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Teil III Fallstudie Liechtenstein

5. Liechtensteins integrationspolitisches Regimegeflecht

5.2 Regime der Europäischen Freihandelsassoziation

Die Europäische Freihandelsassoziation entstand 1960 als Reaktion auf die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die gescheiterten Verhandlungen über eine gesamteuropäische Freihandels -zone im Rahmen der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusam men arbeit (OEEC).300Im Gegensatz zur den sechs EWG-Staaten wollten die sieben EFTA-Gründungsmitglieder (Grossbritannien, Dänemark, Norwegen, Schweden, Schweiz, Österreich und Portugal) keine Zollunion und keine supranationale Gemeinschaft mit politischer

Fallstudie Liechtenstein

298 Emmert 1999.

299 Forman 1999, 765.

300 EFTA 1960.

Finalität, sondern lediglich eine industrielle Freihandelszone mit inter-gouvernementalen Strukturen und begrenzten wirtschaftlichen Zielen.

Dänemark und Grossbritannien sind 1973 und Portugal 1986 aus der EFTA ausgeschieden, während Finnland (als Vollmitglied) 1986, Island 1970 und Liechtenstein 1991 der Assoziation beitraten. Seit der Nord -erwei terung der Europäischen Union 1995 umfasst die EFTA nur noch die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein.

5.2.1 Inhalt und Prinzipien

Der wichtigste Grundsatz der EFTA ist das Prinzip des Freihandels. Die Freihandelszone funktioniert auf der Basis von Ursprungsregeln und ist, mit Ausnahme einiger verarbeiteter landwirtschaftlicher Produkte, auf Industriegüter beschränkt. Der Handel mit Fisch und anderen Meeres pro dukten wurde erst 1990 liberalisiert. Trotz einer zügigen Abschaf -fung von Zöllen und mengenmässigen Beschränkungen, blieben die Ziele bei den nichttarifären Handelshemmnissen und Wettbewerbs -regeln bis zur Modernisierung der Stockholmer Konvention 2001 be-scheiden.301Zu den grössten Erfolgen der EFTA zählen die bilateralen Freihandelsabkommen mit der EG 1972 in Folge der ersten Erweiterung der Gemeinschaft und die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums zwanzig Jahre später als Antwort auf den Binnenmarkt. Neben diesen von Vertiefungen der EU ausgelösten «Spillover-Effekten» hat die EFTA u.a. als Reaktion auf die Erweiterungsbestrebungen der Union in den 1990er Jahren ein Netzwerk von Freihandelsabkommen mit osteu-ropäischen Staaten aufgebaut. Um mit entsprechenden Entwicklungen in den EU-Aussenbeziehungen Schritt halten zu können, werden auch zunehmend Abkommen mit aussereuropäischen Staaten geschlossen.302

Des weiteren ist die EFTA durch eine pragmatische Struktur und informelle Mechanismen gekennzeichnet. Die einzige durch die Kon ven tion eingesetzte Institution ist der EFTARat, welcher diverse Aus schüsse und ein Sekretariat geschaffen hat. Jeder Staat besitzt eine Stim

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301 Vgl. EFTA 1987.

302 Am EFTAMinistertreffen vom Juni 2001 wurde bereits das achtzehnte Freihan dels -ab kommen unterzeichnet, und weitere sind in Verhandlung. Siehe Internet-Adresse www.secretariat.efta.int/thirdcountry

me und der Rat entscheidet in der Regel mit Einstimmigkeit. In einigen Fällen, insbesondere bei Beschwerdeverfahren, sind einfache Mehr heits -beschlüsse vorgesehen. Die Konvention kann nur einstimmig verändert werden. Die grössten institutionellen Veränderungen erfuhr die Asso zia -tion mit dem Aufbau eines «EFTA-Pfeilers» (EFTA-Überwachungs-behörde, EFTA-Gerichtshof) im Rahmen des EWR (vgl. Kap. 5.3).

Die EFTA hat 1961 Flexibilität bewiesen, als das neutrale Finnland aufgrund sowjetischer Bedenken gegenüber dieser Westintegration nicht Vollmitglied werden konnte. Durch eine Assoziation Finnlands wurde die FINEFTA ins Leben gerufen, welche de jure eine zweite Freihan -dels zone begründete und Finnland faktisch dieselben Rechte und Pflichten wie den übrigen Mitgliedstaaten zugestand. In der Praxis ver-sammelte sich der FINEFTA-Rat gleich nach dem EFTA-Rat und traf parallele Beschlüsse. Portugal und Island erhielten Sonderbestimmungen und Entwicklungsfonds, um ihren Wirtschaftsstrukturen die Anpassung an den Freihandel mit Industriegütern zu erleichtern. Während die Ent -wick lung der EU durch Erweiterungen gekennzeichnet ist, dominieren bei der EFTA die Verkleinerungsrunden. Bereits sechs Staaten sind aus der EFTA aus- und der EU beigetreten. Die Stockholmer Konven tion kann mit einer Frist von einem Jahr gekündigt werden.

