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Dass Religion und Religiosität trotz aller Modernisierungs- und Säkularisierungstendenzen mittlerweile wieder vermehrt in die öffentliche Wahrnehmung rückt, lässt sich mit Blick auf aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse nicht bestreiten (dazu insb. Habermas 2009; Pollack & Rosta 2015; Lutz 2016; Schulte 2017; Hidalgo 2018). Gegenwärtig wird diese auch medial geprägte Debatte besonders häufig vor dem Hintergrund eines weltweit erstarkenden Islam und einer damit verbundenen Islamkritik bis hin zur Islamfeindlichkeit geführt (u.a. Liedhegener

& Werkner 2010; Jennichen 2011; Hidalgo 2018). Dennoch wird in der vorliegenden Forschungsarbeit – auch im Hinblick auf Umfang und Ausmaß – keine explizite Differenzierung zwischen den (Welt-)Religionen vorgenommen, um auch der in der AEMR betonten Zielvorstellung globaler religiöser, kultureller und weltanschaulicher Diversität gerecht zu werden.

9 Religion lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht als eine bestimmte Form von sozialem Gemeinschaftshandeln definieren, welches die Sinnbedürfnisse von Individuen berücksichtigt und miteinbezieht (Hamburger 2009, S. 55). Mit dieser Beschreibung werden die zwei wesentlichen Definitionsebenen der Religion als soziales Phänomen erfasst: einerseits durch eine funktionale und andererseits durch eine substanzielle Definition. Funktionale Definitionen betrachten Religionen unter dem Aspekt ihrer Wirkung, d.h. welche Funktionen religiöse Handlungen und Sozialformen für Individuen und/oder der Gesellschaft erfüllen. Auf individueller Ebene können dabei die Identitätsstiftung, moralische Orientierungshilfe sowie die Kontingenzbewältigung genannt werden. Für die Gesellschaft kann Religion die Funktion der Sozialintegration erfüllen oder aber auch die Distanzierung von gegebenen gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen (vgl. Heiser 2018, S. 11f).

Diesem sehr weiten Religionsverständnis gegenüber betrachten substanzielle Definitionen die Beziehung religiöser Akteure zu einer transzendentalen Macht. Da die Betrachtung von Religion aus nur einer der beiden (häufig konträren) Perspektiven unzufriedenstellend ist, wird in der Religionssoziologie eine Kombination der beiden Definitionen angestrebt, um auch religiöse Erscheinungsformen besser von sozialen Phänomenen abgrenzen zu können (vgl. ebd., S. 13). Für die gegenständliche Forschungsarbeit sollen dabei die in der Fachliteratur häufig getrennten Begriffe der Religionen und Religiosität1 synonym verwendet werden, auch um das hier zugrundeliegende weite Verständnis des Religionsbegriffs zu unterstreichen. Nach Hahn (2018) kann ein solch weitgefasstes Religionsverständnis geeignet sein, „die Vielfalt individueller und kollektiver Ausdrucksformen religiöser Erfahrungen in den Lebenswelten der Menschen“ (S. 139) zu erfassen.

Gerade in Bezug auf die oben erwähnten Säkularisierungstendenzen in modernen, westlichen Gesellschaften, ist Religion immer auch im Verhältnis des Staates zu betrachten. In Österreich genießen sowohl Individuen als auch bestehende Kirchen und Religionsgesellschaften rechtlichen Schutz. Neben den Individualrechten (wie bspw. die Glaubensfreiheit oder die Bekenntnisfreiheit) sind auch die Korporationsrechte der Kirche und Religionsgesellschaften Teil der Religionsfreiheit in Österreich, wobei Staat und Kirche ihre jeweilige Autonomie anerkennen und sich gleichwertig gegenüberstehen (vgl. BMDW 2019). Die Verbindung von Religion und

1 Zur Unterscheidung der beiden Begriffe siehe Heiser (2018, S. 15)

10 staatlich-säkularen Normen soll im Folgenden exemplarisch an der Religionsfreiheit als Menschenrecht und dem Überblick über Religionsgemeinschaften in Österreich gezeigt werden.

