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1. Der Antialkoholismus als sozialhygienisches Projekt (1876–1913)

1.3 Fazit

Dieses erste Kapitel hat gezeigt, wie eine Gruppe von Sozialhygienikern medikali-sierte Konzepte übermäßiger Trunkenheit übernahm und sie an den argentinischen Kontext anpasste. Dabei standen diese Experten in Buenos Aires am Knotenpunkt eines transatlantischen Austausches, von dem aus sie Experten in anderen Teilen Südamerikas wichtige Impulse gaben. In der Debatte um den Nährwert von Wein

436 Alfaro war besonders für sein Libro de las Madres von 1899 bekannt, das in Argentinien lange als Standardhandbuch für Kinderhygiene galt. Vgl. Aráoz Alfaro, Gregorio: El libro de las madres: pequeño tratado práctico de higiene del niño: con indicaciones sobre el embarazo, parto y tratamiento de los accidentes, Buenos Aires, Librería Científica de Agustin Etchepare-borda, 1899.

437 „democratización de la ciencia“ Aráoz Alfaro, Alcoholismo, S. 251.

438 Vgl. Rosemblatt, Domesticating.

tritt zu Tage, wie die unterschiedlichen Positionen innerhalb des sozialhygienischen Projekts eng mit nationalen Interessen verknüpft waren. So orientierten sich nicht wenige Sozialhygieniker selektiv an jenen Modellen aus Frankreich, die den mode-raten Konsum von Wein als ungefährlich bzw. gesund darstellten. Indirekt unter-stützten sie damit auch die argentinische Weinindustrie. Aufgrund solcher Wider-sprüche wurden Sozialhygieniker wie Domingo Cabred auch zur Zielscheibe von Kritik, z. B. wenn die Presse den Vorwurf erhob, Antialkoholkampagnen seien elitär geführt und von Ausländern gesteuert. Indem sie sich in die Debatten einschalteten und sie zusätzlich befeuerten, trugen diese Kritiker dazu bei, Argentinien als Kul-turnation in Abgrenzung zu den von den Sozialhygienikern aus Europa adaptierten

‚Rezepten‘ zu konturieren.

Unter Rückgriff auf sozialhygienische Konzepte aus Frankreich nahmen Akti-vistinnen und Aktivisten den Versuch vor, zwischen kranken und gesunden Mitglie-dern der Nation zu unterscheiden. Dies konnte durch das Publikum in literarischen Darstellungen oder Theatervorführungen nachvollzogen werden. Ihren gesell-schaftlichen Auftrag sahen sozialhygienische Aktivisten also darin, Wissen über den Alkoholismus zu verbreiten. Was sich schon im Stück Irresponsable von 1889 (das sich an das Bürgertum und die Elite richtete) abzeichnete, führten Sozialistin-nen zu Beginn des Jahrhunderts und Sozialisten zwischen 1908 und 1914 fort: Sie appellierten an die moralische Verantwortung des Individuums und fanden in der Nüchternheit des Einzelnen ein ‚zivilisatorisches Versprechen‘ für die gesamte Na-tion. Was unter Bunge und anderen Sozialisten 1899 als Aufklärungskampagne zu den negativen Auswirkungen des Alkohols begonnen hatte, wurde in späteren Jah-ren zunehmend mit einer Arbeitermoral verknüpft, die sich in der Betonung alltäg-licher nüchterner Verhaltensweisen und des Modells der Kernfamilie äußerte. Wäh-rend Sozialisten um die Jahrhundertwende noch die gesellschaftlichen Verhältnisse (schlechte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Arbeiterklasse) für den Alkoho-lismus verantwortlich machten, rückten spätere Kampagnen die individuelle Ver-antwortung gerade der jungen Männer in den Vordergrund. Nach Ansicht der Sozi-alhygieniker sollten Arbeiter der Gefahr des Alkoholismus durch Willensstärke, Selbstdisziplin und produktive Betätigung, sowie durch die Wahrung gesunder, re-produktiver Fähigkeiten begegnen. Argentinische Männer, die nicht dem Wachstum der Volkswirtschaft dienten, galten als unverantwortliche Trinker, wurden patholo-gisiert und teils in Psychiatrien interniert. Das Konzept der ‚fremden Trunkenheit‘