Neben dem ausgeprägten Pragmatismus ist ihre Instrumentalität ein weiteres Charakteristikum der EFTA.303Seit ihrer Gründung diente die Assoziation als Verhandlungsinstrument ihrer Mitgliedstaaten gegen über der Europäischen Union. Dies kam insbesondere in den Freihan -dels abkom men und im EWR-Abkommen zum Ausdruck. Nach dem Austritt Grossbritanniens 1973 entwickelte sich nach Antola unter den hoch industrialisierten, exportorientierten und oft neutralen Mitgliedern zudem eine markante Kleinstaatenperspektive, die dazu beitrug, auf der Grund lage des gemeinsamen Interesses am Freihandel und einer für Klein staaten typischen Kompromisskultur die Strukturen einfach und anpassungsfähig zu halten.304

Am 21. Juni 2001 unterzeichneten die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein in Vaduz eine Neufassung der EFTA-Konvention, um zwischen den EFTA-Ländern Bedingungen zu schaffen, «die in vieler

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303 Antola 2000, 12–13.

304 Ibid., 14.

Hinsicht ähnlich sind wie diejenigen, die zwischen den EFTA-Ländern und der EU bestehen und welche im EWR-Abkommen und den bilate-ralen Abkommen Schweiz-EU erfasst sind».305Sie soll gleichzeitig mit diesen bilateralen Verträgen anfang 2002 in Kraft treten (vgl. Kap. 5.5).

Die Aktualisierung sieht eine materielle und institutionelle Anpassung an die Anforderungen der modernen internationalen Handelsbeziehun -gen vor. Bei den substanziellen Änderun-gen handelt es sich (1) um die Über nahme der Bestimmungen von sechs der sieben bilateralen Ab kom -men zwischen der Schweiz und der EU in die EFTA-Konvention in den Bereichen Landwirtschaft, technische Handelshemmisse, öffentliches Be schaffungswesen, Landverkehr, Luftverkehr und Personenverkehr306; (2) um die Anpassung veralteter Vorschriften (z.B. Wettbewerbsregeln, staatliche Beihilfen, Antidumping, Schutzmassnahmen); und (3) um die Berücksichtigung neuer Themen wie Dienstleistungen, Investitionen, Geis tiges Eigentum und den Streitbeilegungsmechanismus. Betroffen ist i.d.R. jeweils nur das bilaterale Verhältnis Norwegen, Schweiz-Island und Schweiz-Liechtenstein (vgl. Kap. 6.2), da die Beziehungen zwischen Norwegen, Island und Liechtenstein über das EWRAbkom -men geregelt werden.

Durch die institutionellen Anpassungen wird eine gewisse Forma li -sie rung der EFTA-Strukturen erreicht werden. Der EFTA-Rat erhält neue Ausschüsse zu den einzelnen Sachbereichen (z.B. gegenseitige An er -kennung von Konformitätsbewertungen, öffentliches Beschaf fungs wesen, Personenverkehr). Der Mechanismus zur Streitschlichtung orientiert sich am EWR-Abkommen und sieht neben Konsultationen im Rat eine allge-meine Schutzklausel und ein ad hocSchiedsgericht vor.307Die Konvention soll in Zukunft kontinuierlich aufdatiert werden, um mit den Ent -wicklungen im EWR und im bilateralen Verhältnis Schweiz-EU Schritt zu halten. Trotzdem bleibt die von einer EFTA-Mit glied schaft geforderte Aufgabe operationeller Souveränität im Vergleich zum EU-Bei tritt bescheiden. Die EFTA wird immer noch eine auf Völ ker recht ba sie rende Freihandelsassoziation mit intergouvernementalen Strukturen sein.

Liechtensteins integrationspolitisches Regimegeflecht

305 EFTA 2001a.

306 Einzig das (befristete) Forschungsabkommen, bei dem es um die Beteiligung der Schweiz an den EU-Programmen geht, wurde nicht übernommen.

307 Allerdings dürfen im Unterschied zu Art. 114 EWRA bei Anwendung der Schutz -klausel keine Ausgleichsmassnahmen ergriffen werden.

