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3.1 Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft

3.1.2 Migration und Religion

Die Wahrnehmung religiöser Identitäten von MigrantInnen führte in jüngster Zeit dazu, dass sich der wissenschaftliche Diskurs verstärkt für die Wechselwirkungen zwischen Religion und Migration interessiert. Eine mit Migration einhergehende „forcierte Pluralisierung der religiösen Landschaft sowie die Auswirkungen auf scheinbar einlineare Prozesse – wie z.B. Säkularisierung und Modernisierung […]“ (Polak &

Reiss 2015, S. 8) ließen eine Vielzahl neuer Theorien und Paradigmen notwendig werden, die im Kontext menschenrechtsbasierter Sozialer Arbeit sowohl die „kulturell induzierten Normenkonflikte“ (Nieke 2008, S. 167) diskutieren, als auch Religion und Religiosität als eine Ressource für Identitätsstiftung und kulturelle Verständigung im Sinne eines interreligiösen Dialogs zu erklären versuchen (Bohmeyer 2016, S. 55;

Weiße 2017, S. 95). Aus diesem Grund wird im Folgenden auch von der „Religion als das Korrelat von Migration“ (Hamburger 2009, S. 56) ausgegangen und vor dem Hintergrund aktueller Forschungsdebatten das Verhältnis der Sozialen Arbeit zu Religion und Migration skizziert. Insofern geht es nicht um die Religion als Ursache für Migration – im Sinne der Flucht vor Unterdrückung und Verfolgung von religiösen Minderheiten – sondern um die Religion als Folge von Migration und inwieweit sie dabei in gesellschaftliche Konfliktlinien miteinbezogen wird (Hamburger 2009, S. 64).

Das (Fort-)Bestehen einer eigenen Religionsüberzeugung im Verlauf des Migrationsprozesses wird im Hinblick auf die vorliegende Forschungsfrage vorausgesetzt.

3.1.2.1 Religion in Migrations- und Integrationsprozessen

Im Kontext von Religion führen Migrationsprozesse unweigerlich zur Notwendigkeit der Auseinandersetzung von Politik bzw. staatlichen und religiösen Institutionen der

29 Einwanderungsgesellschaften mit der neuen religiösen, ethnischen und soziokulturellen Diversifizierung (vgl. Polak & Reiss 2015, S. 9). Aber auch aus Sicht der ZuwanderInnen werden religiöse Praktiken durch die Migration beeinflusst. Für Hamburger (2009) sind dabei folgende Wechselwirkungen zwischen autochthonen und allochthonen Gesellschaften bedeutend:

a) Agiert eine Religionsgemeinschaft aus einer Minderheitenposition (Diaspora) heraus, wird Religion zum identitätsstiftenden Merkmal. Die soziale Praxis innerhalb einer solchen Diaspora zielt also auf die Konstruktion von Zugehörigkeit ihrer Mitglieder ab und vermag die aus der Migration resultierenden Unsicherheiten aufzufangen. Durch diese minderheitenbedingte Restrukturierung der Religion, wird nicht mehr am Wandel der Ursprungsreligion teilgenommen und es entsteht eine konservative, traditionelle Form der Religion des Heimatlandes. Durch eine intensive Nutzung der Medien des Heimatlandes – was im öffentlichen Diskurs häufig als

„integrationsfeindlich“ angesehen wird – könnte Hamburger zufolge auch genau das Gegenteil erreicht werden, nämlich die Modernisierung der Migrantengemeinschaften durch die Partizipation am Wandel der Herkunftsreligion (ebd., S. 59).

b) Die Dynamik religiöser Praktiken hängt ebenso stark von den Reaktionen des Aufnahmelandes ab. Als religiöse Minderheit im oben genannten Sinn unterdrückt zu werden, verstärkt Identifikationsdynamiken innerhalb der religiösen Gemeinschaften und führt zugleich zu einer Zunahme von Religiosität. Wird dies vom Aufnahmeland als problematisch empfunden, entsteht unweigerlich Konfliktpotenzial. Dieser Teufelskreis bedeutet einen enormen Modernisierungsdruck für komplexe Gesellschaften, dessen Bearbeitung nicht leicht, jedoch nicht unmöglich ist, wie Hamburger am Beispiel der spanischen Stadt Toledo und deren positiven Umgang mit Pluralität zeigt (ebd., S. 60f).