diente weit über den Rio de la Plata hinaus dazu, über die Kategorien von ‚Rasse‘, Geschlecht und Nation eine hierarchische Gesellschaftsordnung herzustellen. Diese Hierarchisierung nach kolonialen und nationalistischen Vorstellungen hatte den Ausschluss bestimmter Gruppen aus einer vermeintlich homogenen Gemeinschaft zum Ziel. So wurde die Situation der indigenen Bevölkerung in den argentinischen Provinzen von den urbanen Antialkoholkampagnen in Buenos Aires und Montevi-deo meist ignoriert.

Im letzten Abschnitt dieses Kapitels sind die Unterschiede zwischen einem als

‚männlich‘ und einem als ‚weiblich‘ definierten Aktivismus verdeutlicht worden.

Dieser Rollenzuschreibung entsprechend riefen Aktivistinnen Frauen dazu auf, in der bürgerlichen Heimstätte positiv auf ihre Ehemänner einzuwirken, während

Ak-tivisten andere Männer zur Selbstdisziplin aufforderten und von der Regierung eine striktere Regulierung des Alkoholausschanks und die Disziplinierung übermäßiger Trunkenheit verlangten. Diese Aufgabenteilung des Aktivismus entsprach Emilio Conis Idealbild der „iniciativa privada“,439 deren Zielsetzung von Sozialhygieni-kern und Aktivistinnen gleichermaßen als vermeintlich unpolitisch betrachtet wurde, da sie parteiübergreifend von ähnlichen bürgerlichen Gesellschaftsnormen ausgingen. Unter dieser apolitischen Prämisse sollte sich auch die 1916 gegründete Temperenzliga engagieren, auf die im folgenden Kapitel näher eingegangen wird.

439 Vgl. Coni, Memorias, S. 565.

DIE KAMPAGNEN EINER TRANSAMERIKANISCHEN TEMPERENZBEWEGUNG (1914–1919)

Abbildung 10: ‚El Lazo Blanco de América‘, Symbol der transamerikanischen Temperenzbewegung, 1927.

„White Ribboners […] will watch with peculiar interest the building of this white ribbon cable between our two great continents, a cable fraught with far more hope and happiness for human-ity than is the completion of the Panama canal.“1

Mit diesen Worten kündigte Anna A. Gordon, die spätere Präsidentin der größten weiblichen Temperenzgesellschaft der USA, der Woman’s Christian Temperance Union (WCTU), die Entsendung der ersten südamerikanischen Repräsentantin ih-res weltweiten Netzwerkes, der World WCTU (WWCTU), an.2 In den folgenden Jahren warben die protestantischen Temperenzaktivistinnen um Unterstützung für den ihrer Meinung nach „neglected continent“,3 der im Rahmen ihrer bisherigen überseeischen Aktivitäten bislang kaum eine Rolle gespielt hatte. Den Schlachtruf

1 Gordon, Anna Adams: Elma Grace Gowen: Our World’s W. C. T. U. Representative in South America, The Union Signal, 8.8.1907, S. 4.

2 Das white ribbon, d. h. das weiße Band, diente ähnlich der heutigen AIDS-Schleife als Erken-nungszeichen der Temperenzaktivistinnen.

