt wird. Hieraus resul-tiert ein Krieg, an dem teilzunehmen sich Frithiof stur weigert. Im An-schluss daran trifft er sich mit Ingeborg in einem Hain, der dem milden Gott Balder geweiht ist. Er zieht dadurch noch mehr die Wut der Kö-nigsbrüder auf sich und wird mit einem schwierigen Auftrag außer Landes gesandt. Ingeborg klagt in einem Monolog ihr Schicksal. Nach einem für ihn erfolgreichen Jahr kehrt Frithiof nach Hause zurück und erfährt, dass König Ring den Krieg gewonnen und Ingeborg als Kriegsbeute geheiratet hat; zudem hat König Helge Frithiofs Hof Framnäs niedergebrannt. Frithiof will sich rächen und findet Helge im Tempel von Balder. Nach einem Streit um das Armband, das Frithiof einst Ingeborg geschenkt hat und das jetzt das Standbild Balders schmückt, steckt Frithiof durch Unachtsamkeit das Standbild und mit diesem den gesamten Tempel in Brand. Des Landes verwiesen ziehen Frithiof und sein Waffenbruder Björn in südlichere Gegenden, doch obwohl von Griechenland begeistert, sehnt sich Frithiof nach drei Jah-ren zurück nach Ingeborg und seinem Vaterland. Als alter Mann ver-kleidet besucht er nach seiner Rückkehr den Hof König Rings und ge-winnt das Vertrauen des Königs. Nach einigen Monaten stirbt Ring und sein minderjähriger Sohn wird unter Frithiofs Vormundschaft König. Der Balderstempel wird wieder aufgebaut. Ein Balderspriester spricht zu Frithiof von einem Balder des Südens, „jungfruns son“

(Tegnér 1986: 143; dt: „Sohn der Magd“, Tegnér 1826: 188) und er-zählt ihm auch, dass Helge während eines Feldzuges bei den Finnen gestorben sei, zerquetscht durch das Standbild des finnischen Gottes Jumala. Durch den Balderspriester angeregt, versöhnt sich Frithiof mit Halfdan und kann danach Ingeborg heiraten.

„Frithiofs saga“ – das schwedische Nationalepos?

Bereits nach dem Vorabdruck einiger Lieder (Gedichte) in „Iduna“ im Jahr 1820 lobte Per Daniel Amadeus Atterbom, als Dichter und Theo-retiker gewissermaßen der Protagonist der schwedischsprachigen Ro-mantik, die dabei noch nicht vollendete „Frithiofs saga“ als ein Epos, das als Vertreter seiner Nation unter den Epen anderer europäischer Nationen eine selbstverständliche Stellung einnehmen würde.

In Atterboms Bewertung spiegelt sich der internationale Diskurs der Zeit seit Herder und verstärkt durch die Heidelberger Romantik wie-der. Atterbom und Etliche nach ihm meinten nun, das schwedische Nationalepos identifiziert zu haben.

Nach dem Hof des Protagonisten Frithiof, der bei Tegnér Framnäs heißt, wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Höfe und größere Gebäude, sowohl in Schweden als auch in den schwedisch- sprachigen Teilen Finnlands, benannt. Einige durch den Komponisten Bernhard Crusell vertonte Lieder aus „Frithiofs saga“ verbreiteten sich im 19. Jahrhundert auch mündlich und auffallend schnell in ver-schiedenen, oft veralternden Varianten, quasi als Volkslieder (vgl.

Gustafsson 1991: 212f. und Nordenfors 2008: 198–203, 206). In den Schulen war „Frithiofs saga“ häufig Pflichtlektüre. Dieser nationalistisch geprägte Enthusiasmus war möglich, obwohl die altnordische Vorlage von „Frithiofs saga“ tatsächlich in Norwegen spielt und auch der Gedichtzyklus nicht von Schweden spricht. In einer Zeit erneuerten Interesses am Götizismus und später in der Atmosphäre des Skandina-vismus (bzw. Pan-SkandinaSkandina-vismus) stellte die norwegische Anknüpfung eher einen Vorteil dar. Außerdem waren Schweden und Norwegen seit 1814 (bis 1905) in einer Union vereinigt, deren nationalideologische Implikationen Tegnér bereits im Gedicht „Nore“ von 1814 gefeiert hatte.

