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Regul¨ar und singul¨ar gest¨orte Probleme

In Abschnitt 1.2 haben wir den Aufprallzeitpunkt eines senkrecht nach oben geworfenen Gegenstandes aus der L¨osung des Anfangswertproblems

x00=− 1

(εx+ 1)2, t >0, x(0) = 0, x0(0) = 1 (1.34) bestimmt, indem wir das Problem f¨ur ε = 0 explizit gel¨ost haben. In diesem Abschnitt untersuchen wir, inwiefern die L¨osung des Problems f¨ur ε = 0 die L¨osung des vollen Problems approximiert und wie bessere N¨aherungsl¨osungen gefunden werden k¨onnen.

Wir machen f¨ur das Problem (1.34) den Ansatz

x(t) =x0(t) +εx1(t) +O(ε2) (ε→0).

Einsetzen in (1.34) und Taylorentwicklung umy = 0 von

−1

(1 +y)2 =−1 + 2y+O(y2) (y →0) liefert

x000 +εx001 +O(ε2) = −1

(1 +εx0+O(ε2))2 = −1 + 2εx0+O(ε2), x0(0) +εx1(0) +O(ε2) = 0,

x00(0) +εx01(0) +O(ε2) = 1.

Ein Koeffizientenvergleich ergibt dann f¨ur

ε0 : x000 =−1, x0(0) = 0, x00(0) = 1, (1.35) ε1 : x001 = 2x0, x1(0) = 0, x01(0) = 0. (1.36) Das Problem (1.35) entspricht gerade unserem Problem (1.34) f¨ur ε = 0 und besitzt die L¨osungx0(t) = t−t2/2. Setzen wir dies in (1.36) ein, folgtx1(t) = t3/3−t4/12 und damit die verbesserte N¨aherungsl¨osung

x(t) =t³ 1− t

2

´ +εt3

3

³ 1− t

4

´

+O(ε2).

Es ist sogar m¨oglich, die Approximation f¨urx(t) durch den allgemeinen Ansatz x(t) =

Xn

k=0

εkxk(t) +O(εn+1)

zu verbessern. Der Faktor εxin der Gleichung (1.34) st¨ort die L¨osung also nur um Terme von der Gr¨oßenordnung O(ε). Solche Probleme nennen wirregul¨ar gest¨ort.

F¨ur eine pr¨azisere Definition betrachten wir eine Abbildung F : B1 ×[0,1] → B2, wobei (B1,k · k1) und (B2,k · k2) zwei Banachr¨aume seien. Wir suchen N¨aherungen des Problems

F(xε, ε) = 0. (1.37)

Es ist naheliegend, eine L¨osung x0 des sogenanntenreduzierten Problems F(x0,0) = 0

als eine N¨aherung von xε zu verwenden. Um eine bessere Approximation zu finden, kann man versuchen, den Ansatz

xε,n :=

Xn

k=0

εkxk

in (1.37) einzusetzen, die linke Seite nach Potenzen von ε zu entwickeln und einen Koef-fizientenvergleich f¨ur εk durchzuf¨uhren. Kann man

F(x, ε) = Xn

j=0

Fj(x)εj+O(εn+1) (ε →0)

entwickeln, so folgt 0 = F³Xn

k=0

εkxk+O(εn+1), ε´

= Xn

j=0

Fj

³Xn

k=0

εkxk+O(εn+1

εj +O(εn+1)

= Xn

j=0

¡Fj(x0) +Fj0(x0)εx1+. . .¢

εj+O(εn+1), also f¨ur

ε0 : F0(x0) = 0,

ε1 : F00(x0)x1+F1(x0) = 0 usw.

Wir nennen nun die N¨aherung xε,n konsistent, wenn das Residuum rε := F(xε,n, ε) f¨ur ε→0 gegen Null konvergiert:

kF(xε,n, ε)k2 →0 (ε →0).

