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Eine „reinigende Europäisierung“:

1. Der Antialkoholismus als sozialhygienisches Projekt (1876–1913)

1.1 Die ‚Gesellschaftskrankheit‘ Alkoholismus: Eine Diagnose von Sozial-

1.1.3 Eine „reinigende Europäisierung“:

Alkoholismus im argentinischen Degenerations- und Rassediskurs Indigene waren nicht Bestandteil von ‚nationalen‘ Darstellungen wie jener Podes-tás. Für die europäisch ausgerichtete Wissenschaft waren sie irrelevant, und argen-tinische Nationalreformer sorgten sich dementsprechend kaum um die vermeintli-che Degeneration der indigenen Bevölkerung. Das nationale Projekt war in Argen-tinien überwiegend ein Projekt der Eliten und des Bürgertums, das sich ab Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem moralischen Verfall in den eigenen Reihen und dem Verhalten der zunehmend kritisch beäugten Arbeiterklasse fürchtete. Ann Stoler

83 Ebd., S. 209.

84 „inmigración viciosa ó inútil“ Immigrationsgesetz von 1878, Absatz 1, § 2 Ley de inmigración y colonización de la República Argentina: sancionada por el congreso nacional de 1876 ; pu-blicación oficial, Buenos Aires, „La Tribuna“, 1878, S. 4. Mehr zu dem Thema siehe: Rod-riguez, Inoculating.

85 Nouzeilles, Ficciones, S. 211.

86 So etwa in Alberto da Rochas literarischer Adaption des Delirium Tremens. Da Rocha erzählt veritable Horrorgeschichten von Generationen männlicher Alkoholiker, die ihren Söhnen den Alkoholismus zusammen mit immer stärker ausgeprägten Degenerationsmerkmalen vererben.

Vgl. Da Rocha, Alberto: Delirium tremens, Buenos Aires, A. Plantié, 1940.

weist auf die inhärente ‚whiteness‘ eines weltweit verfolgten bürgerlich-moralisie-renden Projektes hin. Reformer verfolgten ‚unmoralische‘ Elemente, die sie inner-halb der Arbeiterklasse im eigenen Land ausmachten, und strebten die Reformie-rung des Verhaltens der ‚nicht-weißen‘ BevölkeReformie-rung im kolonialen Raum an.87 Ähnliches lässt sich auch im Diskurs über die ‚fremde Trunkenheit‘ in Nord- und Südamerika feststellen. Beobachtungen eines ‚anderen Rauschs‘, dem kollektive Gewalttätigkeiten, Raserei und Barbarei zugeschrieben wurden, veranlassten Re-former, indigene Völker aufgrund mangelnder Selbstkontrolle als eine moralisch und physisch unterlegene ‚Rasse‘ zu konstruieren und ihre ‚Reformierung‘ und

‚Umerziehung‘ zu legitimieren. Weltweit verknüpften wissenschaftliche Experten Beobachtungen über den Alkoholismus indigener Einwohner in Siedlungskolonien wie Australien mit Degenerationstheorien, die jeweils unterschiedliche Deutungen und nationale Politiken nach sich zogen.88

In Argentinien wurden degenerative Effekte zum Teil sogar positiv gedeutet.

Beispielhaft dafür ist Carlos Octavio Bunges einflussreicher ‚sozial-psychologi-scher‘ Essay Nuestra América aus dem Jahr 1903.89 Gemäß Bunge wirkte sich der Alkoholismus unter der indigenen und afrikanischen Bevölkerung positiv auf die

‚rassische Komposition‘ der Bevölkerung von Buenos Aires aus, insofern er das Aussterben dieser Bevölkerungsgruppen herbeiführte. Damit knüpfte er an frühere Arbeiten des psychiatrisch orientierten Alkoholismusdiskurses der 1870er Jahre an (siehe z. B. Emilio Coni und Ramos Mejía) und verband diese mit der Rassenleh-re.90 Bunge war sich sicher, dass durch eine „reinigende Europäisierung und Hispanisierung“91 indigene Bewohner aufgrund ihrer Schwächen keinen Platz in der Zukunft einer „amerikanischen Soziologie“92 hätten, da sie von der Zivilisation

87 Stoler, Ann Laura: Race and the education of desire: Foucault’s History of sexuality and the colonial order of things, Durham, Duke University Press, 1995, S. 100.

