Ein Chemiekonzern hat eine Methode gefunden, ein Molek¨ul A in ein Modek¨ul C um-zuwandeln. Als Zwischenprodukt wird das Molek¨ul B erzeugt, das allerdings am Ende der Umwandlung nicht mehr auftritt. Da das Molek¨ul B sehr aggressiv mit der Wand des Reaktors, in dem die Umwandlung stattfindet, reagiert, ist das Unternehmen an dem Wert der maximalen Konzentration von B interessiert, um einen geeigneten Schutz der Reaktorwand vornehmen zu k¨onnen. Das Reaktionsschema sei wie folgt:
A −→α B,
2B −→β B+C, (2.12)
B+C −→γ A+C,
wobei die Buchstaben ¨uber den Pfeilen die Reaktionskoeffizienten, die proportional zu den Reaktionsgeschwindigkeiten sind, darstellen. Sie seien gegeben durchα= 0.04,β = 3·107, γ = 104. W¨ahrend das Molek¨ul A nur relativ langsam in die Zwischenform B ubergeht,¨ wirkt die Existenz von B katalytisch f¨ur eine weitere, sehr schnelle Transformation von B nach C. Daneben findet in Anwesenheit von C eine R¨ucktransformation von B nach A statt. Da die Substanz B sehr schnell reagiert, ist zu erwarten, daß sie nur einen
relativ kleinen Anteil im Molek¨ulgemisch ausmacht. Dieser ist jedoch entscheidend, um die Weiterreaktion zu C in Gang zu halten. Die zu beantwortende Frage lautet nun:
Frage: Wie groß wird die Konzentration der Substanz B im Verlauf der obigen Reaktion h¨ochstens?
Um zu verstehen, wie wir das obige Reaktionsschema modellieren k¨onnen, betrachten wir zun¨achst ein einfacheres Beispiel: Ein Molek¨ulAverwandelt sich in Anwesenheit eines Molek¨uls B in ein zweites Molek¨ul B mit Reaktionskoeffizientenα:
A+B −→α 2B.
Zu Beginn der Reaktion betrage die Konzentration von A gerade c0 ∈ [0,1], und die Konzentration vonB sei 1−c0. Wir erwarten, daß die Konzentration vonAstetig abnimmt und die von B zunimmt, bis keine Molek¨ule vonA in dem Gemisch vorhanden sind. Wie schnell findet die Reaktion statt?
SeienCA(t) und CB(t) die Konzentrationen vonAund B zur Zeitt. Wie groß sind die Reaktionsgeschwindigkeiten CA0 bzw. CB0 ? Nach dem sogenannten Massenwirkungsgesetz ist sie (bei konstantem Druck, Volumen und Temperatur) proportional zu der Wahr-scheinlichkeit, daß zwei Molek¨ule der entsprechenden Reaktion aufeinander treffen, also proportional zu dem Produkt der Konzentrationen von A und B. Die Proportionalit¨ats-konstante ist der Reaktionskoeffizient α >0. Folglich ist
CA0 =−αCACB, CB0 =αCACB, t >0, (2.13) mit Anfangskonzentrationen
CA(0) =c0, CB(0) = 1−c0. (2.14) Wir sind in der Lage, das Verhalten der L¨osungen des Systems (2.13)–(2.14) pr¨azise zu beschreiben, ohne das Problem explizit l¨osen zu m¨ussen. Zuerst bemerken wir, daß wegen
(CA+CB)0 = 0, (CA+CB)(0) = 1
die Summe der Konzentrationen stets gleich Eins ist. Außerdem ist wie erwartet CA
monoton fallend und CB monton wachsend. Die station¨aren Punkte sind durch CA = 1, CB = 0 und CA = 0, CB = 1
gegeben. Die Eigenwerte der Ableitung der Abbildung (CA, CB) 7→ (−αCACB, αCACB) lautenλ1 = 0,λ2 =αim Punkt (1,0) undλ1 =−α,λ2 = 0 im Punkt (0,1). Der station¨are Punkt (1,0) ist also instabil nach Satz 1.5; ¨uber den anderen ist keine Aussage m¨oglich.
Wir behaupten, daß er asymptotisch stabil ist. Um dies einzusehen, multiplizieren wir die erste Gleichung in (2.13) mit CA und die zweite Gleichung mit CB−1. Wir erhalten wegen CA+CB = 1:
1 2
d
dt(CA2 + (CB−1)2) = CA0 CA+CB0 (CB−1)
= αCACB(−CA+CB−1)
= −2αCA2CB.
Nun ist CB monoton wachsend, also CB(t)≥CB(0) = 1−c0. Dies impliziert d
dt(CA2 + (CB−1)2)≤ −4α(1−c0)CA2. Integration von 0 bis t f¨uhrt auf
CA(t)2 ≤CA(t)2+ (CB(t)−1)2 ≤2c20−4α(1−c0) Z t
0
CA(s)2ds.
Wir benutzen nun die Ungleichung von Gronwall:
Lemma 2.1 Seien α ≥0, β ∈R und f ∈C0([a, b]; [0,∞)), und es gelte f(x)≤α+β
Z x
0
f(s)ds f¨ur alle a ≤x≤b.
Dann folgt
f(x)≤αeβx f¨ur alle a≤x≤b.
Ubungsaufgabe:¨ Beweisen Sie Lemma 2.1.