3 Willing, Jennie Fowler: „All-Round Women“, The Union Signal, 3.9.1914, S. 14. Die Bezeich-nung ‚neglected continent‘ wurde zuvor schon in der britischen Missionarsbewegung verwen-det. Vgl. Olsson, Emilio: The South American pioneer: being the occasional paper of the South American Industrial Pioneer Mission. Pioneering in the Neglected Continent, London, T. Wil-liams, 1903.

der weltweit aktiven „moralischen Kreuzfahrerinnen“4 von „God, Home and Every Land“5 übersetzte die Temperenzbewegung am Rio de la Plata in „Für das Zuhause, das Vaterland und die Menschheit“6 (Abb. 10). Diese semantische Anpassung sym-bolisiert die Transformation der nordamerikanischen Temperenzmission zur süd-amerikanischen Temperenzreform: Die hauptsächliche Gemeinsamkeit bestand in der Betonung der häuslichen Sphäre der Frauen und der damit verbundenen Verant-wortung für die bürgerliche Familie und die Erziehung der Kinder. Für Argentinierinnen und Uruguayerinnen war ab 1915/1916 die Nation zentraler Be-zugspunkt ihrer Reformen; entsprechend fehlte bei ihnen der missionarische Im-puls, der hinter ‚Gott‘ im US-amerikanischen Slogan steckte. Uruguayische Tem-perenzaktivistinnen nahmen moralisierende Praktiken von US-amerikanischen Missionarinnen an, und nutzten diese, um sich als „erstes Land unter den amerika-nischen Ländern“ hervorzuheben.7 In den USA rechtfertigte die grenzüberschrei-tende Gefahr des Alkoholismus das überseeische Engagement der WWCTU. Uru-guayische und argentinische Temperenzaktivistinnen wiederum sahen ihre nationa-len Kampagnen durch das Engagement dieser weltweit operierenden Organisation legitimiert.

Bevor näher auf den Wandel der Beziehungen innerhalb des Austausches zwi-schen Nord- und Südamerika eingegangen und anschließend der Antialkoholakti-vismus ab dem Jahr 1914 weiterverfolgt wird, gilt es als Erstes, die protestantische Missionarsarbeit als eine Art Erziehungsmission ins Bild zu setzen.

Der Protestantismus blieb in Lateinamerika im 19. Jahrhundert lange auf ver-schiedene Migrantengruppen beschränkt; seine Vertreter stießen aber bei liberalen Reformern spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts auf Gehör. In Buenos Aires wur-den die erste anglikanische Kirche 1831 und die erste methodistische Kirche 1843 geweiht. Unter anderem nahmen Gemeinden deutscher und schweizerischer Aus-wanderer in den Provinzen Santa Fé und Entre Ríos 1856/57 den Methodismus an.8 Der Beginn der Ausbreitung der methodistischen Kirche wird häufig als Grundlage angesehen, auf der evangelikale Bewegungen in der zweiten Hälfte des 20.

Jahr-4 Becker, Außenseiter, S. 133 ff.

5 Tyrrell, Woman, S. 122.

6 Norville, Hardynia K.; Varela, Maria Josefa; del Pilar Beltran, Maria: Cruzada de vida y salud para los niños de América. Enseñanza antialcohólica en las escuelas. Publicado por la ‚Unión Mundial de Mujeres Pro-Temperancia‘ con el apoyo de los Gobiernos de la República Oriental del Uruguay y República Argentina para coadyuvar a la obra social que realiza el magisterio de ambas naciones, Buenos Aires, 1927, S. 1.

7 „Cambiará la obra de Templanza al hombre, le hará mejor obrero, mejor dependiente, mejor labrador, hará mejores niños, más aptos a la enseñanza, la Templanza está llamada a formar la voluntad del niño y del hombre, les hará de corazón puro y de firme voluntad y entonces tend-remos una patria que será digna de ser llamada primera entre los países americanos.“ González Vázquez de Rodríguez, Isabel: De la señorita Isabel González Vázquez: November 1919, El Lazo Blanco, Januar 1920, S. 22–23, S. 23.