88 In Bezug auf Australien spricht Russel McGregor von einer „doomed race theory“. Demnach waren die Aborigines aufgrund der ‚Laster‘ der Zivilisation, respektive ihrer Willensschwäche, diesen zu widerstehen, zum Untergang verdammt. In der sozialanthropologischen Literatur wurden die Lebensweise der Indigenen und ihre Unfähigkeit, sich in die Welt der Zivilisation einzufügen, für den Verfall ihrer Kulturen verantwortlich gemacht. Staatliche Zwangsmassnah-men gegenüber den Aborigines bauten auf diesen ArguZwangsmassnah-menten auf. Vgl. McGregor, Russell:

Imagined destinies: Aboriginal Australians and the doomed race theory, 1880–1939, Carlton, Melbourne University Press, 1997.

89 Bunge gilt mit diesem Werk als Begründer einer ‚sozial-psychologischen‘ Strömung der Sozio-logie, die es sich zur Aufgabe machte, über ‚Rasse‘ und Verhalten einen spezifisch argentini-schen Charakter zu bestimmen. Vgl. González, Horácio: Historia crítica de la sociología ar-gentina: los raros, los clásicos, los científicos, los discrepantes, Buenos Aires, Ediciones Coli-hue, 2000, S. 220 ff.

90 „Además, el alcoholismo, la viruela y la tuberculosis – ¡benditos sean! – habían diezmado a la población indígena y africana de la provincia-capital, depurando sus elementos étnicos, euro-peizándolos, españolizándolos.“ Bunge, Carlos: Nuestra América, ensayo de psicología social, Buenos Aires, Vaccaro, 1918, S. 160.

91 Ebd., S. 160.

92 Ebd., S. 126.

nichts als die ‚Laster‘ kennen würden.93 Experten wie Bunge schwebte ein rein

‚weißes‘ Amerika von Patagonien bis Alberta vor.

Die indigene Bevölkerung diente argentinischen Experten letztlich nur als Ne-gativfolie für die Konstruktion einer als weiß aufgefassten Nation. 1917 erklärte der argentinische Essayist Leonardo F. Napolitano die indigenen Bewohner endgültig zu einer „besiegten Rasse“.94 Stets führten Experten das Aussterben der indigenen Bevölkerung sowohl auf physische Faktoren als auch moralische Mängel zurück.

Soziologen und Mediziner festigten eine stratifizierte postkoloniale Ordnung, in-dem sie in ihren verwissenschaftlichen Moraldiskursen verbreitete öffentliche Mei-nungen aufnahmen und diese mit ihrer wissenschaftlichen Expertise untermauer-ten.Die Erkenntnisse der Expertengemeinschaft zur ‚rassischen‘ Degeneration wa-ren widersprüchlich. So konnte sie im moralischen Verfall selbst zu Tage treten, oder auch eine Folge davon sein. Die Analyse von Darstellungen einer ‚fremden Trunkenheit‘ kann jedoch die Mechanismen eines kolonialen Diskurses der Ameri-kas sichtbar machen, der zwischen einem selbstkontrollierten ‚Wir‘ und einem ent-fesselten, wilden ‚Anderen‘ unterschied. Der im 19. Jahrhundert gestrickte Zivili-sationstopos unterteilte Gesellschaften weltweit entlang moralischer, bzw. ‚rassi-scher‘, sozialer und geschlechtsspezifischer Kriterien. Dabei wurde der ‚weiße‘

männliche Arbeiter zum eigentlichen Ziel nationaler Reformern im atlantischen Raum, wie Kapitel 1.2 zeigen wird. Die Verdrängung und Vernichtung indigener Völker rechtfertigten die Kolonisatoren mit deren Mangel an Anpassungsfähigkeit an die Zivilisation. Doch auch die ‚nicht-ganz-weiße‘ Bevölkerung Südamerikas geriet in das Blickfeld US-amerikanischer Missionare, wie zu Ende des folgenden Abschnitts deutlich wird.