Ist es m¨oglich, die N¨aherungenx0, . . . , xnzu berechnen, und istxε,n konsistent, so nennen wir xε,n eine formal asymptotische Entwicklung der Ordnung n von xε, und das Problem (1.34) heißt regul¨ar gest¨ort, wenn f¨ur alle n ∈ N eine formal asymptotische Entwicklung existiert. Anderenfalls nennen wir das Problemsingul¨ar gest¨ort.

Was geschieht bei singular gest¨orten Problemen? Dazu betrachten wir zwei Beispiele.

Beispiel 1.6 Die Schwingungen gewisser selbsterregter Systeme werden durch die Van-der-Pol-Gleichung

x00+ε(x2−1)x0+x= 0, t >0, x(0) =x, x0(0) = 0, (1.38) beschrieben. Hierbei istε >0 ein im allgemeinen “kleiner” Parameter im Sinne vonε¿1.

F¨ur |x| >1 wird das System ged¨ampft, f¨ur |x| < 1 angeregt (negative D¨ampfung). Wir sind an dem Verhalten der L¨osung f¨ur Zeitent → ∞interessiert. Die Gleichung (1.38) ist nichtlinear und kann nicht explizit gel¨ost werden. Wir l¨osen zuerst das reduzierte Problem

x000 +x0 = 0, x(0) =x, x00(0) = 0.

Die L¨osung x0(t) =xcost, t≥0, ist konsistent, denn f¨ur das Residuum rε gilt rε =x000+ε(x20−1)x00+x0 =ε(x20−1)x00

und damit

krεk:= sup

0<t<|rε(t)| ≤εx(x2 + 1)→0 (ε →0).

Wir arbeiten mit der Supremumsnorm, da wir an dem L¨osungsverhalten in t ∈ (0,∞) interessiert sind.

Der Ansatz x=x0+εx1+O(ε2) und Koeffizientenvergleich f¨uhrt auf die Gleichung x001+x1 =−(x20−1)x00 =x(x2cos2t−1) sint=x

µx2 4 −1

sint+ x3

4 sin(3t), denn sin(3t) = (4 cos2t−1) sint, und

x1(0) =x01(0) = 0.

Die L¨osung lautet

x1(t) = x 2

µ 1− x2

4

(tcost−sint)− x3

32(3 sint−sin 3t).

Ist x0+εx1 konsistent? Es gilt

rε = (x0+εx1)00+ε((x0+εx1)2−1)(x0 +εx1)0+ (x0+εx1)

= x000 +x0

| {z }

=0

+ε[x001 + (x20 −1)x00+x1

| {z }

=0

] +ε2[2x0x1x00+ (x20−1)x01] +O(ε3).

Damit konvergiert zwarrε(t)→0 f¨urε→0punktweise, abernichtin der Supremumsnorm

¨

uber (0,∞), dax1(t) unbeschr¨ankt ist. Das Problem ist folglich singul¨ar gest¨ort auf (0,∞).

Was ist schiefgegangen? Dazu nehmen wir an, daßx2 ≈1+εmitε >0 und betrachten

Diese Funktion hat zwei Zeitskalen: eine Skala einer “langsamen Zeit” der Gr¨oßenordnung O(1/ε2) durch den Termeε2t/2 und eine Skala einer “schnellen Zeit” der Gr¨oßenordnung O(1) wegen des Terms cos(p

1−ε2/4 t). Es ist naheliegend zu vermuten, daß auch die Van-der-Pol-Gleichung (1.38) zwei Zeitskalen besitzt. Wir machen daher den Ansatz

x(t) =x0(t0, t1) +εx1(t0) +O(ε2) mitt0 =t0(t) =t, t1 =t1(t) =εt.

