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Ossianische Topographien

Im Dokument HUMANIORA: GERMANISTICA 5 (Seite 100-108)

Ossians Vermächtnis in der schottischen Kultur Vom vielgelesenen zum ungelesenen Text

2. Ossianische Topographien

Gerade in den ersten Jahrzehnten nach der Publikation der „Poems of Ossian“, in denen die Authentizitäts- und Provenienzdebatte besonders scharf geführt wurde, spielte die Suche nach manifesten topo-graphischen Beweisen eine große Rolle. In Schottland wurde „Fingal’s Cave“, eine 1772 von dem Naturforscher Sir Joseph Banks auf der Hebrideninsel Staffa wiederentdeckte Basaltsteinhöhle, zum ossiani-schen locus classicus, der auch musikalisch in Werken von Mendelssohn-Bartholdy bis Pink Floyd Resonanz fand. Neben den Verfechtern der schottischen Provenienz gab es genauso eine Fraktion, die Irland als Schauplatz requirierte: Hugh Campbell, der 1819 die Schrift „Ossiana, or, Fingal ascertained and traced in Ulster: by the Analogy of Names and Places mentioned in Ossian’s Poems“ (zit. n.

Schmidt 2003: 243) veröffentlichte, glaubte Ossian in Irland verorten zu können. Im Allgemeinen waren jedoch diese Versuche topo-graphischer Festschreibungen selten,5 denn das bestimmende Merkmal

5 Damit unterscheiden sich topographische Bezüge zu Ossian in Schottland wesentlich von anderen topographischen Referenzen in Nationalepen, wie beispielsweise den

der Gedichte ist gerade deren mangelnde topographische Konkreti-sierung, die nebelhafte Verschleierung von Orten und die mono-chrome Zeichnung von Bächen, Mooren, Inseln, Bergen und dem Meer mit einem begrenzten lexikalischen Inventar, das es erschwert, einzelne kulturelle Gedächtnisorte zu lokalisieren. Vielmehr wurden die schottischen Highlands insgesamt zum Inbegriff ossianischer Landschaften. In Macphersons Verbindung der ästhetischen Traditio-nen einer alten mündlichen Kultur mit den neuen ästhetischen Rezeptionsnormen des Sublimen und Pittoresken, wie sie von William Gilpin entwickelt worden waren, erhielten sie eine neue, mytho-poetische Qualität.

Die topographische Unbestimmtheit der Gedichte erwies sich jedoch weniger als Defizit denn als Vorteil. Denn die typische Kargheit der schottischen Highlands entsprach dem textuellen Primat des Nicht-Sichtbaren in Macphersons Gedichten und lud Lesende und Reisende dazu ein, in ihrer Imagination die leeren Landschaften mit den mythi-schen Schatten der Literatur aufzufüllen. Dies setzte sich als dominan-tes Rezeptionsmuster eines ossian-befeuerten Highland-Tourismus aus:

Es sind nicht einzelne Stätten, die besucht werden, sondern es ist gene-rell die ossian-typische Landschaft, die dazu anregt, die Texterfahrung auf unterschiedliche Orte zu projizieren. Wichtig war vor allem das Lektüreerlebnis in situ, dass den affektiven Genuss der Texte zu stei-gern verhieß: Herder, einer der glühendsten Ossian-Verehrer, gibt diese Rezeptionsempfehlung für den „Lustgesang des Volkes“:

Ossian […] habe ich in Situationen gelesen, wo ihn die meisten, immer in bürgerlichen Geschäften, und Sitten und Vergnügen zerstreute Leser, als blos amusante, abgebrochene Lecture, kaum lesen können. Sie wissen das Abentheuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf Einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sopha der Gesellschaften auf Einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über Einem Brette, auf offnem allweiten Meere, […] mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, täglich mit denselben

konkreten Orten, die in Estland mit dem Kalevipoeg in Verbindung gebracht werden.

Vgl. hierzu u. a. den Beitrag von Eve Pormeister in diesem Band.

endlosen Elementen umgeben, und dann und wann nur auf eine neue ferne Küste, auf eine neue Wolke, auf eine ideale Weltgegend merkend – nun die Lieder und Thaten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen […] jetzt von fern die Küsten vorbey, da Fingals Thaten geschahen, und Ossians Lieder Wehmut sangen, […] glauben Sie, da lassen sich Skalden und Barden anders lesen, als neben dem Katheder des Professors. (Herder, zit. n. Schmidt 2003: 657)

Eingefordert wird hier die Lektüre, ja sogar das laute Lesen des Ossian in einer sublimen Landschaft. Denn auch die Klangwelt der Texte, die Norman Shaw als sonor beschrieben hat, kommt einer imaginativen Auffüllung entgegen:

Macpherson strives to reproduce what I will call a sonorous landscape which runs parallel to the narrative; maintaining a vagueness that per-meates the text. The sonorous, I suggest, is a device that references the sonic, yet which strives to realize what is beyond the audible or visible. (Shaw o. J.)