Argentinische Nationalisten sahen die indigene Bevölkerung als Hindernis für den Aufbau einer wirtschaftlich erfolgreichen Nation, da sie ihnen nicht zutrauten, Teil einer disziplinierten Arbeiterschaft zu werden. Auf der Diskursebene wiesen koloniale Sichtweisen mit dieser an der europäischen Industrialisierung orientierten Haltung eine ‚moderne‘ Dimension auf, während auf praktischer Ebene in Latein-amerika bis ins 20. Jahrhundert Formen der Zwangsarbeit auf Großgrundbesitzen, Plantagen und im Bergbau bestehen blieben. In seiner Analyse legt der peruanische Soziologe Anibal Quijano überzeugend dar, wie die Verteilung von Arbeit seit Be-ginn der Kolonialisierung anhand von ‚rassischen‘ Merkmalen erfolgte, und über Jahrhunderte perpetuiert wurde.95 Die Arbeitsverteilung verlief in dieser frühen Form des globalen Kapitalismus entlang ‚rassischer‘ Kategorien und prägte die Ge-sellschaften in den Amerikas nachhaltig. Den Europäern reichte dieses System zum Beweis ihrer ‚legitimen‘ Vorherrschaft. Der Diskurs über eine ‚fremde Trunken-heit‘ zeigt, wie dieses Machtgefüge gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch sozio-logische oder anthroposozio-logische Erklärungen argumentativ untermauert wurde.

93 Ebd., S. 126.

94 „raza vencida“ Napolitano, Leonardo F: Raza vencida: sistemas, orientaciones y costumbres de antaño, Buenos Aires, 1917.

95 Quijano, Coloniality, S. 535 ff.

1.1.4 „A drunken race“: Männlichkeit, Moral und ‚Rasse‘ in den Amerikas Bereits in der Kolonialzeit wurde aus spanisch und britisch kontrollierten Territo-rien über das maßlose Verlangen des indigenen Mannes nach Alkohol berichtet.96 Für spanische Chronisten des 16. Jahrhunderts war der Alkoholrausch des ‚indio‘

ein Akt des Teufels und damit ein Hindernis für dessen Bekehrung. So entstand während Christianisierungskampagnen der frühen Kolonialzeit das Bild des betrun-kenen indigenen Mannes. Im 18. Jahrhundert stützte sich die spanische Krone im Rahmen der sogenannten bourbonischen Reformen auf dieses Bild beim Versuch, mehr Kontrolle über die Bevölkerung der Kolonien zu erlangen. Aus diesem frühen biopolitischen Impuls resultierten erste einschränkende Maßnahmen, deren Ziel es war, Trunkenheit besonders während öffentlicher Festivitäten zu unterbinden.97 In Nordamerika dämmten gesetzliche Initiativen im 17. und 18. Jahrhundert den viel diskutierten Handel mit Alkohol an Indigene kaum ein. Hier setzten sich besonders jene Siedler, die Gefahren mit dem Bild der fremden, unkontrollierten Trunkenheit der Sklaven und der indigenen Bevölkerung heraufbeschworen, für eine effiziente Umsetzung der Beschränkungen ein.98

Die kolonialen Sichtweisen der Argentinier wurden daher auch von US-ameri-kanischen Missionarinnen und Missionaren geteilt, und wurden somit Teil eines Diskurses ‚weißer‘ Reformer in Nord- wie Südamerika. Die Missionarin Willis Judson Burner berichtete 1912 aus Argentinien über die Trunksucht und die ver-meintliche Unfähigkeit einer gesamten Ethnie, industrielle Arbeiten zu verrichten:

„These Indians are a drunken race. Those who work on ranches always expect a supply of an alcoholic stimulant made from sugar cane. A Protestant once made an attempt to start a

‚missionary farm‘ in Bolivia. The attempt failed because the missionary would not provide the drink and the Indians would not work for him.“99

Dieses Beispiel zeigt sehr anschaulich, wie sehr die Reformer von anthropologi-schen Theorien zum Untergang von Völkern beeinflusst waren, und wie sie dabei Kausalitäten auf den Kopf stellten. Die Tatsache, dass die Kolonisierung und die soziale Exklusion der indigenen Bevölkerung mit ein Grund für den Alkoholismus waren, ignorierten sie. Beispielsweise zogen sie nicht in Betracht, dass die Entloh-nung der Arbeiter oftmals ausschließlich in Form von Naturalien bzw. Alkohol er-folgte. An der Richtigkeit von Theorien über eine ‚rassische‘ Schwäche der indige-nen Bevölkerung zweifelte keiner der Beobachter. Selbst die Bemühungen protes-tatischer Missionare, die indigenen Einwohner zum Christentum zu bekehren, hiel-ten viele mit Hinweis auf die ‚indigene Trunksucht‘ als verfehlt.100 Der Anteil des