Mit der Kettenregel folgt dx0 Wir setzen den obigen Ansatz in (1.38) ein und erhalten

0 = x00+ε(x2−1)x0+x

Die L¨osung von (1.39) lautet

x0(t0, t1) =a(t1) cos(t0+b(t1)),

wobeia und b beliebige (differenzierbare) Funktionen mit a(0) =x,b(0) = 0 sind. Setzen wir diese L¨osung in (1.40) ein, so folgt nach etwas Rechnung

d2x1

dt20 +x1 = µ

2da

dt1 −a+ a3 4

sin(t0+b(t1)) (1.41)

+2adb dt1

cos(t0+b(t1)) + a3

4 sin 3(t0+b(t1)).

In Abschnitt 1.2 haben wir gesehen, daß die Schwingungsgleichung

x00+x= sint oder x00+x= cost (1.42) Resonanz erzeugt, d.h., die anregende Kraft schaukelt die Schwingungen immer st¨arker auf. Mathematisch bedeutet dies, daß die L¨osungen von (1.42) unbeschr¨ankt sind. Solche L¨osungen schließen wir aus, da wir ja damit rechnen, daß L¨osungen mit|x|>1 ged¨ampft werden. Wir erhalten genau dann keine Resonanz, wenn die Koeffizienten vor den sin-und cos-Termen in (1.42) verschwinden. Dies f¨uhrt auf die folgenden Gleichungen f¨ur die Funktionena und b:

da dt1

= a 2

µ 1− a2

4

, a(0) =x, db

dt1 = 0, b(0) = 0,

mit L¨osungen

a(t1) = 2x

px2−(x2−4)et1, b(t1) = 0, t1 ≥0.

Damit folgt

x0(t, εt) = 2xcost

px2−(x2−4)eεt, t≥0.

Dies ist sicherlich eine bessere Approximation als die L¨osungu0(t) =xcostdes reduzierten Problems. Insbesondere folgt

|x0(t, εt)2−4 cos2t|= 4|x2−4|eεtcos2t

x2−(x2−4)eεt →0 (t→ ∞) und folglich

u0(t, εt)−2 cost →0 (t → ∞).

Damit ist das Verhalten der N¨aherungsl¨osungu0(t, εt) der Van-der-Pol-Gleichung gekl¨art.

Man nennt ¨ubrigens 2 cost auchGrenzzykel, da sich die L¨osung f¨ur t→ ∞ dem Graphen von 2 cost ann¨ahert. Dies gilt auch f¨ur die L¨osung des vollen Problems (1.38).

Beispiel 1.7 Wir betrachten

−εu00+u0+u= 0, x∈(0,1), u(0) = 1, u(1) = 0. (1.43) Da wir die Randwerte der gesuchten Funktionu(x) vorgegeben haben, nennt man (1.43) ein Randwertproblem. Das reduzierte Problem

u0+u= 0, x∈(0,1), u(0) = 1, u(1) = 0

hat keine L¨osung, da die allgemeine L¨osung von u0 +u = 0, n¨amlich u(x) = cex mit c∈R, nicht beide Randbedingungen gleichzeitig erf¨ullen kann. Es gibt also nicht einmal eine formale asymptotische N¨aherung der Ordnung null. Das Problem (1.43) ist folglich singul¨ar gest¨ort. Wir erwarten, daß sich eine asymptotische N¨aherung im Innern von (0,1) wie cex verh¨alt, aber in der N¨ahe vonx= 0 bzw. x= 1 eine Grenzschicht aufweist, um die Randbedingungen erf¨ullen zu k¨onnen. Um das Verhalten in der N¨ahe der Grenzschicht analysieren zu k¨onnen, verwenden wir eine Art “mathematische Lupe”, genauer eine Va-riablentransformation, etwa

ξ= x

εα, α >0,

in der N¨ahe von x = 0. Wir nennen ξ eine Grenzschichtvariable. Die Funktion v(ξ) = u(x/εα) erf¨ullt wegen v0αu0 die Gleichung

−ε1v00αv0+v = 0, ξ ∈(0, εα). (1.44) Beachte, daß u0 = du/dx, aber v0 = dv/dξ. Die Frage ist nun, welches α zu w¨ahlen ist. Wir wollen ein α ausw¨ahlen, so daß (1.44) im Grenzwert ε → 0 die “maximale”