Die schwedischsprachige Literatur des 19. Jahrhunderts weist jedoch gleich zwei potentielle Kandidaten für den Rang eines Nationalepos auf, die im Lagerlöf-Zitat am Anfang dieses Beitrages beide erwähnt werden und deren Autoren dort auch noch nicht ganz zufällig in einer Art Konkurrenzverhältnis einander gegenübergestellt werden. Johan Ludvig Runebergs „Fänrik Ståls sägner“ (1848–1860) handelt von dem für die schwedische wie für die finnische nationale Identität

entschei-denden Krieg 1808–1809. Das Werk fand große Resonanz sowohl in der Heimat Runebergs, Finnland, als auch in Schweden. Henrik Schück spricht 1930 aus eigener Erfahrung den Status von „Fänrik Ståls sägner“ als Nationalepos an: „[D]ieser Gedichtzyklus war es, der für uns [Schulkinder in den 1860er Jahren] Frithiofs saga als National-epos verdrängt hat“ (Schück/Warburg 1930: 438).6 „Fänrik Ståls sägner“ haben auch im allgemeinen Bewusstsein vor allem unter der Schwedisch sprechenden Bevölkerung in Finnland ihre Position bis in die Gegenwart einigermaßen verteidigen können, während dies in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Stellung von „Frithiofs saga“ in Schweden nicht mehr zutrifft.

Im 19. und im frühen 20. Jahrhundert war diese Position jedoch immer noch im Großen und Ganzen unangetastet. Im Laufe der 1890er Jahre wurden zwei Opern bzw. Opernlibretti auf Basis der

„Frithiofs saga“ verfasst; neben der unten zu behandelnden auch eine, die interessanterweise unter den schwedischen Emigranten in den Ver-einigten Staaten sehr stark zur Markierung einer eigenen ethnischen Identität beitrug: „Fridthjof and Ingeborg“ (1898) vom schwedisch-amerikanischen Komponisten Charles F. Hanson mit einem zweispra-chigen (schwedisch-englischen) Libretto von Anna Cronjelm Wallberg (vgl. Harvey 1995: 82–85 und Beijbom 1996: 163–165).

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat eine deutliche Verschiebung in der Wahrnehmung sowohl von „Frithiofs saga“ als auch von Tegnér statt-gefunden. Das häufig abschätzige Tegnér-Bild unter den Schriftstellern der 1980er Jahre wird in einem Aufsatz von Detlef Brennecke be-leuchtet (vgl. Brennecke 1983). Über die Tatsache, dass „Frithiofs saga“

kaum noch gelesen wird und keine Pflichtlektüre im muttersprachli-chen Unterricht mehr darstellt, schreiben auch Lönnroth und Wing-borg (vgl. Lönnroth 2001: 29, WingWing-borg 1996: passim; allgemein zu Tegnér auch Elam 1999: 573). Gewiss ist „Frithiofs saga“ heutzutage nicht mehr als lebendiges Nationalepos, sondern als ein gewesenes zu bezeichnen.

Mit dieser allgemeinen Auffassung geht das Urteil in der Literaturge-schichtsschreibung der letzten Jahrzehnte einher; dort ist der Ruhm

6 Im Orig.: „det var denna diktcykel, som för oss [skolbarn på 1860-talet] trängde ut Frithiofs saga såsom nationalepos“.

von „Frithiofs saga“ erheblich verblasst. Der Text stellt immer noch ohne Zweifel ein bedeutendes Werk der schwedischen Romantik dar, wird aber insgesamt anders und negativer als früher bewertet.

Wingborg erwähnt diesbezüglich den Unterschied zwischen den Ein-trägen zu Tegnér in einer allgemeinen Enzyklopädie aus den 1950er und aus den 1990er Jahren (vgl. Wingborg 1996: 233). Hägg fällt in seiner Literaturgeschichte von 1996 ein hartes Urteil über „Frithiofs saga“: So sei „das einst so geliebte Werk unrettbar den Klassikertod gestorben“, „das meiste hat nur noch mentalitätshistorisches Interesse“

und „was Frithiof getötet hat, ist gerade das Streben nach Zeitlosigkeit“

(Hägg 1996: 223).7

Selma Lagerlöfs „Fritiofs saga“ –

Im Dokument HUMANIORA: GERMANISTICA 5 (Seite 171-177)