5.2.2 Mitbestimmung

Alle Mitglieder der EFTA besitzen die gleichen Rechte und Pflichten, die gleiche Vertretung und das gleiche Stimmengewicht. Bei der Grün -dung der Europäischen Freihandelsassoziation 1960 war das Fürstentum zwar als selbständiges Mitglied (auch ohne Stimmrecht) nicht er-wünscht,308aber in einem Protokoll wurde festgehalten, dass die EFTA-Konvention solange auf Liechtenstein Anwendung finden sollte, als die Zollunion mit der Schweiz besteht.309Die liechtensteinischen Interessen sollten dabei durch die Schweiz vertreten werden. Eine ähnliche Regelung wurde 1972 für die bilateralen Freihandelsabkommen der Schweiz mit den Euro päi schen Gemeinschaften getroffen.310 Immerhin konnte das Fürstentum seine Stellung insofern leicht verbessern, als im Gemischten Ausschuss Schweiz-EU ein liechtensteinischer Vertreter im Rahmen der schweizerischen Delegation teilnehmen konnte. Für die wenigen nicht vom Zollanschlussvertrag abgedeckten Bereiche dieser Frei handelsabkommen erteilte Liechtenstein der Schweiz besondere Ver tretungs vollmachten.

Die zunehmende Internationalisierung der Volkswirtschaften, die wachsende Multilateralisierung im Rahmen der europäischen Inte gration und des GATT und die Ausweitung der Handelsliberalisierung vom Warenverkehr in den Dienstleistungsbereich zeigten in den 1980er Jah ren die Grenzen der Zollunion auf. Als 1989 das Projekt eines Euro -päi schen Wirtschaftsraums lanciert wurde, welcher den EFTA-Staaten die Teil nahme am geplanten EG-Binnenmarkt ermöglichen sollte, sah sich Liechtenstein vor eine integrationspolitische Entscheidung gestellt.

Das angestrebte Abkommen ging mit seinen vier Freiheiten (freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) inhaltlich weit über die zollvertraglichen Zuständigkeiten der Schweiz hinaus. Der liechtensteinischen Regierung gelang es, die EFTA-Partner zu überzeu-gen, dass das Fürstentum nun eigenständige Vertragspartei werden

soll-Fallstudie Liechtenstein

308 Batliner 1989, S. 12.

309 Liechtenstein 1960. Auch im Beitrittsprotokoll der Schweiz zum GATT 1966 wurde das Fürstentum durch eine sogenannte «Liechtenstein-Klausel» einbezogen.

310 Liechtenstein 1973 und Liechtenstein 1974. Für eine detaillierte Analyse vgl. Gyger 1975, 67-97.

te. Mit einer Änderung des Zollanschlussvertrags (Art. 8bis ZV) wurde Liechtenstein neben der Schweiz eine parallele Mitgliedschaft in zoll-rechtsrelevanten Organisationen und Vertragswerken ermöglicht. Im Sep tember 1991 erfolgte der liechtensteinische Beitritt zur EFTA, wodurch auch die Ver knüp fung zum Zollvertrag hinfällig wurde. Als Voll mitglied erhielt das Fürstentum nach dreissig Jahren indirekter Teil nahme via die Schweiz gleiche Rechte und Pflichten und volle Mit be -stimmung. Die gleichberechtigte Mitgliedschaft des Fürstentums ent-spricht im Rahmen der Freihandelsassoziation sicherlich dem optimalen Integrationsniveau.

Nur ein Jahr später drängte sich eine erneute Anpassung des Zoll ver trags auf, nachdem die Volksabstimmungen über das EWRAbkom -men im Dezember 1992 in der Schweiz negativ, in Liechtenstein jedoch positiv ausgegangen waren. Aufgabe der anschliessenden Verhandlungen war es, eine Lösung zu finden, welche es Liechtenstein ermöglichte, dem binnenmarktähnlichen EWR beizutreten und gleichzeitig die Regional -union und die offene Grenze mit dem Nicht-EWR-Mitglied Schweiz aufrecht zu erhalten (vgl. Kap. 5.4). Art. 8bisdes Zollvertrags wurde um einen zweiten Absatz ergänzt, welcher vorsieht, dass Liechtenstein im Anwendungsbereich des Zollanschlussvertrags auch internationalen Ver trägen oder Organisationen beitreten kann, denen die Schweiz nicht angehört. Dazu bedarf es jeweils einer besonderen bilateralen Ver ein -barung. Damit wurde eine für Liechtensteins Selbstbestimmung positive Änderung des Zollvertrags infolge eines «Spillover-Effekts» des EFTA/EWR-Regimes erreicht. «Mit den Zollvertragsrevisionen, welche eine selbständige Teilnahme an der EFTA, dem EWR-Abkommen und dem GATT/WTO erst ermöglichten, setzte (...) eine Loslösung Liech -ten steins von der schweizerischen Aussenwirtschaftspolitik ein.»311 Dieser Emanzipierungsschritt hat die Verknüpfungen der liechtensteini-schen Position im europäiliechtensteini-schen Integrationsprozess mit dem zuneh-mend unzeitgemässeren Zollvertrag gekappt und dem Fürstentum den Auf bau einer eigenständigen Europapolitik ermöglicht.

Liechtensteins integrationspolitisches Regimegeflecht

311 Bradke/Hauser 1998, 52.