8 Bastian, Jean-Pierre: „Protestantism in Latin America“. In: Dussel, Enrique D. (Hrsg.): The Church in Latin America 1492–1992, Tunbridge Wells, Maryknoll, Burns & Oates, Orbis book, 1992, S. 313–350, S. 320–322.

hunderts ihren Erfolg aufbauten.9 Der religionsgeschichtlichen Analyse des Schwei-zer Historikers Jean-Pierre Bastian zufolge entwickelten sich in Hispanoamerika nach der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialmacht günstige gesellschaft-liche Voraussetzungen für das Aufkommen des Protestantismus. Die Eliten führten zur Sicherung des wirtschaftlichen Erfolges ein politisch liberales, republikani-sches System ein, behielten dabei aber den Katholizismus als nationale Religion zunächst bei, womit die katholische Kirche ihre Interessen bis auf weiteres vertei-digen konnte. Als sich die katholische Kirche jedoch liberalen Reformen wider-setzte, brachen die Eliten mit neuen Verfassungen (in Argentinien 1854) deren Mo-nopol und bahnten einer fortschreitenden Säkularisierung und zunehmenden Reli-gionsfreiheit den Weg. Der Protestantismus sprach den Fortschrittsglauben natio-nal-liberaler Reformer aus Staat und Wirtschaft an. Die katholische Kirche wurde dagegen mit dem Konservatismus der kolonialen Vergangenheit verbunden.10

Die eigentlichen Erziehungsmodelle wurden nicht einfach nur global diffun-diert, sondern unterlagen komplexen Prozessen von Transformation, Verhandlung und Aneignung.11 Die Ziele und Methoden der Missionarsschulen überlappten weltweit mit liberalen Konzepten nationalstaatlicher Reform.12 Die Aneignung sä-kularer Schulsysteme durch liberale Reformer führte wiederum zu Reaktionen der Ablehnung seitens katholischer Vertreter. Am Rio de la Plata galt liberalen Refor-mern gerade die Grundschule als Herzstück für die Modellierung der Nation. In den Jahren 1867 und 1868 studierten der spätere Staatspräsident Argentiniens Domingo Sarmiento und der uruguayische Politiker und Bildungsreformer José Pedro Valeta das staatliche Schulsystem der USA. Nach Rückkehr von ihrer Studienreise, auf der sie auch den ‚Vater‘ der öffentlichen Bildung in den USA, Horace Mann, trafen, initiieren sie Bildungsreformen, die sich hinsichtlich der Lehrerausbildung und der Standardisierung der Curricula an den USA ausrichteten.13 Es ging ihnen darum, ein liberales Modell zu etablieren, das in scharfem Kontrast zu den als überkommen angesehenen kolonialen Strukturen stand. Sie beobachteten in den USA weniger ausgeprägte Klassenhierarchien als in Europa und führten dies auf das öffentliche Bildungssystem zurück, welches ihnen dazu geeignet schien, den Nationsbildungs-prozess zu forcieren.14 Während sich Sarmiento die USA zum Vorbild nahm, sah er

9 Vgl. Hempton, David: Methodism. Empire of the spirit, New Haven, Yale University Press, 2005, S. 2.

10 Vgl. Bastian, Protestantism, S. 318–319.

11 Vgl. Roldán Vera, Eugenia: „Export as Import: James Thomson’s Civilising Mission in South America, 1818–1825“. In: Roldán Vera, Eugenia; Caruso, Marcelo (Hrsgg.): Imported moder-nity in post-colonial state formation. The appropriation of political, educational, and cultural models in nineteenth-century Latin America, Frankfurt am Main, Peter Lang, 2007, S. 231–

12 Im 19. Jahrhundert bemühten sich Nationen weltweit um den Aufbau von Schulen und die 276.

Entwicklung von Erziehungsmodellen, um ihre Bevölkerungen zu erziehen. Vgl. Ramirez, Francisco O.; Boli, John: The Political Construction of Mass Schooling: European Origins and Worldwide Institutionalization, Sociology of Education Jg. 60, H. 1 (1987), S. 2.