Die Gedichte schaffen einen mnemonischen Klangraum, der realisiert, was jenseits des Hörbaren oder Sichtbaren liegt und mehr im Echo re-präsentiert wird denn im primären Ton. Die Echoqualität der Texte – metaphorisch als Nachklang des Vergangenen, Verwehten zu verste-hen und strukturell auf der Ebene der vielen Wiederholungen realisiert – wird visuell durch die Schatten oder Geister repräsentiert, die die Highlands bevölkern. Nur so ist die authentische, weil emotional auf-geladene und die Seele erfüllende Erfahrung des Ursprünglichen ga-rantiert. Und damit erweisen sich die „Poems of Ossian“ für Reisende des 19. Jahrhunderts als idealer Projektionsraum für die sich im Zeichen zunehmender Industrialisierung, Verstädterung und des damit einhergehenden Landschaftsverlustes verstärkende Sehnsucht nach unberührter Natur. Ossianisch aufgeladene schottische Land-schaften werden dementsprechend in vielen Reisebeschreibungen des 19. Jahrhunderts als Gegenraum für von der Industrialisierung und der Großstadt erschöpfte Touristen angepriesen. Der kruden Materialität des Alltags wird ein ossianischer Fluchtraum der vagen Ursprünglichkeit entgegengesetzt, in dem die mit Sagen und Mythen aufgeladene Landschaft eine spirituelle Erfahrung verspricht. Ale-xander Smith konzipiert 1865 in dem höchst erfolgreichen Reisebericht

„A Summer in Skye“ die Topographie der Insel ganz im Sinne der

Ossian-Rezeption als primär nicht visuell erfahrbar. Die „schweigenden Armeen aus Nebeln und Dämpfen“, der peitschende Regen verhüllen ständig die Sicht und verfremden die Landschaft in einem archaischen Sinn:

In Skye the Londoner is visited with a stranger sense of foreignness than in Holland or in Italy. The island has not yet, to any considerable extent, been overrun by the tourist. To visit Skye is to make a progress into “the dark backward and abysm of time.” You turn your back on the present, and walk into antiquity. You see everything in the light of Ossian as in the light of a mournful sunset. With a Norse murmur the blue Lochs come running in.

You hear a foreign language; you are surrounded by Macleods, Macdo-nalds, and Nicolsons; you come on gray stones standing upright on the moor, marking the site of a battle or the burial-place of a chief. You listen to traditions of ancient skirmishes; you sit on ruins of ancient date, in which Ossian might have sung. […] The sound of the sea is continually in your ears, the silent armies of mists and vapours perpetually deploy, the wind is gusty on the moor, and ever and anon the jags of the hills are obscured by swirls of fiercely-blown rain. And, more than all, the island is pervaded by a subtle spiritual atmosphere. It is as strange to the mind as it is to the eye.

Old songs and traditions are the spiritual analogues of old castles and burying-places; and old songs and traditions you have in abundance. There is a smell of the sea in the material air, and there is a ghostly something in the air of the imagination. There are prophesying voices amongst the hills of an evening. The raven that flits across your path is a weird thing, – mayhap by the spell of some strong enchanter a human soul is balefully imprisoned in the hearse-like carcass. You hear the stream and the voice of the kelpie in it. You breathe again the air of old story-books; but they are northern, not eastern ones. To what better place, then, can the tired man go? There he will find refreshment and repose. There the wind blows out on him from another century. The Sahara itself is not a greater contrast from the London street than is the Skye wilderness. (Smith 1865: 125f.) Die vernebelte Sicht birgt den Reiz einer anti-aufklärerischen Unbe-stimmtheit, die in der synästhetischen Erfahrung von Landschaft als Ton und Geruch eine neue, emotional ungleich bewegendere, sublime Landschaftserfahrung garantiert. Paradoxerweise ruft jedoch gerade diese immaterielle Landschaftserfahrung die Erinnerung an eine kol-lektive Vergangenheit hervor und garantiert deren Bestand.