Information enth¨alt. Wir gehen heuristisch vor, da das Auffinden von Grenzschichten nur schwer formalisiert werden kann. Die Vorgehensweise ist wie folgt. Wir setzen je zwei Exponenten in (1.44) gleich und setzen voraus, daß die ¨ubrigen Exponenten nicht kleiner sind:

−α= 0 ≤ 1−2α impliziert α= 0 : das ist uninteressant;

1−2α= 0 ≤ −α impliziert α≤0 undα= 12 : Widerspruch;

1−2α =−α ≤ 0 impliziert α≥0 undα= 1.

Der letzte Fall erscheint sinnvoll, so daß wir α= 1 w¨ahlen.

Die Grenzschichtvariable an x= 0 lautet ξ=x/ε. Analog erhalten wir f¨ur die Grenz-schichtvariable ηanx= 1 die Beziehungη= (1−x)/ε. Wir wissen allerdings noch nicht, ob es eine Grenzschicht nur an x = 0 oder nur an x= 1 oder ob es zwei Grenzschichten gibt. Um dies herauszufinden, machen wir den Ansatz

uasym(x) =u(x) +u0(ξ) +u1(η)

f¨ur die asymptotische N¨aherung uasym der L¨osung von u von (1.43). Wir setzen voraus, daß die Funktionen u0 und u1 außerhalb der Grenzschicht verschwinden, genauer

ξlim→∞

gelten. Die allgemeine L¨osung von (1.45) lautet u(x) = c1ex; dies ist wie erwartet die L¨osung im “Innern” von (0,1). Die allgemeinen L¨osungen von (1.46) lauten

u0(ξ) =c2+c3eξ und u1(η) =c4+c5eη.

Wegen u0(ξ) → 0 f¨ur ξ → ∞ muß c2 = c3 = 0 gelten. Die Forderung u1(η) → 0 f¨ur η → ∞ impliziert c4 = 0. Wir erhalten also nur eine Grenzschicht an x = 1. Die L¨osung lautet nun

uasym(x) =c1ex+c5e(1x)/ε.

Die Konstantenc1undc5k¨onnen aus den Randbedingungenuasym(0) = 1 unduasym(1) = 0 berechnet werden; das Resultat ist

uasym(x) = ex−e1+(x1)/ε

1−e(1+1/ε) , x∈[0,1]. (1.47)

Die Funktion uasym ist in Abbildung 1.9 dargestellt; die Grenzschicht in der N¨ahe von x= 1 ist deutlich erkennbar.

Ist die N¨aherung von uasym konsistent? Dazu berechnen wir das Residuum rε(x) =−εu00asym+u0asym+uasym =−εex+e1+(x1)/ε

1−e(1+1/ε) .

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1 0

0.2 0.4 0.6 0.8 1

x

u(x)

Abbildung 1.9: Plot der Funktion uasym aus (1.47) f¨ur ε= 0.01.

Es gilt rε(x)→0 f¨urε →0, wenn x∈[0,1), aber rε(1) =− εe1+e1

1−e(1+1/ε) → −1

e, f¨ur ε→0.

Dies bedeutet, daß uasym nichtin der Supremumsnorm konsistent ist. Allerdings ist uasym

in der sogenannten L2-Norm k · k2 konsistent, wobei kuk2 :=

µZ 1 0

u(x)2dx

1/2

. In der Tat, wir berechnen

Z 1

0

rε(x)2dx = 1

(1−e(1+1/ε))2 Z 1

0

(εex+e1+(x1)/ε)2dx

= ε2

2(1−e1) + ε

2e2(1−e2/ε) + 2ε2e21−e1/ε+1 1−ε

≤ const. ε→0 (ε→0).

F¨ur weitere Informationen ¨uber das Verhalten von L¨osungen von Differentialgleichun-gen mit kleinen Parameters verweisen wir auf [1, 7].