Es folgt (wenn CA≥0)
CA(t)≤√
2c0e−2(1−c0)αt (2.15) und
CB(t) = 1−CA(t)≥1−√
2c0e−2(1−c0)αt, t >0. (2.16) Wie erwartet gilt
CA(t)→0, CB(t)→1 (t → ∞),
und die Konvergenz ist exponentiall schnell mit Konvergenzrate −2(1−c0)α. (Wir be-merken, daß die Absch¨atzungen (2.15)–(2.16), insbesondere f¨urt= 0, nicht optimal sind.) Ubungsaufgabe:¨ L¨osen Sie das Anfangswertproblem (2.13)–(2.14) analytisch, indem Sie die Variablentransformation x=CA−CB, y =CA+CB durchf¨uhren.
Wir kehren nun zu dem Reaktionsschema (2.12) zur¨uck. SeienCA(t),CB(t) bzw.CC(t) die Konzentrationen der SubstanzenA,B bzw.Czur Zeitt. Die Reaktionsgeschwindigkeit CA0 von A ist zum einen proportional zur Konzentration von A (mit Reaktionskoeffizient
−α) und zum anderen proportional zum Produkt der Konzentrationen vonB und C (mit Koeffizient +γ). Analog k¨onnen die Reaktionsgeschwindigkeiten von B und C bestimmt werden. Das Resultat ist ein System gew¨ohnlicher Differentialgleichungen f¨urCA,CB und CC:
CA0 = −αCA+γCBCC,
CB0 = αCA−γCBCC −βCB2, (2.17) CC0 = βCB2, t >0.
Als Anfangswerte w¨ahlen wir
CA(0) = 1, CB(0) =CC(0) = 0. (2.18) Aus (2.17) k¨onnen wir ablesen, daß CC w¨ahrend der Reaktion monoton w¨achst. Ad-dition der drei Gleichungen ergibt (CA+CB+CC)0 = 0, also ist die Summe der Konzen-trationen konstant:
CA(t) +CB(t) +CC(t) = 1 f¨ur alle t ≥0.
Wir bestimmen nun die station¨aren Punkte. Aus
−αCA+γCBCC = 0, αCA−γCBCC−βCB2 = 0, βCB2 = 0
folgt, daß CB = 0, also CA = 0 und wegen CA+CB +CC = 1 daher CC = 1 die einzige L¨osung dieses Gleichungssystems ist. Bezeichnen wir mit F(CA, CB, CC) den Vektor der rechten Seiten von (2.17), so lautet die Ableitung von F im Punkt (0,0,1):
F0(0,0,1) =
−α γ 0 α −γ 0
0 0 0
,
und die Eigenwerte sind λ1/2 = 0 und λ3 = −(α +γ). Satz 1.5 erlaubt wieder keine Aussage. Auch die Technik, die oben zum exponentiellen Abklingen gef¨uhrt hat, kann hier nicht verwendet werden. Der Grund ist, daß die Konzentrationen nicht alle monoton sind. In der Tat: Zur Zeit t = 0 ist kein Molek¨ul der Substanz B vorhanden; es wird im Verlauf der Reaktionen gebildet und schließlich wieder abgebaut. Wir rechnen damit, daß
es einen Zeitpunkt gibt, an dem CB0 = 0 gilt. Zu dieser Zeit ist die Konzentration von B maximal. Aus (2.17) folgt
CB2 + γCC
β CB− αCA
β = 0.
Die (positive) L¨osung lautet
CB,max= −γCC
Nehmen wir nun an, daß die KonzentrationCA undCC stets kleiner oder gleich Eins sind, erhalten wir die Absch¨atzung
CB,max≤
0 2000 4000 6000 8000 10000
0
Abbildung 2.5: Simulation des Reaktionsverlaufs der Substanzen A, C (links) und B (rechts) als Funktion der Zeit.
Diese Schranke ist viel zu groß. Um dies zu sehen, l¨osen wir das Problem (2.17)–(2.18) numerisch. In Abbildung 2.5 sind die drei Konzentrationen als Funktion der Zeit dar-gestellt. Die Konzentration von B w¨achst zun¨achst sehr schnell und nimmt dann sehr langsam ab. Der Umschlagpunkt, an dem CB0 = 0 gilt, wird zu einer Zeit erreicht, zu der die Konzentration CA nahezu Eins und die Konzentration CC kaum gr¨oßer als Null ist.
Dies f¨uhrt in (2.19) zu einer verbesserten Absch¨atzung CB,max≈
r4
310−9 ≈3.65·10−5.
Damit haben wir die eingangs gestellte Frage beantwortet. Die maximale Konzentration der SubstanzC in dem Gemisch betr¨agt etwa 0.0365 .
Ubungsaufgabe:¨ Die chemische Reaktion A+B →C gehorche dem Massenwirkungs-gesetz mit Reaktionskoeffizient α > 0. Seien CA, CB bzw. CC die Konzentrationen der Substanzen A, B, bzw. C. Zur Zeit t = 0 gelte CA(0) = a > 0, CB(0) = 1−a > 0 und CC(0) = 0. Zeigen Sie, daß CA(t) und CB(t) exponentiell schnell f¨ur t → ∞ gegen Null konvergieren. Folgern Sie den Wert f¨ur limt→∞CC(t).