96 Vgl. McCreery, David: Rural Guatemala, 1760–1940, Stanford, Stanford University Press, 1994, S. 87.

97 Vgl. Earle, Algunos, S. 21.

98 Vgl. Mancall, Peter C.: Deadly medicine: Indians and alcohol in early America, Ithaca, Cornell University Press, 1995, 101–110.

99 Burner, Willis Judson: Our mission in Argentina, Indianapolis, Young People’s Dept of the Christian Woman’s Board of Missions, c. 1912, S. 19.

100 1900 berichtete der US-amerikanische Journalist Frank Carpenter in seinem Reisebericht über die Versuche von Missionaren in Südamerika, die indigenen Bewohner zu erziehen. Mit Schu-len nach US-amerikanischen ModelSchu-len gelang es ihnen demnach nicht, das massenhafte

Ster-Alkoholhandels der europäischen Einwanderer bzw. Kolonisierer an der Misere wurde lediglich von europäischen und nordamerikanischen Beobachtern themati-siert.101 Berichte über Chile stellten einen Zusammenhang zwischen dem indigenen Alkoholismus und der Vertreibung durch Landnahme her, insofern der Alkohol als Mittel zur Schwächung der Bevölkerung diente.102 Aufgrund dieser Beobachtungen leiteten US-amerikanische Missionare nach 1914 gar eine historische Überlegen-heit und Verantwortung gegenüber dem südamerikanischen Kontinent ab, sahen sie sich doch nach dem ‚Aussterben‘ der nordamerikanischen ‚Natives‘ durch Alkohol in der Pflicht, dieses Szenario zu verhindern.103

Auch in Buenos Aires richtete sich das Hauptaugenmerk protestantischer Tem-perenzarbeit auf ‚weiße‘ Einwanderer, die vermeintlich vom rechten Glauben abge-fallen waren. Saisonale Landarbeiter und Seemänner, die sich temporär in den Ver-gnügungsvierteln in Hafennähe aufhielten, galten als besonders anfällig für Alko-holismus. Eingewanderte Briten und US-Amerikaner sahen vor allem darin eine Gefahr, dass ihre jeweilige Nationalität mit dem Verhalten dieser Gruppen assozi-iert wurde. Daher richteten sich die ersten Temperenzaktivitäten einer protestanti-schen Kongregation aus den USA, der American Church, schon in den 1860er Jah-ren an englischsprachige Seemänner in Buenos Aires. In einer Seemannsmission wurden zwischen 1867 und 1869 sonntägliche Temperenztreffen abgehalten. Nach verschiedenen Zwischenfällen mit Betrunkenen aus englischsprachigen Ländern sah sich The Standard zu einem Aufruf an die Neuankömmlinge genötigt: „Nearly all troubles of our countrymen arise from drink, and we again repeat our advice to

ben aufzuhalten: „The progress, however, is not great, for the demon rum is slowly but surely wiping out what is left of the race.“ Carpenter, Frank G.: South America, social, industrial, and political: a twenty-five-thousand-mile journey in search of information, Boston, Geo. M.

Smith, 1900, S. 253, S. 258.

101 In Reiseberichten wurde europäischen Einwanderern in Chile vorgeworfen, Schnaps gezielt dazu einzusetzen, um indigene Männer betrunken zu machen, sie damit zu entwürdigen und ihnen ihr Land zu nehmen. Dieses Bild zeichnete etwa der französische Mineningenieur Ferdi-nand Gautier. Auf seiner Reise durch Chile und Bolivien berichtete er 1906 vom Schrumpfen der Bevölkerung in der Region Araucanía und machte dafür den Alkohol und Senator Atwand-ter verantwortlich: Er war ein „distillateur et brasseur [qui a] édifié une grande fortune en dé-moralisant les Araucans si arrogants et si fiers autrefois.“ Gautier, Ferdinand: Chili et Bolivie:

étude économique et miniére, Paris, Guilmoto, 1906, S. 22.