13 Hentschke, Artiguista, S. 738.

14 Leroux, Karen: „Sarmiento’s Self-Strengthening Experiment: Americanizing Schools for Ar-gentine Nation-Building“. In: Garlitz, Richard P.; Jarvinen, Lisa (Hrsgg.): Teaching America to

im staatlichen Erziehungswesen gleichzeitig einen Schutz gegen die gefürchtete Volkssouveränität.15 Die Schulreformen Argentiniens und Uruguays lehnten sich an das nordamerikanische Modell der Normal School an. 1871 errichteten Reformer die Escuela Modelo de Paraná, für die eigens Pädagogen und methodistische Mis-sionarinnen den USA angeworben wurden.16 Die Reformen stießen auf den Wider-stand der katholischen Kirche, die Schulbildung als ihren zentralen Einflussbereich betrachtete. So gelang es beispielsweise nicht, eine gemischtgeschlechtliche Erzie-hung in Schulen durchzusetzen, obwohl diese in der Modellschule von Paraná prak-tiziert wurde.17 Die Auseinandersetzung zwischen liberalen Reformern und Vertre-tern eines katholischen Wertekanons war Argentinien und Uruguay gemein. Die in den 1880er Jahren in beiden Ländern weitgehend eingeführten staatlichen Schul-systeme können als erste elitengesteuerte Versuche eines liberalen Nation-building mittels Erziehung gelten. Als Elitenprojekte der Zentralregierungen richteten sie sich besonders an die ärmeren Schichten, und zunehmend auch an Migranten.

Über ihre Schulen gewannen die Missionare bei moderaten Gruppen der Ge-sellschaft schrittweise mehr Akzeptanz. Bastians Einschätzung, dass die Etablie-rung der Schulen letztlich für den Erfolg der protestantischen Missionarsbewegung in Lateinamerika stand, mag übertrieben klingen.18 Doch stießen die

protestanti-the world and protestanti-the world to America. Education and foreign relations since 1870, New York, Palgrave Macmillan, 2012, S. 51–54.

15 Sein Konzept von Staatlichkeit beruhte auf einer konservativen Interpretation des französi-schen Liberalismus zu Zeiten der Juli-Revolution von 1830. Entsprechend betonte er die Frei-heiten des Individuums, vor allem das Recht auf Privatbesitz und die Förderung wirtschaftli-chen Wachstums, und richtete sich gegen eine Regierung des Volkes. In Anlehnung an franzö-sische Autoren wie Henri de Saint-Simon wollten Sarmiento und andere liberale Politiker die Nation über die Elite organisieren. Die dadurch gewonnene interne Stabilität war ihrer Ansicht nach der Schlüssel zum Wohlstand. Sie waren gegen das allgemeine Wahlrecht, da sie fürchte-ten, dass dieses zur Anarchie der Nachunabhängigkeitszeit zurückführen würde. Vgl. Rock, State, S. 217.

16 Die Wahl der Provinzstadt Paraná als Standort verweist auf die interne Zivilisierungsmission bzw. den Versuch, über Schulen eine nationale Geographie zu lehren, welche die Unterschiede zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen betonte. Beispielhaft hierfür ist die Darstellung in-digener Bevölkerungsgruppen in Schulhandbüchern während der Conquista del desierto in Patagonien (1878–1885) und den Militärkampagnen im nördlichen Chaco (1870–1899), wäh-rend der große Teile der indigenen Bevölkerung ausgelöscht wurden, sowie der nachfolgenden Landverteilung. Kinder sollten lernen, dass auch indigene Einwohner sich den sozioökonomi-schen Anforderungen zu unterwerfen und das Evangelium in staatlichen und religiösen Ein-richtungen zu erlernen hatten. In einer Schullektüre von Hector Pedro Blomberg von 1925 wurde ihre aufopfernde Arbeit in Wäldern, Tälern und Feldern schließlich als bescheidener Anteil am Aufbau einer patria gewürdigt. Zur nationalen Zivilisierungsmission trugen sie dem-nach einzig durch die Urbarmachung des ‚Hinterlands‘ bei. Vgl. Teresa Artieda „La invención escolar de los indígenas“ auf dem Segundo Encuentro de la Red Alfa Patre-Manes, Centro In-ternacional de la Cultura Escolar, CEINCE, in: Cucuzza, Héctor Rubén: Yo argentino: la con-strucción de la nación en los libros escolares (1873–1930), Buenos Aires, Miño y Dávila, 2007, S. 38–39.