Ubungsaufgabe:¨ Ist das Problem

x00+x=εx, t >0, x(0) =x, x0(0) = 0, regul¨ar oder singul¨ar gest¨ort auf t∈(0,∞)?

Ubungsaufgabe:¨ Wir sagen, eine Funktionenfolge uε : U → R, ε >0, hat ein Grenz-schichtverhaltenanx0 ∈U genau dann, wenn der Grenzwertlimε0uε in der Supremums-norm ¨uber jede Menge V mit V ⊂ U\{x0} existiert, aber nicht in der Supremumsnorm

¨uber U.

(1) Hat die L¨osung u von

εu0 =−u+x+ε, x >0, u(0) = 1, ein Grenzschichtverhalten?

(2) Hat die Funktion uasym aus (1.47) ein Grenzschichtverhalten?

2 Dynamik

In diesem Kapitel betrachten wir zeitabh¨angige Prozesse, die das dynamische Verhalten einer oder mehrerer Variablen beschreiben und die zumeist auf Anfangswertprobleme f¨ur Differentialgleichungen f¨uhren.

2.1 Populationsmodelle

Kulturpflanzen werden zum Großteil unter kontrollierten Bedingungen in Gew¨achsh¨ausern gezogen. Leider sind dies auch ideale Bedingungen f¨ur die Vermehrung von Sch¨adlingen, wie etwa der gemeinen Spinnmilbe. Wird eine Pflanze von zu vielen Spinnmilben befallen, stirbt sie ab. Das Ziel ist also, die Anzahl der Spinnmilben m¨oglichst gering zu halten.

Prinzipiell kann dies durch den Einsatz von Insektiziden geschehen. Dies hat jedoch einige entscheidende Nachteile: Insektizide wirken im allgemeinen nur f¨ur kurze Zeit, die behan-delten Pflanzen d¨urfen f¨ur einige Zeit nicht abgeerntet werden, und Insektizide haben negative Auswirkungen auf die Umwelt. Eine sinnvolle, ¨okologisch vertretbare Alternati-ve ist das Aussetzen von nat¨urlichen Feinden, etwa der Raubmilbe. Hierbei stellt sich die folgende Frage:

Frage: Wieviel Raubmilben m¨ussen ausgesetzt werden, damit die Anzahl der Spinnmil-ben unter eine vorgegeSpinnmil-bene Grenze sinkt?

Um diese Frage zu beantworten, m¨ussen wir uns etwas eingehender mit Populations-modellen befassen. Sei x(t) ≥0 die Anzahl der Spinnmilben (etwa pro Pflanze) zur Zeit t. Die zeitliche ¨Anderung der Spinnmilbenpopulation ist gegeben durch

x0 = (g−s)x, t >0, x(0) =x0, (2.1) wobei g ≥ 0 die Geburtsrate und s ≥ 0 die Sterberate ist. Die L¨osung lautet x(t) = x0e(gs)t. Ist die Geburtsrate gr¨oßer als die Sterberate, so w¨achst die Spinnmilbenpopula-tion unbegrenzt. Das ist unrealistisch, da das begrenzte Nahrungsangebot nicht ber¨uck-sichtigt wird. Ein Vorschlag ist, die Sterberate

s =s(x) = s0+ax

zu w¨ahlen, wobei s0 ≥ 0 die nat¨urliche Sterberate und a≥ 0 ist. Ist die Population sehr groß, so w¨achst auch die Sterberate, und wir erwarten, daß sich die Population auf einen gewissen Wert einpendelt. Aus (2.1) ergibt sich mit b=g−s0 die sogenannte logistische Differentialgleichung (oder dasVerhulst-Modell)

x0 =x(b−ax), t >0, x(0) =x0.

Durch Integration

und Aufl¨osen nach x(t) erhalten wir die L¨osung

x(t) = bx0

Ist also die nat¨urliche Sterberate mindestens so groß wie die Geburtsrate, sterben die Spinnmilben aus, andernfalls w¨achst die Population monoton gegen den Grenzwert b/a.