102 Der US-amerikanische Soziologe Edward Ross bezeichnete den Alkohol 1915 als den wahren Eroberer indigenen Territoriums in Chile: „Not military subjugation but alcohol was the cause of their ultimate downfall. They recklessly parted with their lands for liquor and in some in-stances Indians who were in somebody’s way were deliberately exterminated by plying them with firewater as they wanted it. I was told of an Englishman who in the old days undertook to reduce the ‚unconquerable Araucanians‘ by setting up among them a distillery of wood alcohol.

He entirely cleared them from his field of operations and became a land magnate.“ Ross, Ed-ward Alsworth: South of Panama, New York, Century, 1915, S. 220.

103 Der Soziologe und Missionar Robert Speer bezichtigte europäische Einwanderer, „North America’s ravaging of the Indians“ durch „fire-water“ zu wiederholen. Speer, Robert. E.: The unity of the Americas: a discussion of the political, commercial, educational, and religious re-lationships of Anglo-America and Latin America, New York, Laymen’s missionary movement, 1916, S. 91.

them respecting temperance“.104 Die Relevanz von Temperenz war in der in Buenos Aires lebenden Gemeinde indes umstritten. Während der regelmäßigen Temperenz-treffen setzten sich schließlich jene durch, die für Mäßigung, d. h. „Temperance, rightly understood“,105 und nicht für Teetotalism, sprich vollständige Abstinenz, plädierten.106

Im 19. Jahrhundert waren britische Missionare und koloniale Administratoren beunruhigt über Europäer, die im kolonialen Raum scheinbar vom ‚tugendhaften Pfad‘ abwichen. Wie Harald Fischer-Tiné darlegt, nahmen die Kolonialbehörden in Indien besonders das Trinkverhalten der unteren weißen Schichten als Bedrohung für die britische Herrschaft wahr, da dieses die moralische Rechtfertigung der briti-schen Civilising Mission unterwanderte.107 Englische Männer migrierten auch nach Uruguay und Argentinien. 1885 erlebte ein englischer Besucher im ‚Hinterland‘

Uruguays die Monotonie und die Armut im Alltag englischer Schafzüchter, die den ganzen Tag Tee mit Rum tranken. Beruf, Verhalten, Aussehen und Behausungen entsprachen nicht dem Bild englischer Gentlemen, wie es der Reisende erwartet hatte.108 Was in dieser Darstellung englischer Siedler im südamerikanischen ‚Hin-terland‘ nur angedeutet wird, berichteten US-amerikanische Temperenzaktivistin-nen besonders über die Hafenstädte. Demnach war die koloniale Umgebung die Ursache für das ‚unmoralische‘ Verhalten protestantischer Männer in den Sied-lungskolonien. Die Mitbegründerin der US-amerikanischen Woman’s Christian Temperance Union (WCTU), Mary Clemens Leavitt, machte das Umfeld der Küs-tenstädte für den Lebenswandel angelsächsischer Männer in Buenos Aires verant-wortlich. Selbst Mitglieder ihrer eigenen methodistischen Kirche verfielen den Las-tern dieser Städte, berichtete sie von ihrer Weltumrundung 1892. So befand Leavitt, dass die Lebensweisen von Europäern in kolonialen Küstenstädten das größte Hin-dernis für die Missionsarbeit darstellten, und verurteilte diese als illegitime Vertre-ter ihres Glaubens.109

Das Bild des betrunkenen, englischsprachigen Ausländers bestand in Buenos Aires bis in die 1920er Jahre fort und legitimierte die protestantische Temperenzar-beit in Übersee. 1922 berichtete die WCTU-Repräsentantin in Südamerika, Hardy-nia K. Norville, aus Argentinien, dass englischsprachige Männer den Ruf von

Alko-104 A Foreigner in Difficulties, The Standard, 11.5.1865, S. 4.

105 „Fair-Play“: Temperance versus Teetotalism, The Standard, 18.4.1867, S. 2.

106 The Standard, 6.4.1867, S. 2.

107 Fischer-Tiné, Harald: ‚The drinking habits of our countrymen‘: European Alcohol Consump-tion and Colonial Power in British India, The Journal of Imperial and Commonwealth History Jg. 40, H. 3 (2012), S. 383–408.