17 MacLachlan, Colin M.: Argentina. What went wrong, Westport, Praeger Publishers, 2006, S. 21.

18 Bastian, Protestantism, S. 329.

schen Schulen, die sich lange überwiegend den protestantischen Einwandererge-meinden und der armen Bevölkerung gewidmet hatten, ab Anfang des 20. Jahrhun-derts bei den (oft ebenfalls protestantischen) Reformern tatsächlich vermehrt auf Interesse. So näherten sich protestantische Missionarinnen und Missionare und Nationalreformer einander zunehmend an.

Gerade methodistische Missionarinnen der Woman’s Foreign Missionary Soci-ety of the Methodist Episcopal Church (WFMS) versuchten, Erziehungsarbeit nach US-amerikanischen Modellen rund um den Globus zu verbreiten.19 Ihr erzieheri-sches Engagement reflektierte die unter Missionarinnen weitverbreitete überhebli-che Haltung gegenüber der einheimisüberhebli-chen Bevölkerung. Je fremder sich die Missi-onarinnen fühlten, desto mehr distanzierten sie sich von den Einheimischen, beson-ders wenn sie sich in einem ‚unziviliserten‘ Umfeld wähnten. Im argentinischen Rosario der 1880er und 1890er Jahre beispielsweise nahmen methodistische Missi-onarinnen ihre Umgebung als feindselig war, und sahen sich ähnlichen Herausfor-derungen gegenübergestellt wie in ‚heidnischen‘ Ländern.20

In diesem Umfeld erwarben sich Missionarinnen in Rosario den Ruf als Pionie-rinnen einer südamerikanischen Temperenzbewegung. Mit der Gründung einer Guttemplerloge (Teil eines weltweiten Netzwerks von Abstinenzlern) im Jahr 1875 wurden die Stadtbewohner Zeugen des „first effort to arrest the alcohol current in this continent“.21 Prediger und Missionare wandten sich mit dem Aufruf zur Tem-perenz der gesamten Gemeinde zu, während die Missionarsehefrauen sich um die Kindererziehung, die Bildung der Frauen sowie die Organisation von Temperenz-sitzungen für Seeleute kümmerten. In Rosario machte sich die methodistische Mis-sionarin Ellen Wood einen Namen im Kampf gegen den Alkohol unter englisch-sprachigen Seemännern und Eisenbahnarbeitern. Ihr Hauptaugenmerk galt jedoch der Erziehung von Mädchen und Frauen.22 Wood war mit ihrem Ehemann und fünf weiteren Missionarinnen von 1871 bis in die 1880er Jahre in Rosario aktiv. Das Ehepaar war Teil der ersten Gruppe methodistischer Missionarinnen und Missio-nare, die sich an Orten mit einer angelsächsisch-protestantischen Gemeinschaft verstärkt engagierten. Sie boten in methodistischen Schulen Temperenzerziehung an und vernetzten sich lose mit der WWCTU.23 So war es das Ziel der

Missionarin-19 Unter anderem auch in Japan zwischen 1851 und Missionarin-1934. Vgl. Eder, Elizabeth K.: Constructing opportunity: American women educators in early Meiji Japan, Lanham, Lexington Books, 2003.

20 Baker, Frances J.: The story of the Woman’s Foreign Missionary Society of the Methodist Epis-copal Church, 1869–1895, Cincinnati, New York, Curts & Jennings Eaton & Mains, 1898, S. 357. Rosario liegt am Rio Paraná, einem Zufluss des Rio de la Plata, unweit der Stadt Paraná, in der 1871 die Modellschule errichtet wurde.