Der Wert b/a kann als Aufnahmekapazit¨at der Umgebung interpretiert werden.

Wie kann die Raubmilbenpopulation modelliert werden? Seiy(t) die Anzahl der Raub-milben (pro Pflanze) zur Zeit t. Wir k¨onnen f¨ur die zeitliche Entwicklung der Raubmil-benpopulation einen ¨ahnlichen Ansatz wie oben machen:

y0 =y(d−cy), t >0, y(0) =y0,

wobeic≥0. Die Zuwachsratedsollte aber nun von der Anzahl der Spinnmilben abh¨angen.

Ist n¨amlich nicht gen¨ugend Beute vorhanden, werden die Raubmilben aussterben:

d=d(x) =−d1+d2x mit d1, d2 ≥0.

Entsprechend m¨ussen wir die Evolutionsgleichung f¨ur die Spinnmilben ¨andern: Die Zu-wachsrateb vermindert sich um den Anteil gefressener Spinnmilben, der proportional zur Anzahl der Raubmilben ist:

b=b(y) = b1−b2y mit b1, b2 ≥0.

Damit erhalten wir das Lotka-Volterrasche Populationsmodell

x0 =x(b1 −b2y−ax), t >0, x(0) =x0, (2.2) y0 =y(−d1+d2x−cy), t >0, y(0) =y0. (2.3) Wir wollen verstehen, wie sich die L¨osungen verhalten. Zuerst betrachten wir den Fall, daß die Koeffizienten a und cvernachl¨assigbar sind. Dies ist das Volterrasche Modell

x0 =x(b1−b2y), t >0, x(0) =x0, (2.4) y0 =y(−d1+d2x), t >0, y(0) =y0. (2.5)

Es besitzt die beiden station¨aren Punkte

Um herauszufinden, ob diese Punkte (asymptotisch) stabil oder instabil sind, berechnen wir die Ableitung der Funktion

F(x, y) =

b1d1 lauten. Wir k¨onnen das Verhalten der L¨osung in der N¨ahe dieses Punktes allerdings genauer wie folgt beschrieben.

Daf¨ur schreiben wir (2.4)–(2.5) in der Form dx

wobei α ∈ R eine Integrationskonstante ist. Daher erf¨ullen alle L¨osungen (x(t), y(t)) die implizite L¨osungsformel

lnx(t)d1 + lny(t)b1 −d2x(t)−b2y(t) =α ∀t ≥0. (2.6) Die Integrationskonstante kann aus den Anfangswerten (x0, y0) berechnet werden:

α= lnxd01 + lny0b1−d2x0−b2y0.

Wir behaupten, daß die Menge aller (x(t), y(t)), die (2.6) erf¨ullen, eine geschlossene Kurve darstellt. Wir zeigen allerdings ein etwas schw¨acheres Resultat: In einer Umgebung von (x2, y2) k¨onnen wir (x(t), y(t)) n¨aherungsweise durch

x(t) = d1

Wir setzen den Ansatz f¨ur (x(t), y(t)) in (2.6) ein und approximieren umb1/b2bzw.d1/d2:

w¨ahlen. Wir schließen, daß (x(t), y(t)) die implizite L¨osungsformel (2.6) bis auf einen Feh-ler der OrdnungO(ε2) l¨ost. DieTrajektorien{(x(t), y(t)) : t≥0}sind also n¨aherungsweise Ellipsen um (x2, y2).

Das Resultat k¨onnen wir folgendermaßen interpretieren: Starten wir bei einem An-fangswert x0 À y0, so k¨onnen sich die Spinnmilben so lange vermehren, bis gen¨ugend Raubmilben herangewachsen sind, die die Spinnmilbenpopulation verringern. Ist die An-zahl der Spinnmilben zu gering geworden, haben die Raubmilben zu wenig Nahrung und ihre Population schrumpft. Diese Reduktion erlaubt es den Spinnmilben, sich ungehindert zu vermehren, und der Kreislauf beginnt von vorne.