108 Hudson, W. H.: The purple land, New York, The Modern Library, 1904, S. 55–65.

109 „Everybody drinks – English, Germans, Americans, Italians, Argentinians in the order named.

Even the M. E. Church has but few abstaining members, besides the American missionaries, preachers and teachers. I am glad that one of these holds to the principles and practice of this church. […] Were all the twenty thousand English people here suitable representatives of their faith, everything would take on a different aspect. But the same old story must be told of this place as of coast cities all around the world, with colonies from European countries; ungodly lives of other foreigners are the greatest hindrance to missionary work.“ Leavitt, Mary C.: Mrs.

Leavitt in South America, The Union Signal, 16.6.1892, S. 6.

holikern hätten. Sie nahm auf der International Convention der World League against Alcoholism in Toronto als Vertreterin Südamerikas teil und klagte nach Ein-führung der Alkoholprohibition in den USA: „the scum of North America are fast going down our shores; and American bars are everywhere.“110 Nur eine weltweite Prohibition, hielt Norville fest, könne den grenzüberschreitenden Alkoholtourismus und -handel eindämmen. Anders als im Fall der Zivilisierungsmission im British Empire diente das Bild des männlichen, betrunkenen US-Amerikaners in Südame-rika dazu, transnationalen Aktivismus vor dem US-ameSüdame-rikanischen Publikum zu rechtfertigen. Indem sie Temperenz als ein Kennzeichen protestantischer Tugend hochhielten, versuchten sie, ihre zivilisatorische Position gegenüber der nicht-pro-testantischen Bevölkerung zu überhöhen.

In der Vorstellung der Missionare beeinflusste also der südliche koloniale Raum das moralische Verhalten der Europäer negativ. Selbst die Elite Argentiniens war vom Bild der andersartigen Trunkenheit nicht ausgenommen. 1912 sah das Missio-narspaar Burner Argentinier in einer ihnen eigenen Form der Trunkenheit von den Europäern entfremdet. Argentinische Männer, darunter selbst hohe Repräsentanten, befanden sich demnach in einem konstanten Zustand der Trunkenheit.111 Die WCTU-Missionarin Mary Clemens Leavitts berichtete 1892 aus Buenos Aires über die ‚schlechten Manieren‘ der männlichen Bevölkerung gegenüber Frauen und be-tonte den dringenden Bedarf an Sittlichkeitsreformen in Argentinien. Den Grund für ein solches Benehmen führte sie auf die südeuropäische Herkunft der Männer zurück.112 Leavitt war darüber hinaus der Ansicht, dass US-amerikanische Männer physisch und intellektuell besser konstituiert wären als argentinische Männer. Lea-vitts Ansicht nach scheiterten letztere mit zunehmendem Alter aufgrund ihrer Rauch- und Trinkgewohnheiten.113 So seien selbst gebildete Männer mittleren

Al-110 World League Against Alcoholism.: International Convention, the World League Against Alco-holism, Toronto, Canada, November 24th–29th, 1922, Westerville, American Issue Press, 1922, S. 312.

111 „As a general rule, if a man entered our place for the first time and listened with a serious coun-tenance, I considered it a sign that he had been drinking. The Argentine, when he is sober, usually laughs at anything novel. He does not mean any harm by it any more than the Japanese does when he informs you, with a happy smile, that he has just received the news that his sister is dead.

On one occasion a member of Congress stopped his coach at our door and entered. He listened gravely to the service. He was drunk. On another occasion a professor of the university atten-ded. He was so drunk that he could not write me his name and address, though he made an attempt to do so.“ Burner, Argentina, S. 39.

112 „The ideas and usages in regard to family life are those of the south of Europe. A married man who should attempt to be faithful to his marriage vows would be the laughing-stock of his companions. Women who go out or travel alone are liable to unpleasant treatment and remarks.

Very frequently in stepping upon the open trams a man stands and looks every woman over before he takes his seat, He does this in the most open way, impertinently, wickedly.“ Leavitt, South America.

113 „Physically, the people are generally flabby, sallow, and they fail very early. There is no

113 „Physically, the people are generally flabby, sallow, and they fail very early. There is no