21 Die Mitgliederzahlen dieser Loge schwankten zwischen 280 (1875) und 91 (1881). McCartney Clemens, Eliza Jane; Willing J. F.: Rosario, Chicago, Rand, McNally & Company, 1882, S. 109.

22 „The [temperance] work has spread among the sailors till now many of them come regularly when their ships come in, to report progress and claim the sympathy of Mrs. Wood, on whom, principally, the care of the temperance cause now rests.“ ebd., S. 56.

23 Ida Arms, Lehrerin am Colejio Americano in Concepción, Chile, hielt seit 1891 als erste Frau in Südamerika regelmäßigen Kontakt mit der WCTU-Zentrale in Evanston, Illinois. 1890

orga-nen, über gelebtes, beispielhaftes Verhalten Vertrauen aufzubauen, um schließlich den katholischen Glauben zu verdrängen.

Der US-amerikanische Historiker Mark McMeley zeigt, wie sich Wood gegen-über anderen Frauen als vorbildliche Methodistin präsentierte.24 Wie fast alle Mis-sionarinnen hatte sie gelernt, sich nach dem Ideal einer „pious motherhood“ in häuslichen Aktivitäten zu verausgaben, und dabei über ihre physischen Grenzen hinauszugehen.25 Denn in der Selbstaufopferung, so hieß es, kam die religiöse Überzeugung zum Ausdruck. Im Rahmen der Missionsarbeit gaben die Missiona-rinnen das erlernte Rollenverständnis weiter. Frauen, die Geld verdienten, bzw.

Männer, die unregelmäßige Arbeitsverhältnisse oder sexuell abweichendes Verhal-ten aufwiesen, galVerhal-ten ihnen als Beispiele für moralischen Verfall und religiöse Ver-fehlung. Daher war die Reformierung des täglichen Verhaltens Teil der Überzeu-gungsarbeit zum protestantischen Glauben. Durch ihre eigene Arbeit und Vorbild-funktion, so glaubten die Missionarinnen, konnten sie Seelen retten. Indem sie Mädchen ‚weiblichen Anstand‘ lehrten, argentinische Frauen zu Bible women aus-bildeten, und sich selbst als öffentliches Beispiel für ‚gutes Benehmen‘ inszenier-ten, versuchten Wood und ihre fünf Mitstreiterinnen in Rosario, indirekt die Familie insgesamt zu reformieren.26 Dies war eine grundlegende Strategie methodistischer Missionarinnen, die im gesamten lateinamerikanischen Raum angewendet wur-de.27

Die von den Missionarinnen propagierte Rollenverteilung war jedoch für viele Argentinierinnen aufgrund ihrer Alltagssituation von geringer Bedeutung bzw.

praktisch nicht realisierbar. Die Versuche, argentinische Frauen über die Lehre

‚weiblicher‘ Alltagspraxis zum Glauben zu bekehren, scheiterten unter anderem an den materiellen Umständen. Während andauernder Wirtschaftskrisen mussten Frauen häufiger arbeiten – sei es, weil das Einkommen des Ehemannes zum Unter-halt der Familie nicht ausreichte, sie alleinstehend oder geschieden waren, oder der Mann anderweitig ausfiel (etwa aufgrund militärischer Mobilisierung, oder auch aufgrund von übermäßigem Alkoholkonsum). Engländerinnen der Arbeiterklasse,

‚weiblicher‘ Alltagspraxis zum Glauben zu bekehren, scheiterten unter anderem an den materiellen Umständen. Während andauernder Wirtschaftskrisen mussten Frauen häufiger arbeiten – sei es, weil das Einkommen des Ehemannes zum Unter-halt der Familie nicht ausreichte, sie alleinstehend oder geschieden waren, oder der Mann anderweitig ausfiel (etwa aufgrund militärischer Mobilisierung, oder auch aufgrund von übermäßigem Alkoholkonsum). Engländerinnen der Arbeiterklasse,