Im Volterra-Modell kann also die Spinnmilbenpopulation nicht dauerhaft dezimiert werden. Allerdings setzt das Modell ein unbegrenztes Wachstum voraus, was nicht reali-stisch ist. Wir betrachten also im folgenden das Lotka-Volterra-Modell (2.2)–(2.3). Wir berechnen zuerst die station¨aren Punkte:

µx1 und (x4, y4)> ist die L¨osung des linearen Gleichungssystems

à a b2

Da wir x, y ≥0 fordern, ist (x2, y2)> kein biologisch sinnvoller station¨arer Punkt. Aus F0(x, y) = asym-ptotische Anzahl der Spinnmilben im Verhulst-Modell ist, bedeutet d1/d2 > b1/a, daß

die Sterberate der Raubmilben zu groß ist, um durch das vorhandene Nahrungsangebot kompensiert zu werden; die Raubmilben sterben aus.

Das lineare Gleichungssystem (2.7) besitzt die L¨osung µx4 wir eine große Anzahl von Raubmilben aussetzen, wird die Anzahl der Spinnmilben nach hinreichend langer Zeit

x4 = b1c+b2d1

ac+b2d2

betragen. Wir fassen zusammen:

d1

Ubungsaufgabe:¨ L¨osen Sie das Lotka-Volterra-Modell numerisch f¨ur verschiedene Pa-rameterwerte. Wie l¨aßt sich die maximale Spinnmilbenanzahl effektiv begrenzen?

L¨aßt sich das obige Modell verbessern? Wir haben angenommen, daß die Zuwachsrate durch b(y) = b1−b2y modelliert wird. Die Spinnmilben werden also von den Raubmilben dezimiert, wenn b(y) < 0 bzw. y > b1/b2 gilt. Nun kann man argumentieren, daß die Zuwachsrate zus¨atzlich von der Spinnmilbenpopulation abh¨angen sollte: Sind sehr viele Spinnmilben vorhanden, muß die Anzahl der Raubmilben deutlich gr¨oßer als b1/b2 sein, um die Spinnmilben auffressen zu k¨onnen. Wir fordern also b2 = b2(x). Eine m¨ogliche Wahl ist

b2(x) = β0

x+β1

, β0, β1 >0.

Ist die Anzahl der Spinnmilben xdeutlich gr¨oßer als β1, werden nur wenige Spinnmilben gefressen, da

b2(x)xy= β0y

1 +β1/x ≈β0y f¨ur xÀβ1;

falls die Spinnmilbenpopulation den Wert β1 deutlich unterschreitet, erhalten wir den Lotka-Volterra-Term

b2(x)xy≈ β0 β1

xy f¨ur x¿β1.

Eine andere Variante des Modells ist die verfeinerte Annahme, daß die maximal m¨ogli-che Raubmilbenpopulation von der Anzahl der Spinnmilben abh¨angt: je gr¨oßer das Nah-rungsangebot f¨ur die Raubmilben ist, desto st¨arker k¨onnen sich diese vermehren. Anderer-seits ist die Spinnmilbenanzahl durch die Menge der Pflanzen im Gew¨achshaus begrenzt:

a= const., c=c(x).

Ein m¨oglicher Ansatz istc=c0/x. F¨urx→0 geht dann auch die maximal m¨ogliche Raub-milbenpopulation gegen Null. In diesem Fall gen¨ugt es, die Zuwachsrate d als konstant anzunehmen. Wir erhalten das Modell

x0 = x µ

b1− β0y

x+β1 −ax

, t >0, x(0) =x0, y0 = y³

d−c0

xy´

, t >0, y(0) =y0.

Ubungsaufgabe:¨ Bestimmen Sie die station¨aren Punkte und klassifizieren Sie diese (instabil oder asymptotisch stabil). L¨osen Sie das System numerisch. Unterschied zum Lotka-Volterra-Modell?