c) Ebenso spielen für den Autor die quantitativen Verhältnisse, in denen sich MigrantInnen sozial verorten können, eine Rolle. Je größer eine Gemeinschaft mit derselben Religionszugehörigkeit ist, desto niedriger ist der soziale Druck zur Anpassung und desto höher wird ihre Attraktivität, da sie für ihre Mitglieder in ausreichender Weise sorgen kann (Community-Bildung). Kleinere Gruppen und Individuen hingegen stehen unter dem Druck zur sozialen Unauffälligkeit und folglich zum Rückzug der eigenen Religion ins Private. Dies ist insofern bedeutsam, weil Migration das Verhältnis zwischen Individuum und seiner Religion verändert: wenn

30 MigrantInnen aus religiös eher homogenen Strukturen kommen und „die Praxis einer gelebten Volksfrömmigkeit gewohnt [sind], in der das individuelle Bekenntnis nicht Voraussetzung für die Teilhabe an religiösen Ritualen ist […]“, existiert nach der Migration „eine solche selbstverständliche Einbindung in einen traditionellen Zusammenhang nicht mehr“ (S. 62). Die steigenden Individualisierungstendenzen in westlichen Gesellschaften stehen also den religiösen Vergemeinschaftungsprozessen der Allochthonen als Folge dieser Tendenzen diametral gegenüber.

d) Als letzten Punkt führt Hamburger den Umstand an, dass sich Religiosität mit dem Lebensalter wandelt. Die Phase der Jugend sei hierbei eher geprägt durch die Abkopplung von familialen religiösen Praktiken, was zugleich zu einer engen Anbindung an religiöse Gemeinschaften oder einer völligen Neuorientierung führen kann. Im Laufe des Älterwerdens kann Religion dann hilfreich werden, die wechselnden sozialen Zugehörigkeiten zu verarbeiten (ebd., S. 62f).

3.1.2.2 Religion als Konfliktpotenzial und Ressource im Kontext von Migration Der religiöse Aspekt der Migration rückte auch deshalb erst im vergangenen Jahrzehnt ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Aufmerksamkeit, da man die MigrantInnen zuvor weniger als Angehörige bestimmter Religionsgruppen betrachtete, sondern vielmehr als GastarbeiterInnen, die irgendwann wieder in ihr Heimatland zurückkehren würden – was, wie bereits dargestellt wurde, nicht im Interesse der ZuwanderInnen lag. In der dadurch ausgelösten politischen Debatte wurde die Zugehörigkeit zur

‚fremden‘ Religion als Integrationshemmnis in die Mehrheitsgesellschaft gewertet, wie das Festhalten bspw. muslimischer MigrantInnen an religiösen Traditionen und kontroversen Rollenverständnissen von Mann und Frau paradigmatisch zeige (vgl.

Baumann 2015, S. 50f).

In der Tat können soziokulturelle Faktoren, wie konservativ-religiöse Wertvorstellungen, traditionelle Geschlechterrollenverständnisse, sprachliche Defizite oder fehlende interethnische Kontakte gerade im Arbeitsmarktsektor integrationshindernd sein (vgl. Koopmanns 2016, S. 17). Konfliktlinien werden nach Baumann (2015) dadurch verschärft, dass in sozial-konservativen Regionen Westeuropas Zugezogene zumeist als Gefahr für die gesellschaftliche Kohäsion gesehen werden. Der Vorwurf innerhalb solcher – bei weitem nicht neuen – Abwehrdiskurse artikuliert sich darin, dass die „Orientierung an ‚fremden‘

31 Glaubenssystemen, die Organisation in eigenen Gemeinschaften und die fortdauernde Identifikation mit der Kultur und Religion einstiger Herkunft […] auf eine mangelnde Loyalität gegenüber dem Aufnahmeland und auf mangelnden