Diese Form der ossianischen Landschaftserfahrungen wurde performativ in einem bestimmten, zeittypischen touristischen Modus realisiert, brachte

jedoch in einem zweiten Schritt auch eine Kette neuer Texte hervor:

Reiseführer, Reiseberichte, Tagebücher aus den schottischen Highlands, aber auch Gedichte von der Romantik bis zum späten 19. Jahrhundert zeugen von der Persistenz ossianisch geprägter Landschaftswahr-nehmung. Gerade die fehlenden topographischen Referenzen schaffen einen Freiraum, in dem neue textuelle Visionen realisiert werden.

Dadurch wird der Originaltext der „Poems of Ossian“ zunehmend mit einer Reihe intertextueller Bezugnahmen überlagert, die von Walter Scott zu Beginn bis William Sharp alias Fiona McLeod am Ende des 19. Jahrhunderts ossianische Rhetorik und Natursymbolik fortschreiben.6 Für die nationalliterarische Bedeutung von Macphersons Gedichten im schottischen literarischen Kanon ist dies von entscheidender Bedeutung:

Der Status eines Nationalepos, den die „Poems of Ossian“ vielleicht im 18. Jahrhundert in der besonderen politischen Situation residualer schotti-scher Unabhängigkeitsgefühle gehabt haben mögen, verliert sich all-mählich im 19. Jahrhundert und wird durch eine politisch entschärfte melancholische Landschaftslyrik von Ossian-Epigonen überschrieben.

Neben diesen performativen und literarischen Einschreibungen in einen ossianisch interpretierten Raum finden sich in Schottland jedoch auch noch andere, materielle Rezeptionszeugnisse der „Poems of Ossian“, die in einem identitätspolitischen Kontext zu sehen sind. Kurz nach der Publikation der Gedichte dokumentieren einige Landbesitzer ihr schottisches Nationalbewusstsein mit ossianisch markierten Bauten. Die Ausgestaltung der Ossian Hall in Pennicuik House (1773), eines palladianischen Herrenhauses südlich von Edinburgh, dokumentiert nicht nur einen Wandel ästhetischer Vorlieben – bevor der Bauherr Sir James Clerk den Architekten Alexander Runciman mit einem ossiani-schen Deckengemälde beauftragte, waren die römiossiani-schen Titus-Ther-men als Motiv geplant gewesen –, sondern enthält auch eine iden-titätspolitische Aussage: Ein geplantes klassisch-europäisches Decken-gemälde, das den Bauherrn als klassisch gebildeten Grand Tourist aus-gewiesen hätte, wird durch das „modernere“ mythologische Gemälde ersetzt. Dies bedeutet jedoch im Zeichen der seit 1707 bestehenden Union der Parlamente keine separatistische Aussage mehr, sondern eher eine politisch entschärfte, nostalgisch-ästhetische nationale Bezugnahme.

6 Vgl. z. B. die Gedichte „The Lord of the Isles“ von Walter Scott und „The Caves of Staffa“ von William Sharp.

Abb. 1: Alexander Runciman, “Ossian Hall”, Pennicuik House, Scotland.

Quelle http://www.penicuikhouse.co.uk/history-penicuikhouse.aspx (03.11.2011)

Ähnlich zu verstehen sind auch zwei architektonische Follies des 2. Duke of Atholl, „Ossian’s Cave“ und „Ossian’s Hall“ – Letzeres ein kleiner Rundbau direkt über einem Wasserfall, den der Duke of Atholl 1783 in der Nähe von Dunkeld erbauen ließ. Die Stelle über dem Was-serfall ist hier nicht im Sinne einer konkreten topographischen Referenz gemeint, sondern generell als eine im Kontext der Natur-symbolik der Gedichte typische Stelle. Denn Wasser – Meeresrauschen, Wasserfälle, Flüsse und Tränen – ist ein dominantes semantisches Feld der Gedichte, das mit Emotionen der Erhabenheit, Melancholie und Vergänglichkeit korrespondiert. Besonders markiert ist meist auch die Klangqualität des Wassers, die dem blinden Sänger Farben und Formen ersetzt. Eine beliebige Stelle aus den „Poems of Ossian“, der Anfang der „Battle of Lora“, sei hierfür als Beispiel zitiert:

SON of the distant land, who dwellest in the secret cell! do I hear the sounds of thy grove? or is it the voice of thy songs ? The torrent was loud in my ear, but I heard a tuneful voice; dost thou praise the chiefs of thy land; or the spirits * of the wind? But, lonely dweller of the rocks! look over that heathy plain: thou seest green tombs, with their rank, whistling grass; with their

stones of mossy heads: thou seest them, son of the rock; but Ossian’s eyes have failed.