2.2.1 Religionsfreiheit als Menschenrecht

In der Betrachtung der Religion aus einer politik- und sozialwissenschaftlichen Perspektive soll die Erläuterung der Religionsfreiheit als eigenständiges Menschenrecht erfolgen, um dessen Bedeutung für die religiöse Entfaltung in einer Gesellschaft zu nachzuzeichnen. Das Recht auf Religionsfreiheit ist gemeinsam mit dem Recht auf Gedanken- und Gewissenfreiheit eines der ältesten Menschenrechte, dessen Verankerung als Reaktion auf die blutigen Konflikte in der europäischen Geschichte gesehen werden kann (Debus et al. 2011, S. 4). Es sichert jedem Individuum die freie Wahl zu, sich weltanschaulich oder religiös zu orientieren (Artikel 18 AEMR). Dies schließt sowohl die positive als auch die negative Glaubensfreiheit (also sich auch gegen eine Religion zu entscheiden) sowie eine zustimmende oder kritische Haltung gegenüber der Religion mit ein. Da das Recht auf Religionsfreiheit nicht absolut gilt – wie bspw. das Folterverbot – muss im Kollisionsfall mit anderen Grund- und Menschenrechten im Sinne der praktischen Konkordanz nach Lösungen gesucht werden, die die beteiligten Grundrechte möglichst wenig beeinträchtigen (vgl.

Schulte 2017, S. 54). Der Autor weist an dieser Stelle jedoch darauf hin, dass die Konkretisierung dieses Grundsatzes nicht einfach ist, da kulturelle Praktiken, wie bspw. die religiöse Beschneidung von Jungen, häufig zu Spannungen zwischen der Religionsfreiheit und anderen Menschenrechten, wie in diesem Fall das Recht auf körperliche Unversehrtheit, führen (ebd.). Zudem „kollidiert der universalistische Geltungsanspruch dieses Menschenrechts [der Religionsfreiheit, Anm. d. Verf.] mit einem religionspolitischen Klientelismus, der religiöse und weltanschauliche Vielfalt in die Antithese des ‚Eigenen‘ und des ‚Fremden‘ einspannt und von dorther dazu neigt, einseitig Partei zu ergreifen.“ (Bielefeldt 2012, S. 6)

2.2.2 Religions- und Glaubensgemeinschaften in Österreich

Bezüglich der Rechtsstellung von Religionsgemeinschaften in Österreich existieren zwei Formen: einerseits die staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaften und andererseits die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften. Letztgenannte nehmen die Stellung einer Körperschaft des

11 öffentlichen Rechts ein, wodurch sie gegenüber den religiösen Bekenntnisgemeinschaften mehr Privilegien, wie bspw. die Ausübung eines eigenen Religionsunterrichts an Schulen, genießen. Zu den gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften gehören u.a. die katholische, die evangelische, die islamische und die orthodoxen Glaubensgemeinschaften (vgl. BMDW 2019).

Um die angesprochene Veränderung der religiösen Landschaft in Österreich abbilden zu können, soll ein kurzer Blick auf aktuelle Zahlen geworfen werden. Nachdem seit der Volkszählung von 2001 jedoch keine Daten mehr zur Religionszugehörigkeit seitens des Staates erhoben werden, basieren Mitgliederzahlen von Religionsgemeinschaften auf eigenen Zählungen und Schätzungen. Einer Studie des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF) zufolge hat sich der Anteil von KatholikInnen zur Gesamtbevölkerung in Österreich im Zeitraum von 2001 bis 2016 deutlich von 75%

auf 64% (ca. 5,1 Millionen) reduziert, während der Anteil der Bevölkerungsgruppe ohne religiöses Bekenntnis von 12% auf 17% (ca. 2,1 Millionen) gestiegen ist. Infolge der verschiedenen Migrationsbewegungen kam es darüber hinaus auch zu einem Anstieg an Bevölkerungsgruppen mit muslimischen Glauben von 4% auf 8% (ca.

700.000) sowie mit christlich-orthodoxen Glaubensbekenntnis von 2% auf 5% (ca.

500.000). Der Anteil an der protestantischen Bevölkerung (5%) und sonstiger Religionsgemeinschaften blieb unverändert (ÖIF 2017, S. 13). Die hier ersichtliche religiöse Pluralität unterstreicht auch den im vorangegangenen Kapitel aufgezeigten Aspekt, dass Religion nach wie vor eine hohe Bedeutung für das Zusammenleben in Österreich spielt.