‚Integrationswillen‘“ (S. 61) schließen lässt. Aufgrund dieser Abwehrhaltung und der ungleichen Machtverteilung werden die Lebensvorstellungen der einheimischen Majorität gegenüber den fremden Lebensweisen der Zugewanderten im Konfliktfall ungefragt durchgesetzt und diese zur Anpassung gezwungen. Cheema & Broder (2016) konstatieren hierzu beispielsweise, dass vermeintlich religiöse Konflikte auch deshalb als solche wahrgenommen werden, weil es in diesen Situationen oftmals nicht um die Religion an sich geht, sondern um „Zuschreibungen aus einer gesellschaftlichen Dominanzposition heraus, die einer konstruierten ‚Wir‘-Normalität entspricht.“ (S. 188) Nicht nur in Österreich ist der Kopftuchstreit lediglich eine der sichtbaren Folgen solcher Abwehrdiskurse (vgl. u.a. Nieke 2008, S. 143; Hamburger 2009, S. 60).

Demgegenüber hilft die Herkunftsreligion im positiven Sinne als kultureller und sprachlicher Orientierungs- und Unterstützungsrahmen insbesondere bei der Bearbeitung traumatisierender Erlebnisse sowie als Schutz vor Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit (vgl. Schulte 2017, S. 63). Religion kann dabei als individuelle oder gemeinschaftliche Ressource – hier weniger im ökonomischen Sinne denn als unterstützendes und ermöglichendes Mittel – verstanden werden. Gerade für migrierte Individuen können tradierte religiöse Orientierungen Halt und Selbstvergewisserung geben. Baumann (2015) zufolge wird die eigene Religion im Zuwanderungsland oft neu und geschärft wahrgenommen, da sie einerseits neben der Sprache, Hautfarbe etc. als Kennzeichen der Differenz gegenüber der etablierten Mehrheitsbevölkerung dienen und andererseits Identifikationsmerkmal für Zugezogene über eine gemeinsame Religion darstellen können (ebd., S. 54f, vgl. auch Hamburger 2009, S.

59). Dies kann sich in der Bildung von Gemeinschaften (sog. Communities) niederschlagen, die soziale Stabilität und Sicherheit gewähren. Als spezielle Form gelten religiöse Gemeinschaften, die über kollektive religiöse Rituale und durch den gleichen sprachlich-kulturellen Hintergrund „in besonderem Maße die Verbindung zur zurückgelassenen Heimat aufrecht [erhalten]“ (Baumann 2015, S. 55). Neben diesem identitätsstiftenden Merkmal können insbesondere religiöse Stätten durch die Einnahme karitativer, edukatorischer oder auch politischer Funktionen (wie beispielsweise Deutschkurse oder Sportangebote) ebenso zur Integration in die

32 Gesamtgesellschaft beitragen (vgl. ebd.). Dadurch kann das Mitspracherecht von MigrantInnen auf diesen Ebenen erhöht werden.

In diesem Zusammenhang sei jedoch noch kritisch auf einen zweiten Aspekt hinsichtlich der Integration der migrantischen Religionsgemeinschaften hingewiesen.

Eine Reduzierung auf die religiöse Zugehörigkeit unterminiert den Gedanken einer gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft, denn: „Migrant_innen – religiöse wie nicht religiöse, muslimische wie andersgläubige – sind auch Arbeitnehmer_innen, Eltern, Grätzlbewohner_innen und so weiter. Als solche sollten sie verstärkt in Entscheidungsprozesse eingebunden und von bestehenden Vertretungen miteinbezogen werden. Wenn Prozesse, die gesellschaftliche Teilhabe zum Ziel haben, Migrant_innen nur als religiöse Sprecher_innen zulassen, führt das zu einer verstärkten Selbstidentifikation durch Religion.“ (Mattes 2017, S. 203) Die Problematik solcher Zuschreibungen bzw. Fokussierung beispielsweise auf die Religion als alleinige Problemursache ist nicht von der Hand zu weisen und soll daher im anschließenden Kapitel genauer betrachtet werden.