A mountain stream comes roaring down and sends its waters round a green hill: four mossy stones, in the midst of withered grass, rear their heads on the top: two trees which the storms have bent, spread their whistling branches around. This is thy dwelling, Erragon: this thy narrow house: the sound of thy shells has been long forgot in Sora: and thy shield is become dark in thy hall. (Macpherson 1762: 92)

Mit „Ossian’s Hall“ errichtete der Duke of Atholl einen Gedächtnisort, der Besuchern die Lektüre im Naturerlebnis vergegenwärtigen konnte und gleichzeitig auch schottische Landschaft zur Authentifizierung der Texte heranzog.

Abb. 2: „Ossian’s Hall“

Quelle: GARNETT, Thomas (1811): Observations on a Tour through the Highlands and part of the Western Isles of Scotland, particularly Staff and Icolmkill. Bd. 2. Lon-don, S. 71.

Beim Betreten erblickten die Besucher zunächst ein Wandgemälde, das Ossian im Kreis von Jungfrauen darstellte. Sobald der Führer einen

bestimmten Mechanismus betätigte, teilte sich das Gemälde und ver-schwand hinter der Wandvertäfelung. Nun sah man in einen zweiten Raum, der völlig mit Spiegeln verkleidet war, die den Blick auf den Wasserfall reflektierten – das Wasser schien von allen Seiten her-unterzuströmen. Auch hier war der Effekt als synästhetisches, sich gegenseitig verstärkendes Erlebnis von Bild und Ton konzipiert: Das Wasserrauschen wurde mit den in den Spiegeln multiplizierten Bildern kombiniert. Als eine besonders bemerkenswerte Reaktion von Zeit-genossen ist ein Gedicht von William Wordworth zu erwähnen, in dem er sich mit dieser materiellen Repräsentation von Ossian auseinander-setzt. Schockiert über die Künstlichkeit des kleinen Baus kritisiert er ihn als unangemessen, ja als Ausgeburt einer krankhaften Phantasie:

What! Ossian here – a painted Thrall, Mute fixture on a stuccoed wall;

To serve – an unsuspected screen For show that must not yet be seen;

And, when the moment comes, to part And vanish by mysterious art;

Head, harp, and body, split asunder, For ingress to a world of wonder;

A gay saloon, with waters dancing Upon the sight wherever glancing;

One loud cascade in front, and lo!

A thousand like it, white as snow-- Streams on the walls, and torrent-foam As active round the hollow dome, Illusive cataracts! of their terrors

Not stripped, nor voiceless in the mirrors, That catch the pageant from the flood Thundering adown a rocky wood.

What pains to dazzle and confound!

What strife of colour, shape and sound In this quaint medley, that might seem

Devised out of a sick man’s dream! […] (Wordsworth 1827: 68f.)

Der im Wandgemälde gefangene Ossian widerspricht der romantischen Sehnsucht nach Vagheit, die Rezeptionsnorm der imaginativen Auf-füllung „leerer“ Landschaft wird durch die konkrete Realisierung der

„Ossian’s Hall“ verletzt: Wordsworth beschreibt dies mit einem körper-lichen Bild, in dem Kopf, Harfe und Körper des Barden zerteilt

wer-den, wenn die Mechanik den Blick auf den Spiegelraum freigibt. Die Perfektion der komplizierten Mechanik widerspricht dem Tenor der Gedichte, der ja gerade durch seine ungeschliffene Archaik eine der Industrialisierung vorgängige Natürlichkeit inszenierte. Gegenüber der technischen, artifiziellen (und damit schlechten) Kunst, für die das Folly steht, imaginiert Wordsworth eine aus Stein gehauene Repräsentation des Ossian, die seinem Ideal einer naturnahen, natürlichen Kunst und damit dem Urtext kongenial entspricht. Er verkennt jedoch dabei, wie die meisten seiner Zeitgenossen, wie hochgradig literarisch und artifizi-ell Macphersons naturpoetische Kompositionen gewesen waren:

But, nursed in mountain solitude, Might some aspiring artist dare To seize whate’er, through misty air, A ghost, by glimpses, may present Of imitable lineament,

And give the phantom an array

That less should scorn the abandoned clay;

Then let him hew with patient stroke

An Ossian out of mural rock, […] (Wordsworth 1827: 71f.)

Im Dokument HUMANIORA: GERMANISTICA 5 (Seite 100-108)